Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online
Dietrich Oberwittler, Von der Strafe zur Erziehung? Jugendkriminalpolitik in England und Deutschland, 1850-1920 (= Campus Forschung, Bd. 799), Campus Verlag, Frankfurt/Main 2000, 382 S., kart., 84 DM.
Die Krise der deutschen Jugendfürsorge im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts und die Frage nach ihren Ursachen haben in den vergangenen Jahren die Forschung intensiv beschäftigt. War die krisenhafte Entwicklung vor allem der Fürsorgeerziehung am Ende der Weimarer Republik mitsamt der Entdeckung der `Unerziehbaren', die der Ausmerzepraxis der Nationalsozialisten im Feld der Jugendfürsorge die Bahn frei machte, die Folge eines totalitären Potenzials, das gerade der modernen, reformorientierten Sozialpädagogik immanent war, wie Detlev Peukert behauptet hat? Oder war der Zusammenbruch der Fürsorgeerziehung, das in vielen Zöglingsrevolten offenbar werdende Scheitern einer Erziehungspraxis, ein Ergebnis von Modernisierungsdefiziten einer zusehends anachronistisch wirkenden Institution, wie jüngere Studien nachzuweisen suchten? Dietrich Oberwittler hat nun mit seinem Buch, das aus einer an der Universität Trier entstandenen Dissertation hervorgegangen ist, einen durchaus starken Beitrag zu dieser Debatte vorgelegt. Seine Analyse der allmählichen ,,Zurückdrängung des klassischen Strafrechts zugunsten wohlfahrtsstaatlicher Instrumente" im Feld der ,,staatlich organisierten Reaktionsformen auf kindliches und jugendliches Fehlverhalten" (S. 11) fügt dabei der emphatischen Parole der zeitgenössischen Reformer - eben jener These vom Weg von der Strafe zur Erziehung - mit Recht ein Fragezeichen hinzu. Eine `gerichtete Bewegung' ist seit der Mitte des 19. Jahrhunderts wohl erkennbar, aber Oberwittler präsentiert sie als Wechsel vom ,,Paradigma des Freiheitsentzuges zum Paradigma der Sozialarbeit" (S. 332) - und nähert sich so der skeptischen Einschätzung, die der Pädagoge Friedrich Wilhelm Foerster 1912 zu Protokoll gegeben hatte: dass der Schlachtruf ,,Erziehung statt Strafe [...] schon deshalb eine irreführende Parole" sei, ,,weil die Strafe selber der unentbehrliche Träger des generierenden Erziehungsprozesses ist" (S. 223).
Oberwittlers Einschätzung des Reformweges als ,,Verfeinerung der Methoden, mit denen soziale Kontrolle praktiziert wurde" (S. 339) bleibt freilich etwas plakativ, zumal die Praxis tatsächlicher `sozialer Kontrolle', auch im Erleben der Unterschichtjugendlichen, in seiner Analyse eindeutig zu kurz kommt. Die rechtspolitischen und fürsorgerischen Diskurse sind der privilegierte Gegenstand seiner Untersuchung; die hin und wieder gestreuten Hinweise auf die Möglichkeit einer gesellschaftsgeschichtlichen Deutung der Zusammenhänge zwischen Diskursen, Institutionen, Klientel und bürgerlicher Sozialreform, zwischen Reformern und Reformfeinden, versanden schnell: `Gesellschaft' bleibt zu oft Kulisse und wird zu selten Teil der Erklärung. Auch bleibt fraglich, ob der unzeitgenössische Begriff der ,,Jugendkriminalpolitik" für den Gegenstand der Studie glücklich gewählt ist - gerade die Spannweite der (deutschen) Fürsorgeerziehung als Antwort auf Kriminalität und - nicht strafbewehrte - Verwahrlosung wird damit nicht recht erfasst. Der Gewinn der Oberwittlerschen Arbeit aber liegt im Vergleich des deutschen und des englischen Entwicklungspfades. Dabei richtete sich das Augenmerk vor allem auf das Herausarbeiten der Abweichungen, auf die Unterschiede, die bisweilen fast überscharf pointiert werden. Ganz entscheidend in der Deutung ist dabei die Analyse von Rechtstraditionen und Mentalitäten: Der englische Weg zum allmählichen Sanktionsverzicht in der Behandlung jugendlicher Straftäter verlief (weit gehend) krisenfrei. Einige Umstände hatten diesen Weg erleichtert: die eher entspannten Klassenbeziehungen, die ausgebliebene Fundamentalopposition der Arbeiterbewegung, die geringe Pathologisierung jugendlicher Delinquenz in der öffentlichen Debatte und die traditionelle Offenheit der Bürokratie, die Karrieren auch vom linken Flügel der bürgerlichen Sozialreform zuließ. Den Ausschlag aber gab der Zuschnitt der Rechtskultur: Die Schwäche des klassischen liberalen Strafrechts und die Abwesenheit des Strafverfolgungszwanges gaben weiten Raum für Ermessensfreiheit, für geschmeidige `Übersetzung' von praxiserprobten Reformen in Gesetzgebung bis hin zur 1908 erfolgten gänzlichen Verdrängung der Gefängnisstrafe aus dem Sanktionskatalog für jugendliche Straftäter (unter 16 Jahren).
Ganz anders war die Situation in Deutschland: Die Herrschaft des Vergeltungsstrafrechts mit unbedingtem Strafverfolgungszwang engte den Gestaltungsspielraum in der Rechtsprechungspraxis erheblich ein und erschwerte den Weg einer Reform durch Gesetzgebung. Erst die Möglichkeit der Strafaussetzung durch das Instrument der ,,bedingten Begnadigung" (auf der Grundlage des landesherrlichen Gnadenrechts) und vollends das `Auswandern' der Behandlung delinquenter Jugendlicher in den zivilrechtlichen Rahmen des Vormundschaftsrechts - in die durch das Bürgerliche Gesetzbuch und die Landesgesetzgebung geregelte Fürsorgeerziehung - schaffte hier Bewegung. Gleichwohl war mit Letzterem nur eine Alternative geschaffen worden, und die nun etablierte ,,Zweigleisigkeit der Behandlung jugendlicher Delinquenten" hatte den ,,Nebeneffekt, den ohnehin starken Hang zum kompromisslosen Entweder-Oder zu verstärken und [...] die doktrinäre Unterscheidung von Strafe und Erziehung zu zementieren. Dass die Zwangserziehung im Zivilrecht verankert wurde und damit formal keine Strafe, sondern eine Maßregel war, bestärkte die Reformanhänger in dem Glauben, einen radikalen Bruch mit dem alten Strafparadigma vollzogen zu haben und nunmehr stets im besten Interesse der betroffenen Jugendlichen zu handeln; die Reformgegner bestärkte es wiederum in der Überzeugung, erzieherische Sanktionen seien ein Fremdkörper im Strafrecht" (S. 97). Solche Kompromisslosigkeit erlaubte wenig Selbstkritik und hatte einen nicht zu unterschätzenden Anteil an der verbreiteten Reformunfähigkeit in der deutschen Jugendfürsorge, die sich, wie Oberwittler zu Recht mehrfach hervorhebt, nicht erst in der Weimarer Republik findet, sondern schon in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg auffällig wurde. Die überwiegend von konfessionellen Wohlfahrtsverbänden getragenen Fürsorgeerziehungsanstalten hatten sich dauerhaft im `Bewährten' eingerichtet und hielten sich staatliche Eingriffe nach Möglichkeit vom Leib - ganz im Gegensatz zu den privaten Anstalten in England, die früh schon auf gesetzliche Regelungen gedrängt hatten, um ihre Position stabil zu halten, und damit den direkten, reformierenden Zugriff des Home Office in Kauf nehmen mussten.
Oberwittler überzeugt mit seinem Fazit, dass gerade der Vergleich der deutschen mit den englischen Zuständen keinen Anhalt für die Peukert-These von der `Immanenz' totalitärer Elemente im Ausgangsentwurf der Sozialpädagogik und einer tendenziellen Zwangsläufigkeit ihrer Entfaltung bietet. Der Ausschluss der `Unerziehbaren' aus der deutschen Jugendfürsorge am Ende der Weimarer Republik, die Negation des ,,Rechtes auf Erziehung", das im Reichsjugendwohlfahrtsgesetz von 1922 gewährleistet worden war, hatte seine Ursachen in einer Gemengelage unterschiedlicher Faktoren, die in Deutschland, nicht aber in England vorhanden waren: Nicht die modernen Versatzstücke in der deutschen Jugendfürsorge führten zu ihrer schweren Krise am Ende der Weimarer Republik, sondern die Anachronismen der Fürsorgeerziehung.
Marcus Gräser, Frankfurt am Main