ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

James Retallack (Hrsg.), Sachsen in Deutschland. Politik, Kultur und Gesellschaft 1830-1918 (= Studien zur Regionalgeschichte, Bd. 14), Verlag für Regionalgeschichte, Bielefeld 2000, 296 S., kart., 48 DM.


Bei der regionalhistorischen Erschließung der ,,Neuen Bundesländern" herrscht auch nach mehr als zehn Jahren Wiedervereinigung immer noch spürbarer Nachholbedarf. Dieses Forschungsdefizit zu verringern und dabei neue Perspektiven der Regionalgeschichte aufzuzeigen ist das Anliegen des Sammelbandes ,,Sachsen in Deutschland", den der kanadische Historiker James Retallack herausgegeben hat. Die Beschäftigung mit Sachsen verspricht wegen seiner ausgeprägten Tradition (bundes-)staatlicher Eigenexistenz und kräftiger Identitätsbezüge, die sich an Sachsen und am Sächsischen festmachen, für einen regionalhistorischen Zugriff besonders ertragreich zu sein. Als eine der am frühesten industrialisierten Regionen Mitteleuropas und als Kernland der deutschen Sozialdemokratie kommt Sachsen zudem eine über die Region selbst hinausweisende Bedeutung zu, die eine intensivere historische Aufarbeitung zum Forschungsdesiderat macht. Solche forschungspragmatischen Motive verbinden sich, folgt man der Einleitung des Herausgebers, mit dem ambitionierten Ziel, die methodisch-theoretischen Grundlagen der Regionalgeschichte neu zu überdenken. Vier der vierzehn Beiträge des Bandes widmen sich explizit dieser Aufgabe. Völlig ohne Bezug auf Sachsen kommt dabei Celia Applegate aus, wenn sie zwei viel gelesene Werke zur Kulturgeschichte der Deutschen aus der Mitte des 19. Jahrhunderts, H. W. Riehls Naturgeschichte des deutschen Volkes und Gustav Freytags Bilder aus der deutschen Vergangenheit, auf die Beziehung von Nation und Region abklopft, die in ihnen konstruiert wird. Thomas Kühne nimmt in seinem Beitrag diesen Faden auf, wenn er aus der Perspektive der politischen Kulturforschung dafür plädiert, sich stärker als bisher mit der Region als Konstrukt zu befassen und danach zu fragen, welchen Stellenwert die Kategorie ,,Region" im Denken, Wahrnehmen und Handeln der politischen Akteure besitzt. Daran knüpft Kühne die Kritik einer Forschungspraxis, die den Konstrukt-Charakter von Region kaum reflektiere und eine oft recht willkürliche geographische Eingrenzung des Untersuchungsgebietes unhinterfragt als historische Realität ausgebe. Ob ein Raum als Region gelten könne, hänge jedoch letztlich davon ab, ob die dort lebenden Menschen ihn als solche akzeptieren und sich mit ihm identifizieren. Eine konstruktivistische Regionalgeschichte habe also, so Kühne, Region als räumliches Identitätskonstrukt selbst zu historisieren, in ihrer zeitgenössischen, mitunter kontroversen Interpretationsvielfalt aufzuschlüsseln und machtpolitische Instrumentalisierungen dieser Konstrukte freizulegen.
Aus einer anderen Perspektive nähert sich Helmut W. Smith der Regionalgeschichte: Er schlägt einen argumentativen Bogen, der an der Kritik lokal- und regionalgeschichtlicher Studien zur Sozialgeschichte der Arbeiterschaft und deren allzu starker Zuspitzung auf Klassenbildungsprozesse ansetzt. Dabei geraten, so Smith, eine Vielfalt sozialer Identitäten und Erfahrungen von vornherein aus dem Blickfeld. Anknüpfend an neuere US-amerikanische Konzepte schlägt Smith zum einen vor, Regionen als ,,Kontaktzonen" zu begreifen, in denen verschiedene, oft ethnisch definierte Kulturen aufeinander treffen und miteinander interagieren. Zum Zweiten richtet er den Blick auf die Auswirkungen politischer Grenzziehungen auf regionale Identitäten und plädiert dafür, Grenzen nicht lediglich als Parameter der Geschichte einer Region zu verstehen, sondern sie zum Gegenstand der Betrachtung selbst zu machen, um so regionale Identifizierungsprozesse zu erfassen. Allerdings bieten diese Anregungen, so interessant und diskussionswürdig sie auch an sich sind, für die Regionalgeschichte Sachsens in dem vom vorliegenden Sammelband gesetzten zeitlichen Rahmen wenig Ansätze zu einer empirischen Operationalisierung. Wenn sich auch Smith mehrfach auf die ungewöhnliche Häufigkeit territorialer Veränderungen Sachsens im Laufe seiner Geschichte bezieht - gerade zwischen 1830 und 1918 wurden die Grenzen des Königreichs Sachsen nicht neu gezogen. Es mag auch durchaus überlegenswert sein, mit dem Kontaktzonen-Konzept, das in Studien über die Besiedlung des amerikanischen Westens erprobt worden ist, etwa die Sozialgeschichte des Ruhrgebiets in seiner Entstehungsphase aus einer neuen Perspektive zu schreiben. Sachsens Geschichte im 19. und 20. Jahrhundert scheint dagegen vom Problem massenhafter Immigration und ethnischer oder konfessioneller Konflikte allenfalls peripher geprägt gewesen zu sein.
Überhaupt kommt bei näherem Hinsehen eine merkwürdige Diskrepanz zwischen den theoretischen und den empirischen Beiträgen des Bandes zum Vorschein, denn man wird Mühe haben, eine Spur von Applegates, Smiths und Kühnes Postulaten einer neuen, konstruktivistisch angelegten, kulturhistorisch orientierten Regionalgeschichte in den dort versammelten Aufsätzen zu finden. Zwar steht etwa Marline Otte, wenn sie aus den Darbietungen des Dresdner Zirkus Sarrasini Elemente eines Diskurses über rassische Überlegenheit destilliert, durchaus auf der methodischen Höhe der neueren Kulturgeschichte. Doch vermisst man in ihrem Beitrag den systematischen Bezug zur Region Sachsen. Ähnliches gilt für Holger Starke, der in seiner originellen Dekonstruktion eines zeitgenössischen Gemäldes zur Begrüßung der aus Frankreich zurückgekehrten sächsischen Truppen durch den Rat der Stadt Dresden 1871 die Symbole staatlicher und städtisch-bürgerlicher Festkultur entschlüsselt, allerdings nichts über den Zusammenhang sächsischer und national-deutscher Identifikationsbezüge zu sagen hat. Die Aufsätze von Andreas Neemann und Christian Jansen zum Verhältnis von liberaler Bewegung und sächsischem Staat zwischen 1848/49 und 1866/67 wiederum beschäftigen sich nicht zuletzt mit den regionalen und nationalen Orientierungen der politischen Akteure. Doch bewegen sich beide Autoren, wenn sie die inner-sächsischen Auseinandersetzungen um die verschiedenen Optionen nationaler Einigung skizzieren, auf den methodisch ausgetretenen Pfaden herkömmlicher Politikgeschichte.
Letztlich steht nur der vierte, von Thomas Mergel beigesteuerte theoretische Aufsatz über Milieu und Region in einer engeren Verbindung mit dem empirischen Teil des Bandes . Mergel definiert Regionen als soziale, politische und kulturelle Kommunikations-Cluster, die den Prozess der Milieu-Bildung entscheidend prägen, und listet eine Reihe möglicher Faktoren, die eine Region konstituieren können auf: geographische und politische Grenzen, wirtschaftliche Vernetzung und Verkehrsverbindungen, Räume der Vergesellschaftung über Familienbeziehungen, Vereine oder Bildungsstätten, Produktionsbedingungen und Lebensweisen, Dialekte und historische Erinnerungen. Die Region als Konstrukt, als ,,Imagined Community", taucht in dieser Liste nur am Rande auf. Mergel verweist in seinem Beitrag auf die essentiell regionale Prägung der drei großen Milieus. Katholisches, bürgerlich-liberales und sozialistisch-proletarisches Milieu sind demnach auf nationaler Ebene eher als Klammerbegriff für verschiedene regionale Erscheinungsformen zu verstehen. So wie es regional unterschiedliche Bürgertümer gab, wie sich rheinischer, schlesischer oder bayerischer Katholizismus auf unterschiedliche soziale Trägerschichten stützten, so wies auch die Arbeiterbewegung ,,erhebliche regionale Disparitäten in Hinsicht auf den Organisationsgrad, die Streikbereitschaft, Koalitionsmöglichkeiten , [...] in ihrer sozialen Kultur auf" (S. 273). Damit verweist Mergel auf eine historiographische Nutzanwendung des Regionenbegriffs, dem auch Retallack in seiner Einleitung großen Raum gibt, nämlich dem bilateralen oder multilateralen Vergleich räumlich integrierter politischer Handlungsfelder, soziokultureller Interaktionsräume oder Wirtschaftszonen. Regionen definitorisch aus dem jeweiligen Erkenntnisinteresse herzuleiten, erscheint in diesem Sinne ein legitimes und durchaus ertragreiches Verfahren, und die große Mehrzahl der empirischen Beiträge des Bandes geht denn auch von der nicht problematisierten Prämisse aus, dass die Region Sachsen durch ihre Staatsgrenzen definiert wird.
Das eigentliche Leitthema dieser Aufsatzsammlung gibt der Herausgeber mit der Feststellung vor, Sachsen passe weder in die etablierten Ost-West- und Nord-Süd-Paradigmen der vergleichenden deutschen Regionalgeschichte, in denen die preußisch-autoritären Traditionen des Nordens und Ostens im Kontrast zur stärker liberal und demokratisch geprägten politischen Kultur des Südens und Westens ständen. Andererseits spricht Retallack aber an gleicher Stelle auch von ,,tief verwurzelte[n] Traditionen autoritärer Herrschaft", welche die regionale politische Kultur in der Mitte Deutschlands, in Sachsen, geprägt hätten. Der Blick auf Sachsen könne dazu beitragen, den ,,West-Bias" der deutschen Regionalgeschichte, der zu einer Überbewertung demokratischer Züge der politischen Kultur des 19.Jahrhunderts geführt haben könnte, auszubalancieren und grundlegende Aussagen über größere nationale Zusammenhänge korrigieren. Die Beiträge von Andreas Neemann und Christoph Jansen nehmen diesen Faden auf, wenn sie den Blick auf die in Sachsen besonders lange und tief greifende Periode der politischen Reaktionszeit nach der Revolution von 1848/49 lenken. Während Neemann allerdings auch in dieser Periode eine gewisse Entfaltung einer politischen Öffentlichkeit und Ansätze zur Einbeziehung der liberalen Opposition durch die sächsische Regierung ausmacht, konstatiert Jansen eine Verkümmerung der politischen Kultur in Sachsen, die zur vergleichsweise geringen Flexibilität und Kompromissfähigkeit der sächsischen Liberalen beigetragen habe. Auf der anderen Seite habe sich die sächsische Regierung, indem sie der liberalen Opposition die Kooperation verweigerte, selbst um die Option einer verfolgversprechenden partikularistischen und föderalistischen Deutschland gebracht.
Simone Lässig macht sich in ihrem Beitrag die Möglichkeiten des regionalen Vergleichs zunutze, um den Zusammenhang zwischen der kulturellen Verbürgerlichung der Juden und staatlicher Emanzipationspolitik in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts tiefenscharf zu erfassen. Während eine tolerante Judenpolitik in Anhalt-Dessau, so ihr Ergebnis, schon frühzeitig Tendenzen einer Verbürgerlichung anregte, korrelierte in Sachsen eine sehr schleppend verlaufende staatliche Emanzipationspolitik mit einem relativ langsamen Akkulturationsprozess der Juden. Im Ausblick wirft Lässig die Frage auf, ob nicht vielleicht die vom sächsischen Staat lange konservierten antijüdischen Ressentiments einen Erklärungsansatz für die Stärke der antisemitischen Bewegung in Sachsen bieten könnte. Auch James Retallack präsentiert mit der Untersuchung der Beziehungen von antisemitischen und konservativen Parteien in Baden und Sachsen einen gleichgewichtigen interregionalen Vergleich. Er kommt zu den Ergebnis, dass für badische wie sächsische Konservative der Antisemitismus zu ihrem ideologischen Grundbestand und zum Kern ihrer politischen Mentalität gehörte. Er wendet sich damit gegen die gängige Lesart, die Konservativen hätten erst mit der Herausforderung durch antisemitische Parteien den Antisemitismus für eigene Zwecke entdeckt und instrumentalisiert, ihn ,,integriert" oder ,,gezähmt". (Retallacks Beitrag und auch seiner Einleitung hätte im Übrigen eine professionellere Übersetzung ins Deutsche sicherlich gut getan).
Karl-Heinrich Pohl hat seit einiger Zeit in einer ganzen Reihe von Veröffentlichungen auf einen durchgreifenden Wandel der politischen Kultur in Sachsen seit der Jahrhundertwende hingewiesen. Von zentraler Bedeutung für diesen Wandel war die Abkehr der sächsischen Nationalliberalen von ihrem Bündnis mit den Konservativen und ihre Öffnung für eine Politik der Reform und einer vorsichtigen Kooperation mit der Arbeiterbewegung. Gerade Pohls Beitrag im vorliegenden Sammelband, ein Vergleich der Kommunalpolitik in Dresden und München vor 1914, lässt allerdings gewisse Zweifel an der Stimmigkeit dieser Lesart aufkommen. Während man nämlich die Umrisse einer fortschrittlichen parlamentarischen Kultur unter Einbezug der Arbeiterbewegung im Münchener Rathaus durchaus erkennen kann, wurde das stadtpolitische Klima in Dresden lange Zeit von einer rigiden Ausgrenzung der Sozialdemokratie bestimmt. Ansätze einer sozialreformerisch orientierten, ,,munizipalsozialistischen" Kommunalpolitik wurden hier anders als in München von der Macht der Hausbesitzer und Handwerksmeister stark beschnitten. Zwar macht Pohl diese Kontraste an einer für Großstädte eher ungewöhnlichen konservativ-antisemitischen Mehrheit im Dresdner Rathaus fest, doch ein Blick ins traditionell liberale Leipzig würde wohl zu ähnlichen Ergebnissen wie im Dresdner Fall kommen.
Die mangelnde Reformbereitschaft der sächsischen politischen Eliten kommt auch in Christoph Nonns Beitrag zu sozialem Konflikt und politischer Reform in Sachsen, Preußen und im Reich während des Ersten Weltkriegs zum Vorschein. Nicht einmal die Liberalen waren hier - anders als im Reich und Preußen - für eine Parlamentarisierung des politischen Systems zu haben. Noch in einem wenige Tage vor der Novemberrevolution vorgelegten Verfassungsentwurf mit korporatistischen Zügen, den die neue nationalliberal geführte Regierung Heinze vorlegte, wird man die Abneigung der sächsischen Liberalen gegen die parlamentarische Demokratie erkennen können. Dennoch geht Nonn insgesamt davon aus, dass die Ansätze einer auf Kooperation und Kompromiss basierenden politischen Kultur auch während der Kriegszeit weitere Fortschritte machten. Erst die Revolution habe diese Ansätze verschüttet, und Konflikt und Konfrontation zwischen den politischen Lagern habe nun wie vor 1900 das innenpolitische Klima in Sachsen bestimmt, eine Entwicklung, die Nonn vor allem dem ,,linksrepublikanischen Projekt" der sozialistischen Nachkriegsregierungen zuschreibt.
Über eine solche Interpretation ließe sich trefflich streiten. Doch leider erscheint ein ganz zentraler Faktor, der langfristig die Konstellationen der sächsischen Parteienlandschaft und der politischen Kultur Sachsens im Kaiserreich prägte, im vorliegenden Sammelband einigermaßen unterbelichtet: Die offenbar außergewöhnlich nachhaltige Konfrontation zwischen Obrigkeitsstaat und Arbeiterbewegung und die tiefe politische Lagerspaltung zwischen Bürgertum und sozialistischer Arbeiterschaft. Im Gegenteil, beide Aufsätze, die sich mit der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung in Sachsen befassen, versuchen sich auf die eine oder andere Weise mit einer Revision dieser Sichtweise. Dabei geht es Karsten Rudolph um eine Aufwertung der Ansätze zur Formierung einer klassenübergreifenden demokratischen Partei in den 1860er Jahren. Die 1866 gegründete Sächsische Volkspartei, die 1869 in der sozialdemokratischen Bewegung aufging, sei von der Historiographie je nach politischer Couleur als ,,unzeitgemäße" sächsisch-partikularistische Partei oder als ,,Sackgasse" in der Entwicklung zur proletarischen Klassenpartei abgetan worden. Rudolph betont dagegen den in vielerlei Hinsicht zukunftsweisenden Charakter dieses frühen Versuchs der Bildung einer radikaldemokratischen Volkspartei und verweist auf die alternativen Parteibildungsprozesse und Handlungsspielräume, die von der Forschung weit gehend ignoriert worden seien. Ob man allerdings, wie Rudolph vorschlägt, hier die konzeptionellen Wurzeln der Volksparteien der Bundesrepublik Deutschland suchen sollte, erscheint mir eher zweifelhaft. Ein solcher Versuch würde wohl eher auf die nachträgliche Invention of Tradition im Dienste der Traditionsbildung der heutigen SPD herauslaufen.
Schließlich stellt Thomas Adam die Befunde einer Studie über das sozialdemokratische Milieu in Leipzig zwischen den 1880er und 1920er Jahren vor. Aus den Daten zum Sozialprofil sozialdemokratischer ,,Vorfeldorganisationen", zu deren Mitgliedern in Leipzig neben Arbeitern offenbar auch zahlreiche Angestellte, Beamte und kleine Gewerbetreibende gehörten, schließt Adam, das sozialdemokratische Milieu in Leipzig sei spätestens in der Weimarer Republik sozial heterogen und vergleichsweise offen, seine Grenzen seien ,,künstlich" gewesen. Zudem habe die Sozialdemokratie selbst in ihrer Hochburg Leipzig keine ,,eigenständige Subkultur" hervorgebracht, ,,die sich von der bestehenden bürgerlichen Kultur abhob und auf eine sozialistische Gesellschaft vorauswies" (S. 113). So interessant die präsentierten quantitativen Befunde auch sein mögen, Adams Interpretation bleibt doch etwas unbefriedigend. So stellen die sozialstatistischen Kategorien der Angestellten und Beamten eine ausgesprochen vage Verortung sozialer Lagen dar. Gerade die Gehaltsempfänger in Industrie, Handel und öffentlichem Dienst bildeten ein rasch wachsendes Wählerpotential, das sowohl von der Sozialdemokratie wie auch von den bürgerlichen Parteien mit jeweils spezifischen Angeboten sozialer Identität - hier als ,,Kopf-Arbeiter", dort als ,,Neuer Mittelstand" - umworben wurde. Die eindeutige Zuordnung dieser Gruppen zu den bürgerlichen Mittelschichten, die Adam offenbar vornimmt, erscheint mir in diesem Zusammenhang ebenso fragwürdig wie die Kategorisierung kultureller Formen als ,,bürgerlich" oder ,,sozialistisch". Die von den theoretischen Beiträgen des Bandes eingeforderten ,,konstruktivistischen" Sichtweisen hätten hier vielleicht aussagekräftigere Ergebnisse zur soziokulturellen Kohäsion des sozialdemokratischen Milieus erbracht als die etwas blutleeren Formeln von der ,,Künstlichkeit" der Milieu-Grenzen oder der ,,Bürgerlichkeit" der Arbeiterbewegungskultur.
Alles in allem bietet der Band ,,Sachsen in Deutschland" eine lesenswerte und anregende Sammlung von Aufsätzen zur politischen Kultur in einer historiographisch lange vernachlässigten Region. Wenn auch die hochgesteckten Ambitionen, wie sie in der Einleitung und den theoretischen Beiträgen formuliert werden, nicht immer eingelöst werden können, so demonstrieren die hier präsentierten Forschungsergebnisse doch die methodische Fruchtbarkeit einer vergleichenden Regional- und Lokalgeschichte.


Michael Schäfer, Bielefeld


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