ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Natali Stegmann, Die Töchter der geschlagenen Helden. ,,Frauenfrage", Feminismus und Frauenbewegung in Polen 1863-1919 (= Quellen und Studien des Deutschen Historischen Instituts Warschau, Bd. 11), Harrassowitz Verlag, Wiesbaden 2000, 283 S., geb., 92 DM.


Nach den Arbeiten von Beate Fieseler, Bianka Pietrow-Ennker und Monika Rüthers liegt mit der Dissertation Natali Stegmanns eine weitere Arbeit zur Frauen- und Frauenbewegungsgeschichte in Osteuropa vor. Gerade für Polen war eine solche Studie ein Desiderat, und Stegmann schließt damit eine empfindliche Forschungslücke. Doch die vorliegende Untersuchung erfüllt bei weitem nicht nur den Zweck, im Sinne einer additiven und kompensatorischen Geschichte berühmte oder bemerkenswerte Polinnen aufzuspüren. Die Geschichte der polnischen Frauen und der polnischen Frauenbewegung wird hier im Gegenteil konsequent in den historischen und politischen Kontext gestellt, der allein viele Besonderheiten der polnischen Entwicklung im Vergleich zu anderen Ländern West-, Mittel- und Osteuropas erklärt. In der Nation ohne Staat ist beispielsweise ein Modernisierungskonzept, das Frauengleichberechtigung als Ausdruck eines Demokratisierungsprozesses sieht, ebenso ungeeignet zur Standortbestimmung wie die Modernisierungsindikatoren Industrialisierung oder Nations- und Parteibildung. Vielmehr erklären die spezifischen Situationen in den polnischen Teilungsgebieten die Entstehungsbedingungen, Wege und Ziele der polnischen Frauenbewegung. Gleichzeitig wird der Versuch unternommen, sowohl die Frauenbewegung sozial und kulturell zu verorten als auch die individuellen Lebenszusammenhänge der Akteurinnen in den Blick zu nehmen und ihre Standortgebundenheit und Perspektive einzubeziehen. Wichtigste Quellengrundlage der Arbeit sind die Zeitschriften Ster und Bluszcz, die eine das Organ des ,,Polnischen Verbandes für Frauengleichberechtigung", die andere ein zunächst an ein eher konservatives Publikum gerichtetes Blatt, das sich jedoch nach 1905 neu orientierte und auch Feministinnen ansprach.
Die Arbeit gliedert sich in sechs Kapitel. Das erste Kapitel ist den kulturellen, sozialen und rechtlichen Rahmenbedingungen für die Entstehung einer Frauenbewegung im Königreich Polen und in Galizien gewidmet. In der Provinz Posen gab es keine Frauenbewegung. Die Gründe dafür sowie die Entstehungsvoraussetzungen und Ziele der dort wichtigen polnischen Frauenvereine werden als Exkurs vorgestellt. Bereits in diesem ersten Kapitel und dann immer wieder wünschten sich auch mit der polnischen Geschichte Vertraute eine Karte, die Orientierungshilfen für die Lage, die Größe und die Grenzen der einzelnen Teilungsgebiete vergegenwärtigen würde. Als bedeutendste Spezifik für die polnische Situation, die nicht ohne Bedeutung für die Herausbildung einer Frauenbewegung bleiben kann, wird darauf hingewiesen, dass sich im Industrialisierungsprozess kein Bürgertum entwickelte. Aufgrund der politischen Lage und einer besonderen Mentalität gelang dem polnischen Adel eine ,Verbürgerlichung` nur teilweise. Der Adel als Träger der nationalen Bewegung des 19. Jahrhunderts hatte ein eigenes Selbstbewusstsein und eine szlachta-Kultur entwickelt, deren Werte in zahlreichen Bereichen das Leben prägten, jedoch in deutlichem Widerspruch standen zur tatsächlichen wirtschaftlichen und rechtlich-ständischen Position des Adels. Der Industrialisierungsprozess wurde vielfach von zugewanderten Deutschen, Russen und Juden vorangetrieben, die auch die Hauptnutznießer blieben. Auch auf landwirtschaftlichem Sektor nahm der Einfluss des Adels nach der Bauernbefreiung ab, ohne dass der Machtverlust durch Integration in politische Strukturen kompensiert wurde. Die vielfachen Diskriminierungen des Adels nach den Aufständen versperrten ihm die Beschäftigungsmöglichkeiten im Verwaltungs-, Bildungs- und Militärwesen und verwiesen ihn auf die sogenannten Intelligenzberufe.
Der adligen romantischen Aufstandsideologie wurde nach 1863 eine Theorie der nationalen Integration entgegengesetzt: Gesellschaftliche Institutionen sollten die staatlichen unterminieren und soziale Integration eine schichtenübergreifende Solidarität und polnische Gesellschaft schaffen. Zur Integration der Unterschichten wurde in geheimen Bildungseinrichtungen die polnische Sprache vermittelt. Damit wurde einerseits der Analphabetismus bekämpft und einer Russifizierung entgegengewirkt, zum anderen aber wurden durch die Gleichsetzung von Nation und Sprachgemeinschaft und durch die neu geschaffene Kommunikationsgemeinschaft nicht polnischsprachige Bevölkerungsgruppen ausgegrenzt.
An diesen sozialen, politischen und geistigen Wandlungsprozessen der Nachaufstandsperiode waren Frauen als diejenigen, die für Erziehung zuständig waren, Bildung vermittelten und als Multiplikatorinnen fungierten, wesentlich beteiligt. In diesem Kontext entstand die polnische Frauenbewegung. Im Unterschied zur westeuropäischen Bewegung richtete sie sich nicht gegen die männlichen Bürger und dagegen, dass sie die Macht inne hatten. Die geringe politische Macht, die polnische Männer in den Teilungsgebieten ausüben konnten, war nicht begehrenswert. Die polnischen Feministinnen sahen in den Teilungsmächten die Gegner. Sie repräsentierten die Ungleichheit und Unfreiheit. Da der Forderung nach Demokratisierung, nach politischer Partizipation und sozialer Gerechtigkeit in der Nation ohne Staat der Adressat fehlte, richtete sich die Emanzipationsforderung auf die nationale Befreiung und auf individuelle, kulturelle und soziale Befreiung aus überkommenen Strukturen.
Das zweite Kapitel zeichnet die Entwicklung der Frauenbildungsbewegung zwischen 1863 und 1905 nach. Die Trägerinnen strebten nicht nur einen umfassenden Zugang zur Bildung und erweiterte Möglichkeiten der Ausbildung für sich selber an, sondern waren auch maßgeblich an der Verbreitung von Bildung beteiligt. Das dritte Kapitel gewährt Einblicke in die individuellen Lebens- und Handlungszusammenhänge einzelner polnischer Feministinnen. Ausgewählt wurden Frauen der Spitze der Frauenbewegung, deren Werdegänge anhand von (auto)biographischem Material untersucht werden. Es zeigt sich, dass die subjektiven Lebenserfahrungen polnischer Feministinnen zwar nicht automatisch mit dem Schicksal der polnischen Nation und den nationalen Demütigungen in Zusammenhang gebracht werden können, dass aber gleichwohl die Identitätssuche vielfach parallel und in Reaktion auf das Schicksal der Nation und des (gescheiterten) adligen Vaters verlief. Die so ausgebildete nationale und weibliche Identität blieb zwiespältig, weil nicht mehr die Zugehörigkeit zum Adelsmilieu prägend war, sondern die Selbstverortung in der inteligencja, die allerdings nicht allgemein anerkannt wurde. Im vierten Kapitel wird die organisatorische Struktur der polnischen Frauenbewegung nach 1905 vorgestellt. Dabei werden sowohl polnische Frauenvereine im Königreich Polen und in Galizien als auch die Stellung der Polinnen in der internationalen Frauenbewegung in den Blick genommen. Da polnische Frauen in verschiedenen Rechtssystemen lebten, besaß die polnische Frauenbewegung insgesamt einen niedrigen Organisationsgrad. Die unterschiedliche soziale, politische und rechtliche Situation der polnischen Frauen in den drei Teilungsgebieten bestimmte die nationale und soziale Identität sowie die Strategien. Die zentrale Frage des fünften Kapitels gilt der Kontroverse um Gleichheit und Differenz. Auch in der polnischen Frauenbewegung existierte die Vorstellung von einem spezifisch weiblichen Auftrag für eine bessere Zukunft. Sie fand ihren Ausdruck in der Stimmrechtsbewegung und in der Sittlichkeitsdebatte, dem Kampf gegen die doppelte Sexualmoral, die unterschiedliche Maßstäbe für Männer und Frauen anlegte. Das sechste Kapitel schließlich ist den Jahren zwischen 1912 und 1919 gewidmet. Das Ende der nationalen Unfreiheit und die Staatsgründung bescherte den Frauen das Stimmrecht. Das Spannungsverhältnis zwischen Gleichheitspostulat und Ausgrenzung gewann jedoch im polnischen Staatsgründungsprozess wie in der polnischen Frauenbewegung eine insofern besondere Brisanz, als sich die polnischen Frauen als Vertreterinnen der benachteiligten weiblichen Bevölkerungsgruppe einerseits und als Angehörige der selbsternannten polnischen Elite der christlichen inteligencja andererseits an den Abgrenzungsstrategien gegenüber der polnischen jüdischen Bevölkerung beteiligten. Die schwache politische Position der polnischen (katholischen) Männer in der Hierarchie schuf eine geschlechterübergreifende Solidarität gegen die als Minderheiten bezeichneten andersnationalen oder -religiösen Gruppen, und das Frauenstimmrecht erscheint in diesem Kontext mehr als Zeichen der gemeinsamen Inbesitznahme des Staates durch polnische katholische Männer und Frauen als die Verwirklichung des Gleicheitspostulats. Die dargestellten Zusammenhänge machen geradezu beispielhaft deutlich, dass Geschlecht eine von vielen sozialen Kategorien und ebenso wirkmächtig ist wie Religion, Nationalität, Ethnie, Klasse und Kultur. Dies ist insgesamt neben der längst fälligen Aufarbeitung der polnischen Frauenbewegungsgeschichte ein wichtiges Verdienst der vorliegenden Arbeit.


Bärbel Kuhn, Saarbrücken


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