ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Andreas Renner, Russischer Nationalismus und Öffentlichkeit im Zarenreich 1855-1875 (= Beiträge zur Geschichte Osteuropas), Böhlau Verlag, Köln etc. 2000, 448 S., geb., 98 DM.


Die Arbeit von Andreas Renner: Russischer Nationalismus und Öffentlichkeit im Zarenreich 1855-1875 schließt die bestehende Forschungslücke zur Nationsbildung der Russen und Konstruktion des russischen Nationalismus in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Im Unterschied zu früheren geistesgeschichtlich orientierten Arbeiten versucht Renner in der Forschung zum Teil gegensätzlich verwandte modernisierungstheoretische und kulturologisch orientierte Ansätze zusammenzubringen. Es gelingt ihm, die kulturellen Nationsbildungsprozesse an moderne Voraussetzungen rückzubinden und die öffentliche Konstruktion der ,,Nation" als fortlaufenden ,,Neudeutungs- und Selektionsprozess" zu untersuchen. Das Ergebnis spiegelt nicht nur die intensive Auseinandersetzung des Autors mit den einschlägigen theoretischen Diskussionen der Nationalismusforschung, sondern auch eine fundierte empirische Untersuchung wider, die eine wertvolle Grundlage für zukünftige Arbeiten zur Erforschung der russischen Nationsbildung schafft.
Die Arbeit gliedert sich in fünf Teile: Nach der Einleitung werden im ersten Kapitel im Rahmen eines historischen Rückblicks die Schlüsselbegriffe der Nationalismusforschung am russischen Beispiel differenziert. Kapitel II untersucht die Verbindung von ,,Nation" und ,,Öffentlichkeit". Dabei wird zum einen auf die Träger, Medien und Geltungsbedingungen der Nation eingegangen. Zum anderen wird aber auch der Nationsdiskurs innerhalb der öffentlichen Deutung der Innen- und Außenpolitik vor dem Hintergrund der Krise nach dem Krimkrieg untersucht. Kapitel III und IV zeigen am Beispiel zweier Fallstudien zur ,,polnischen" und ,,deutschen Frage" Bedeutungsverschiebungen innerhalb der Konstruktion des russischen Nationalismus. Im Schlusskapitel erfolgt eine Zusammenfassung der wichtigsten Ergebnisse.
Zu den zentralen Befunden gehört, dass der moderne russische Nationalismus sich sowohl aus russländischen, reichspatriotischen Elementen als auch aus ethnisch russischen Vorstellungen von einer Sprach-, Religions- und Kulturnation zusammensetzte - ein Gegensatz, der die Nationsbildung der Russen bis heute prägt.
Neben der Hauptfragestellung nach der Entstehung des modernen russischen Nationalismus beinhaltet die vielschichtige Arbeit weitere interessante Deutungsebenen: Beispielsweise wird die wachsende Bedeutung der Öffentlichkeit im Zarenstaat, die nicht nur das ,,Netzwerk zur sprachlichen Verbreitung der Nation" sondern auch ,,ein externes Bedingungsgeflecht als Untersuchungsrahmen" darstellte, betrachtet. Durch die Analyse von bisher wenig erforschten Strukturelementen der sich nach dem Krimkrieg rasch entwickelnden Öffentlichkeit wird zum einen ein Beitrag zum Verständnis der kulturellen Vergesellschaftung von Bildungseliten geleistet. Zum anderen wird aber auch die ,Nation` als neue Leitvorstellung dieser Öffentlichkeit untersucht, mit der diese gegenüber dem Staat zunehmend Eigenständigkeit beanspruchte, wobei der Nationsdiskurs jedoch nicht im Gegensatz, sondern in engem Bezug zum Zarenstaat entstand. ,,Die Macht des Nationalismus war die Macht der Öffentlichkeit" - so ein weiteres zentrales Ergebnis der Untersuchung - einer Öffentlichkeit freilich, die in Russland im Vergleich zu Westeuropa eine sehr schwache Basis besaß, wie auch Renner feststellt: ,,Viel mehr als eine halbe Million Menschen waren es nicht im Russland der 1860er Jahre, zu deren Alltag die regelmäßige Lektüre von Texten gehörte."
Für die Konstruktion des Nationalismus innerhalb der verschiedenen Öffentlichkeitsarenen besaß nach Renners Ansicht die damalige Presse eine zentrale, überregional integrierende Bedeutung. Die maßgeblichen Presseorgane der Epoche bilden daher die wichtigste Quellengrundlage. Bedingt durch diesen quellenintensiven Ansatz liefert die Arbeit für den Untersuchungszeitraum zugleich wichtige Einblicke in die Wirkungs- und Sozialgeschichte der Presse im Zarenreich und trägt damit zum Schließen einer weiteren Forschungslücke bei.
Aus einsichtigen Gründen wird die Auswahl der Presseorgane mit wenigen Ausnahmen auf die hauptstädtische Presse beschränkt, die im Bezug auf den Nationsdiskurs die Meinungsführerschaft besaß. Die Einbeziehung von verschiedenen regionalen Pressepublikationen und anderen Quellengattungen, wie beispielsweise von kulturellen Symbolen, könnte Aufgabe nachfolgender Arbeiten sein. Einziger Kritikpunkt: Das Lesevergnügen wird teilweise geschmälert durch einen äußerst anspruchsvollen Schreibstil, der Möglichkeiten zur Vereinfachung böte.


Tanja Penter, Bochum


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