ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Michael Stolberg, Die Cholera im Großherzogtum Toskana. Ängste, Deutungen und Reaktionen im Angesicht einer tödlichen Seuche, Ecomed Verlag, Landsberg 1995, 135 S., brosch., 68 DM.


Im vergangenen Jahr erschien in dieser Zeitschrift die sehr nützliche Sammelrezension von Jörg Vögele zur Cholera in neueren historischen Untersuchungen. Dabei wurde die Arbeit des Münchener Medizinhistorikers Michael Stolberg (seine überarbeitete Habilitationsschrift an der TU München von 1992) nicht berücksichtigt, die jedoch ganz sicher zu den besten gehört, die während des letzten Jahrzehnts dem Thema Cholera gewidmet wurden.
Stolberg wählt für seine Regionalstudie einen im echten Sinne multidisziplinären Ansatz, indem er Medizin-, Sozial- und Wissenschaftsgeschichte kombiniert. Auch methodisch ist die Arbeit innovativ, indem epidemiologische Ausführungen (einschließlich der notwendigen statistischen Angaben) ergänzt werden durch Diskursanalysen und mentalitätsgeschichtliche sowie wissenssoziologische Überlegungen. Die Wahl der Untersuchungsregion erscheint ausgesprochen glücklich, denn das Großherzogtum Toskana war in dem behandelten Zeitraum von den 1820er bis zu den 1850er Jahren nicht nur zwei Mal (1835 und 1854) Opfer der Seuche, sodass ein Zeitvergleich möglich wird, vielmehr bietet sich auch die Chance, einige Städte untereinander zu vergleichen, vor allem die Hafenstadt Livorno mit der Hauptstadt Florenz, sowie städtische Verhältnisse, Erfahrungen, Sichtweisen und Reaktionen ländlichen gegenüberzustellen. Zudem ist die Quellenlage gut, die Stolberg mit enormem Fleiß in ihren verschiedenen Facetten ausschöpfte: von ärztlicher Publizistik und den Akten der Sanitätsverwaltung, über die sehr ergiebigen Akten der Polizei- und Justizverwaltung (in denen sich vielfältig auch die Deutungen und Reaktionen der überwiegend illiteraten Bevölkerung spiegeln) bis zu Publikumszeitungen und -zeitschriften, aber sogar privaten Briefen und Notizen. Auf diese Weise wird die Betroffenheit einer Bevölkerung durch die Schrecken und Belastungen der weit gehend unerklärlichen und unfassbaren Seuche in einer bisher nicht vorliegenden Differenziertheit entfaltet, besonders auch hinsichtlich der unterschiedlichen sozialen Gruppen, ihrer je spezifischen Wahrnehmungsweisen, Traditionen und Kenntnisse, ihrer variierenden Interessen und Handlungsmöglichkeiten.
Die Arbeit ist so aufgebaut, dass in den einzelnen Kapiteln jeweils abweichende Deutungen der Cholera und Reaktionsweisen auf die Seuche behandelt werden. "Insofern sich bestimmte Deutungen überwiegend in bestimmten Segmenten der Bevölkerung verorten lassen, entspricht dies teilweise einem Wechsel der Perspektive mit der Konzentration auf jeweils unterschiedliche Bevölkerungsgruppen und Subkulturen." (S. 8) Im ersten Kapitel geht es um die elementaren Reaktionen der Angst: Schreckensbilder, Massenflucht, Angst vor Einschleppung, Angst vor Ansteckung, aber auch bewusste Todesverachtung. Im zweiten Kapitel wird die wissenschaftliche Diskussion über Ätiologie, Epidemiologie und Therapie der Cholera rekonstruiert. Es überrascht nicht, dass in der Toskana ebenfalls die unterschiedlichen Schulen gegeneinander standen, die den Choleradiskurs in Europa während des 19. Jahrhunderts prägten (Miasmatiker gegen Kontaginisten - mit diversen Varianten und Mischformen), wobei allerdings im Untersuchungsgebiet dadurch eine besondere Zuspitzung zustande kam, als hier 1854 Filippo Pacini erstmalig die Entdeckung des Erregers, des Choleravibrios, gelang. In diesem Kapitel wird auch die Bedeutung ärztlicher Professionalisierungsstrategien für den Umgang mit der Cholera herausgearbeitet. Das dritte Kapitel ist dem in der Choleraliteratur bisher weit gehend ausgeblendeten Thema gewidmet, wie die Bevölkerung auf die wahrgenommene oder zumindest vermutete Inkompetenz der Ärzte gegenüber der Seuche reagierte. Es geht um die Entstehung und Verbreitung sowie die Wissenssoziologie des in der Toskana grassierenden Gerüchts, bei der Cholera handele es sich um einen von den Oberschichten, vertreten durch Ärzte, inszenierten Massenmord. Gesundheitsaufklärung und Assanierungsmaßnahmen sind Gegenstand des vierten Kapitels. Im letzten Kapitel wird sehr knapp auf die Versuche einer transzendenten Sinngebung für das Seuchengeschehen eingegangen. Ein extrem kurzer Schlussabsatz geht noch einmal auf das Anliegen der Arbeit ein. Das Quellen- und Literaturverzeichnis zeichnet sich dadurch aus, dass die Literatur in vor 1914 und nach 1914 publizierte untergliedert ist.
Angesichts der Vielschichtigkeit der Darstellung sollen nur einige wenige Ergebnisse herausgegriffen werden, die im Rahmen der vorliegenden Cholera-Forschung neue Dimensionen des Gegenstands eröffnen. Dies scheint mir z. B. der Aspekt "Todesverachtung" zu sein. Stolberg kann zeigen, dass es mutige Einzelgänger oder auch bestimmte Bevölkerungsgruppen gab, "die inmitten eines verängstigten örtlichen Kollektivs der Gefahr mit einer gewissen stoischen Ruhe begegneten, im vollen Bewusstsein, ihr eigenes Leben dabei aufs Spiel zu setzen." Neben Pfarrern, Ärzten, Barmherzigen Schwestern und Leichenträgern, bei denen eine Art professioneller Selbstverpflichtung dies Verhalten mitbestimmt haben dürfte, werden aber auch Fälle erkennbar, wo stattdessen Verzweiflung und Trauer ausschlaggebend waren. (S. 29) Gerade in den Unterschichten war wiederum Verleugnung ein häufig anzutreffendes Motiv, der Cholera ohne Angst zu begegnen. Hier spielte eine wichtige Rolle, dass "ganz erhebliche Zweifel an der tatsächlichen Existenz der Krankheit, auch nach deren offizieller Bekanntgabe," (S. 31) bestanden; man glaubte an eine bloße Erfindung der Ärzte. (Möglicherweise sind das heutzutage die Beweggründe für bestimmte Politiker, demonstrativ verseuchte Flüsse zu durchschwimmen oder BSE-verdächtiges Rindfleisch zu verzehren).
Weiterführend sind auch die Ausführungen zur wissenschaftlichen Diskussion, denn die meist relativ plakative Gegenüberstellung von Miasmatikern und Kontagionisten erscheint angesichts der vielfältigen Zwischenpositionen, die Stolberg nachweist, kaum noch haltbar. (S. 35-38) Hier sind vor allem die wissenssoziologischen Überlegungen hilfreich. (S. 50 ff.). Ihr Ergebnis ist u. a., dass der empirisch beobachtbare Seuchenverlauf meist sehr geringe "Bedeutung für die Entstehung von Parteiungen in der Ärzteschaft" besaß, da "die maßgeblichen Choleratheorien [...] regelmäßig bereits vor der persönlichen Begegnung mit der Seuche nur anhand von Literaturstudien ausformuliert und später hartnäckig verteidigt" wurden. (S. 53) Nur so sind die bekannten Kontroversen über Ätiologie, Epidemiologie und angemessene Therapie bzw. Bekämpfung der Cholera in der bisher besonders gründlich untersuchten Cholera-Epidemie von 1892 in Hamburg verständlich, die sich ja keineswegs auf den Gegensatz zwischen Pettenkofer und Koch reduzieren lassen. Vielmehr musste es auch im Hamburger Fall - wie Stolberg anhand der Epidemien in der Toskana herausarbeitet - dem diese Epidemie analysierenden Arzt (und davon gab es viele) "aus Gründen der Homogenität seines wissenschaftlichen Weltbildes [...] stets ein grundsätzliches Anliegen sein, neuartige Phänomene, wie die Cholera eines war, in einer Weise zu deuten, die mit seinen übrigen medizinischen Auffassungen im Einklang steht." (S. 55)
Dem könnten weitere Beispiele für bedeutsame Ergebnisse der vorliegenden Studie hinzugefügt werden. Im Sinne einer pauschalen Würdigung sei hier festgehalten, dass der allgemein interessierende Forschungsbeitrag wohl vor allem in der sensiblen Rekonstruktion sozial differenzierter Wahrnehmungen, Deutungen und Reaktionsweisen auf eine Seuche gesehen werden darf. Dabei werden der wissenssoziologische und der mentalitätsgeschichtliche Ansatz in innovativer und vorbildlicher Weise miteinander verbunden. Wenn in letzter Zeit - seit der so genannten kulturalistischen Wende der Geschichtswissenschaft - orakelhaft gar von Kulturgeschichte als einer Methode gesprochen wird, kann die vorliegende Studie als Muster dafür gelten, dass es eine solche "Methode" nicht geben kann. Stolberg hat nur dadurch einen hervorragenden Beitrag zur Kulturgeschichte leisten können, dass er verschiedene Disziplinen und Methoden systematisch verknüpft hat. Auch darin ist ein wichtiger Beitrag Stolbergs zur Forschungsdiskussion zu sehen.


Reinhard Spree, München


DEKORATION

©Friedrich Ebert Stiftung | Webmaster | technical support | net edition ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE | Juli 2001