ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Tim Rees/Andrew Thorpe (Hrsg.), International Communism and the Communist International 1919 - 43, Manchester University Press, Manchester 1998, 323 S., brosch., 15,99 £.


Der vorliegende Sammelband geht auf eine Tagung an der Universität Exeter zurück, auf der der Forschungsstand diskutiert wurde, wie er sich mit den ersten Ergebnissen seit der (wenn auch nicht vollständigen) Öffnung des Archivs der Kommunistischen Internationale in Moskau seit 1992 darstellt. Mit einigen Ausnahmen hatten die Verfasser der Beiträge dort bereits gearbeitet und konnten somit auf eine eigene Auswertung der Quellen zurückgreifen. In der Einleitung geben die beiden Herausgeber einen gerafften Überblick über die Entwicklung der Komintern, führen die wichtigste neue Literatur auf und skizzieren den Aufbau des Sammelbandes. Die achtzehn Beiträge sind zu drei Themenblöcken zusammengefasst. Nur im ersten wurde versucht, sich auf die Ebene der Internationale zu konzentrieren, wogegen sich die beiden anderen mit Länderstudien befassen.
Noch vergleichsweise konventionell ist der erste Beitrag über die Zimmerwalder Bewegung während des Ersten Weltkriegs als unmittelbare Vorgeschichte der Komintern, in dem im Wesentlichen nur die bekannte Literatur aufgearbeitet wird. Dagegen verwenden die Autoren der zwei folgenden Artikel Materialien des Kominternarchivs und werten die seit Anfang der neunziger Jahre erschienenen Forschungsarbeiten aus. Kevin McDermott untersucht, wie sich die alten Fragestellungen - etwa nach dem politischen Einfluss Moskaus auf die einzelnen Parteien, die Rolle der Finanzierung, die Bedeutung des Terrors usw. - heute beantworten lassen. Dabei warnt er vor einer allzu großen Archivgläubigkeit in dem Sinne, dass sich die Historiographie jetzt darauf beschränken könne, ohne anderes Quellenmaterial auskommen zu müssen. Zugleich verweist er auf die Notwendigkeit, neue Fragestellungen - etwa nach der gesellschaftlichen Bedeutung oder der Mitgliedschaft - zu entwickeln. Peter Huber fügt einen im besten Sinne organisationsgeschichtlichen Überblick hinzu, indem er aufgrund einer minutiösen Auswertung der entsprechenden Akten detailliert die - extrem bürokratische, sehr häufig zur Multiplizierung der Gremien bei Bearbeitung desselben Problems neigende, also letztlich nicht besonders effektive - Struktur des Komintern-Apparates nachzeichnet. Er benennt die wichtigsten verantwortlichen Funktionäre, schildert die Verquickung mit dem Sicherheitsapparat der UdSSR und zeichnet vor allem die Folgen der stalinistischen Säuberungen für den Komintern-Apparat nach.
Der zweite Komplex umfasst Beiträge zu Europa. Sie behandeln die Parteien Großbritanniens, Frankreichs, Italiens, Deutschlands, Spaniens, Portugals, der Niederlande, Griechenlands und Jugoslawiens. Nur wenige dieser Länderstudien versuchen einen Längsschnitt durch die gesamte Entwicklung des jeweiligen Wechselverhältnisses mit der Internationale, der auch noch den ganzen Zeitraum der Komintern-Existenz umfasst. Bei den meisten handelt es sich um ,Mikrostudien'. Dafür wurde ein bestimmter Aspekt herausgesucht, sei es ein wegen der politisch-sozialen Verhältnisse besonders wichtiger Zeitabschnitt, sei es eine ganz besondere organisatorische Frage oder ein bestimmtes Einzelereignis.
Der dritte und abschließende Block umfasst in ähnlicher Weise Länderstudien, diesmal aber zu den ,,Amerikas" und zu Asien. Sie betreffen die USA, Kuba, China, Indien und Japan. Sieht man einmal von dem Beitrag zu den USA ab, der sich auf die Auseinandersetzung mit der bisherigen Forschungsliteratur konzentriert und die darin entwickelten kontroversen Interpretationen, die durch die Auswertung des Komintern-Archivs eine neue Belebung erfahren haben, nachzeichnet, wurden für die übrigen Beiträge Originalquellen ausgewertet. Dies betrifft nicht nur die Moskauer Archivmaterialien, sondern auch zahlreiche zeitgenössische Publikationen in Sprachen, die für viele Historiker nicht besonders zugänglich sind. So werden hier der Durchbruch der 1925 gegründeten KP in Kuba zu einer Massenpartei in der revolutionären Krise des Jahres 1933 und die Rolle der Shanghaier Parteiorganisation in der Aufstandsbewegung in der Stadt während der Jahre 1926/27 nachgezeichnet. Breiter angelegt sind die Beiträge zu Indien (über die Mobilisierung der Bauern) und zu Japan (über das Verhältnis zwischen der Partei und der Komintern).
Nicht alle Beiträge sind auf einem hohen quellengesättigten Niveau, einige lassen doch arg den ,,work in progress"-Charakter einer ersten Problemskizze erkennen. Auch werfen die fünfzehn Länderbeiträge leider fast ausnahmslos keinen Blick auf über die jeweiligen Länder hinausweisende Aspekte. Auf jeden Fall zeigt die vorhandene Unterschiedlichkeit der Argumente und Schlussfolgerungen, dass das neue Quellenmaterial nicht notwendigerweise zu einer Einheitlichkeit in der Bewertung all der Fragen führt, die von der Historiographie bisher schon an die Kominterngeschichte gerichtet wurden und zu zahlreichen Kontroversen führten. Sicherlich haben die zahlreichen Arbeiten seit der Archivöffnung die Einschätzung einer bereits sehr früh von der sowjetischen Führung unterworfenen Institution verstärkt. Das ganze Ausmaß ihrer Abhängigkeit, rekonstruiert aus den inneren Abläufen, und vor allem die Methoden zu ihrer Herstellung und Durchsetzung stellen sich jetzt noch düsterer dar, als das bisher nur zumeist aus öffentlichen Verlautbarungen und einigen Memoiren rekonstruiert werden konnte. Dies betrifft keineswegs nur den blutigen Höhepunkt der ,Säuberungen' ab 1936.
Dennoch liegt bekanntlich der Teufel im Detail, und hier ist noch viel Forschungsarbeit aufgrund der jetzt zur Verfügung stehenden Archivmaterialien zu leisten, um über vorhandene Alternativen, über Spielräume und Gründe für bestimmte Entwicklungen usw. Klarheit zu gewinnen. Darüber hinaus wird es jetzt auch möglich, die Forschung zu erweitern und an Fragen wie die nach der ,politischen Kultur' der Parteien, d. h. nach der Mentalität und den Verhaltensweisen der Mitgliedschaft unterhalb der zentralen Führungskader, auf einer ganz anderen, nämlich quellengesättigten Basis heranzugehen. Dies schlägt dann auch eine Brücke zum Verständnis der gesellschaftlichen Einbindung der Parteien, zu den von ihnen beeinflussten viel breiteren gesellschaftlichen Organisationen und darüber hinaus ihrer ,,Milieus", oder um, wie es die Herausgeber in ihrem Vorwort auszudrücken, ,,not just a Communist world, but also a world of communism" zu erforschen. Dafür liefert dieser Sammelband einige nützliche Bausteine.


Reiner Tosstorff, Frankfurt/Main


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