Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online
Peter Stadler, Cavour. Italiens liberaler Reichsgründer, R. Oldenbourg Verlag, München 2001, 182 S., kart., 68 DM.
Die Biographie Camillo Cavours (1810-1861) von Peter Stadler ist innerhalb des deutschsprachigen Raums einer der wenigen Versuche, sich mit einer zentralen Figur der italienischen Geschichte des 19. Jahrhunderts auseinander zu setzen. Die in 13 Kapitel gegliederte Biographie fasst sowohl die Jugend als auch die politische Karriere und Wertvorstellungen dieses wichtigen Repräsentanten des italienischen Liberalismus (moderato) zusammen. Der Autor bietet eine informationsreiche und detaillierte Biographie Cavours an, die von seinem Verhältnis zur Familie über politische Stellungsnahmen bis zum sozialen Selbstverständnis und den wirtschaftlichen Tätigkeiten reicht. Wichtige Kenntnisse der alten italienischen und internationalen Forschung werden dabei kurz und präzise dargestellt. So etwa die Rekonstruktion der diplomatischen Arbeit Cavours, die sich maßgebend auf die Einigung Italiens ausgewirkt hat; oder das ,,Glaubensbekenntnis" Cavours zur politischen Frage von Unitarismus vs. Föderalismus, zur Auseinandersetzung zwischen Staat und Kirche oder zur Rolle des Parlaments. Am Ende kommt Stadler zu einer sehr vertrauten Interpretation dieses bekannten Vertreters der politischen Elite des Risorgimento. Ein entschiedener Unitarist war Cavour ja nicht, er ,,nahm den Einheitsstaat mehr hin, als dass er ihn um jeden Preis anstrebte; im Föderalismus sah er jedenfalls größere Risiken als im bonapartistisch geprägten Unitarismus" (S.15). Die Parlamentarisierung der konstitutionellen Monarchie und des darin enthaltenen Ausgleiches zwischen monarchischer Gewalt und Parlamentarismus einerseits und dem Glauben an das freihändlerische Wirtschaftssystem anderseits erwiesen sich als zentrale Bestandteile seiner politischen Überzeugungen auf dem Weg der Abschaffung spätabsolutistischer Verhältnisse der damaligen sardinischen bzw. italienischen Gesellschaft. Seit dem Beginn des ,,großen Ministeriums" (1852) zeichnete sich die politische Tätigkeit Cavours, vor allem in innerpolitischen Konfliktsituationen, durch das Vertrauen in die Durchsetzungskraft rationaler Argumentation aus (S.97). Dies charakterisierte seine Einstellung und politische Haltung in der Auseinandersetzung zwischen Staat und Kirche in der Frage der geistlichen Gerichtsbarkeit, der Zivilehe, der Konfessionsfreiheit und vor allem in dem liberalen Grundsatz der Trennung von Kirche und Staat, der sich mit seiner berühmten Formel der ,,libera Chiesa in libero Stato" resümieren lässt: ,,Die zeitgenössische Geschichte - so Cavour - zeige, dass es gegen die Angriffe des Klerus auf die Freiheit kein anderes Mittel gebe, als ihm die Prinzipien der Toleranz und der Freiheit entgegenzustellen." (S. 97)
Cavour war Vertreter einer politischen Elite, die in Abgrenzung zum demokratisch-republikanischen Weg Mazzinis einen Erneuerungsprozess der gesellschaftlichen Institutionen des Ancien Régime ohne Umsturz der Machtstrukturen zu verwirklichen versuchte. Dem entsprach eine politischen Einstellung, die ,,natürlich auch den Verzicht auf soziale Reformen beinhaltete, eine Art Sanktionierung des gesellschaftlichen Status quo im Interesse der Oberschichten und zugleich der nationalen Zielsetzung." (S. 52) Somit erwies sich Cavour als ein typischer Anhänger des juste-milieu. An dieser Art der Darstellung ist nichts auszusetzen. Sie gehört längst zum Bild dieser Persönlichkeit. Der Autor bietet somit eine konventionelle Lektüre an und zeigt dadurch seine Unfähigkeit, über eine rein traditionelle politik- und ideengeschichtliche Auffassung hinauszublicken. Man hat den Eindruck, dass er mehrere Jahrzehnte moderner italienischen Politik- und Sozialgeschichte ausblendet. Das gilt zunächst für die Thematisierung der Problematik von adliger Lebensform und sozialem Wandel im Risorgimento, deren Bedeutung und Konzeptualisierung die Forschung u.a. ausgehend vom Beispiel Cavours debattiert ( vgl. zur Diskussion A. L. Cardoza, Aristocrats in bourgeois Italy. The piedmontese nobilty, 1861-1930, Cambridge 1997). Stadler betont das schwierige Verhältnis Cavours zu seinen Eltern und zu seinem Milieu, ohne gleichzeitig der Frage nachzugehen, ob dieser Konflikt zur Standesloyalität eine, durch die kulturellen Einflüsse des Liberalismus, neue und moderne Form von Individualität und Persönlichkeitsideal darstellt, die die traditionellen Bezugsrahmen adliger Werte durchbrechen. Außerdem beschäftigt sich Stadler mit den wirtschaftlichen Aktivitäten Cavours wie auch mit seinen Interessen für ökonomische und technische Entwicklungen in England und Frankreich, die er durch seine Reisen und Aufenthalte in diesen Ländern kennen gelernt hatte, ohne auch in diesem Fall der entscheidenden Frage nachzugehen, ob es sich dabei nicht um ein klares Zeichen von Verbürgerlichung des Adels handelte. Mit anderen Worten: Mit der Frage, ob sich am Beispiel Cavours die Geburtsstunde des Übergangs von einer ,,geburtsständischen Elite" zur einer ,,nachständischen Leistungselite" feststellen lässt? Zu fragen wäre ebenso, ob die unbestrittene Nähe Cavours zu bürgerlichen Leistungsvorstellungen als Moment der Erneuerung einer politischen Elite zu verstehen ist, die ihre Machtansprüche und ihre Vorrangstellung in gesellschaftlichen Institutionen weiterhin nur dann als Stand beanspruchen konnte, wenn sie sich selbst zum Motor der Modernisierung machte?
Die Antworten auf alle diese Fragen bleibt die Arbeit schuldig. Wie wenig forschungsorientiert diese Biographie ist, lässt sich z.B. sehr deutlich in den Passagen über ,,Die Einverleibung des Südens" (S. 145-156) erkennen. Diese Problematik wird hier auf eine für die ganze Arbeit typische Weise dargestellt, die sich auf ein Erzählen von Fakten und Ereignissen konzentriert. Der Autor hält es wahrscheinlich für wenig angebracht, sich mit der Representation (die Vorstellung des Anderen) des Südens, die die von Cavour geführte politische Elite der moderati hatte, auseinanderzusetzen. In den letzten Jahren hat die Forschung gerade in dieser Frage darauf insistiert, die Modalitäten des konflikthaften Nord-Süd-Verhältnisses in der Anfangszeit des Nationalstaates zu suchen. Die seitens der sardischen Führung allgemein akzeptierte Representation des Südens als Raum der Negativität - der moralischen Verderbtheit, der Brutalität, der politischen Ignoranz, der Korruption und der Unfähigkeit zum self-governement usw. - legitimierte die Politik der Militarisierung wie auch die repressive Lösung der Süd-Frage und dadurch eine Politik der ,,Kastration" der Bürgerrechte im Mezzogiorno.
Gerade in den entscheidenden Jahren 1860-1861 begann die Übergangsphase von einem geführten Krieg gegen eine externe Drohung (Bourbonen) zum einem nicht offenen Krieg gegen komplexe und vielfältige Formen der inneren politischen und sozialen Opposition (dazu u.a. N. Moe, ,,Altro che Italia." Il Sud dei piemontesi (1860-1861), in: Meridiana 1992, S. 53-89; J. Dickie, Una parola in guerra: l'esercito italiano ed il ,,brigantaggio" 1860-1870, in: Passato e Presente 1991, S. 53-74).
Schließlich bleibt ein letztes Problem zu erwähnen, das Erkenntnisinteresse Stadlers: Er stellt Cavour als Alternative zu Bismarck, als Protagonisten einer anderen Reichsgründung, dar. Das kann aber nicht mit Hilfe von sehr offenkundigen Unterschieden sinnvoll geschehen. Cavour war ein Aristokrat mit einer liberalen (moderata) politischen Vision, die sich am englischen Modell orientierte. Bismarck als konservativer Junker hingegen hatte wenig Sympathie für die politischen Positionen des Liberalismus. Stattdessen könnte dieser Vergleich anders erfolgen. Trotz der emotionalisierten Idee eines auch von unten getragenen Nationsbildungsprozesses waren die Einigung Italiens wie Deutschlands auch Resultat von dynastischen Eroberungen. Die Einigung deckte sich in beiden Ländern mit der Verfestigung von Monarchien, die sich nur begrenzt von ihren autoritären und ständischen Wurzeln befreit hatten. Gleichzeitig aber trugen die nationale Dimension wie auch das Erbe der konstitutionellen Erfahrungen von 1848 dazu bei, dass in beiden Ländern in unterschiedlichem Tempo und oft unter divergierenden Vorzeichen ein Prozess der Ausdehnung und Erweiterung der Repräsentationsräume der Souveränität stattfand. An diesen Themenkomplexen, die zugleich die politischen und insitutionellen Züge des modernen ,,liberalen" Nationalstaats im 19. Jahrhundert idealtypisch charakterisierten, sollten die Vergleichseinheiten zwischen Bismarck und Cavours Erbe gesucht werden. Aber auch diese Fragen lässt die Arbeit unbeantwortet.
Aufgrund der skizzierten Mängel bleibt diese Biographie eine konventionelle Darstellung, die für den deutschen Leser ,,instruktiv" sein kann, für die Geschichtswissenschaft aber kein Gewinn ist.
Vito Francesco Gironda