Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online
Axel R. Schäfer, American Progressives and German Social Reform, 1875-1920. Social Ethics, Moral Control, and the Regulatory State in a Transatlantic Context (= USA-Studien, Bd. 12), Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2000, 252 S., kart., 74 DM.
In den drei Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg bereisten zahllose Journalisten, Sozialwissenschaftler und Kommunalpolitiker aus den Vereinigten Staaten das Deutsche Kaiserreich, um dort soziale Fortschritte und Reformen zu studieren und daraus Pläne für grundlegende Reformen in ihrer Heimat Amerika abzuleiten. Ein regelrechter Reformtourismus war im Gange, der ein erstaunlich positives Bild von politischer Partizipation und materiellem Wohlergehen, aber auch von öffentlicher Kontrolle und bürokratischer Effizienz zumal in den preußisch-deutschen Großstädten zeichnete. Die »Touristen« waren Teil der ebenso wirkmächtigen wie diffusen, den Historikern immer noch Rätsel aufgebenden Bewegung des »Progressivism«, und viele von ihnen kehrten dabei als professionelle Experten in das Land zurück, an dessen Universitäten - in Berlin oder Jena, in Heidelberg oder Halle - sie bereits eine Zeit lang Nationalökonomie, Philosophie oder Geschichte studiert hatten. Axel R. Schäfer untersucht in dieser Studie, der überarbeiteten Fassung einer 1994 eingereichten Berliner Dissertation, das Selbstverständnis, die Motive und Ziele dieser germanophilen amerikanischen Reformer um die Jahrhundertwende, ihr politisches Handeln und ihre politisch-kulturellen Netzwerke, von den 1880er Jahren bis zum weit gehenden Scheitern ihrer Bewegung im Gefolge des Ersten Weltkrieges. Er bringt damit Licht in ein lange vernachlässigtes Gebiet gemeinsamer deutscher und US-amerikanischer Geschichte; nicht zuletzt auch in ein wichtiges Feld der modernen Stadtgeschichte, denn kommunale Verwaltungsreform, »Munizipalsozialismus« und Stadtplanung waren bevorzugte Themen dieser Reformer, und sie stehen deshalb auch in Schäfers Buch im Vordergrund.
Das Buch erscheint zu einem Zeitpunkt, da die Geschichte früher amerikanischer Sozialpolitik zwischen Bürgerkrieg und »New Deal« in weiten Bereichen neu entdeckt und jedenfalls ganz neu geschrieben worden ist. Dabei stand einerseits die Erkenntnis im Vordergrund, dass es umfassende Sozialpolitik im Musterland von Liberalismus, Privatheit und Staatsskepsis überhaupt gegeben hat; dass sie andererseits vielfach entlang geschlechterpolitischer Linien verlief und weibliche Interessen in ihr eine besonders wichtige, so zumal in Deutschland nicht erkennbare Rolle spielten. Fast gleichzeitig hat im letzten Jahrzehnt die wechselseitige Überlappung und Verflechtung deutscher und amerikanischer Geschichte im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert viel Beachtung gefunden, und zwar jenseits der klassischen Themen von Diplomatie und Immigration. Beide historiographische Tendenzen hat Daniel T. Rodgers in seiner meisterhaften und schon viel diskutierten Studie über die »Atlantic Crossings« 1998 zusammengezogen, indem er das transatlantische Netzwerk von Reformern und Reformpolitik untersuchte, das dem alten, populär noch immer recht weit verbreiteten Bild von einem amerikanischen Sonderweg (»exceptionalism«) im Allgemeinen und in der Sozialpolitik bzw. in der Reformbewegung des »Progressvism« im Besonderen energisch widerspricht.
In dieses Feld fügt sich Schäfers Studie - früher abgeschlossen, aber später publiziert als das Buch von Rodgers - ein. Im ersten Kapitel geht es um die wissenschaftsgeschichtlichen Voraussetzungen der Reform; hier zeichnet Schäfer den Weg von der (älteren) Historischen Schule der Nationalökonomie in Deutschland zu den intellektuellen Konzeptionen der progressiven Reformer nach, für die besonders der »ethische« Impuls ihrer deutschen akademischen Vorbilder herausgearbeitet wird. Überhaupt ist es eine These des Autors, dass den sozialethischen und auch den religiösen Motiven der Reformer mehr Beachtung gegenüber anderen Antriebskräften (z.B. Steuerung und Kontrolle, Rationalisierung und Effizienz) in dem komplexen Syndrom des »Progressivism« gebühre. Den Kern des Buches bilden sodann Fallstudien über einzelne Felder der Reform. Die Städte und ihre Politik sind die Arena des zweiten und dritten Kapitels. Schäfer diskutiert zuerst das deutsche Vorbild der kommunalen Leistungsverwaltung, insbesondere des öffentlichen Betriebs von Ver- und Entsorgung, dann Fragen der Stadtplanung, auf die sich seit der Jahrhundertwende die Aufmerksamkeit der amerikanischen Beobachter zunehmend verschob. Nach einer allgemeinen Skizze, die in das Problemfeld einführt, steht jeweils die Karriere und das politisch-publizistische Engagement einzelner Personen im Vordergrund, die Deutschland bereisten, lobten und ihrer eigenen Heimat als Vorbild empfahlen. Ihre Namen sind heute höchstens noch Spezialisten vertraut; Frederic C. Howe (1867-1940) dürfte der bekannteste von ihnen sein. Im vierten Kapitel diskutiert Schäfer die Kampagne für eine staatliche Sozial-, besonders Krankenversicherung; im fünften Kapitel wird das Scheitern der Versicherungspläne im Ersten Weltkrieg genauer und gewissermaßen paradigmatisch analysiert, denn vor dem politischen und propagandistischen Hintergrund des Krieges hatten auch andere auf das Deutsche Reich blickende Reformbewegungen vorläufig keine Chance mehr.
Die Darstellung Schäfers ist anschaulich und quellennah. Neben den Nachlässen seiner Protagonisten hat er vor allem die einschlägigen allgemeinen und spezielleren Zeitschriften ausgewertet, von »Harper's Magazine« bis zum »National Municipal Review«, in denen die Reformdebatten vor allem ausgetragen worden sind. Über den »Tourismus« der Reform selber, also die zahlreichen Studienreisen der Amerikaner in deutsche Städte, erfährt man freilich enttäuschend wenig; in einem Ausnahmefall gibt jedoch das ausführliche Tagebuch von Edward Devine über die akademischen und kommunalen Stationen einer solchen Reise interessante Auskunft. Generell besteht ein Nachteil der personenzentrierten Darstellung darin, dass die Netzwerke und Institutionen, welche - auch organisatorischen - Zusammenhalt zwischen den Reformern (wie z.B. die »National Municipal League«) stifteten, etwas blass bleiben bzw. nie zusammenhängend analysiert werden. Das könnte man auch als prinzipiellen Einwand gegen Schäfers Interpretation formulieren: Die Betonung der »Ethik« und der »konstruktivistische« Akzent auf reformerische Wahrnehmung und »agenda-setting« verführt zu einer Vernachlässigung von Institutionen und Strukturen. Auch im Denken und Handeln der Reformer werden die »technizistischen« Impulse, das Beharren auf Bürokratie, Effizienz und Expertenherrschaft gegenüber den ethisch-religiösen teilweise unterschätzt. Ohne sie kann man aber weder die tiefe politische Ambivalenz der Orientierung an Deutschland noch den Paradigmawechsel in den 20er Jahren, mit dem von Schäfer so genannten »cultural turn des Progressivism« im Werk z. B. Lewis Mumfords, nicht verstehen. Es scheint mir auch fraglich, ob die drei »Modelle« oder reformerischen Grundkonzeptionen, die Schäfer in der Einleitung unterscheidet, in der Wirklichkeit der Reform viel weiterhelfen. Dennoch: Das Buch ist eine interessante und weiter führende Lektüre nicht nur für Amerikahistoriker, sondern für alle, die sich für Sozialpolitik und Stadtgeschichte interessieren.
Paul Nolte, Bielefeld