ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Bernhard Lorentz, Industrieelite und Wirtschaftspolitik 1928-1950. Heinrich Dräger und das Drägerwerk, Verlag Ferdinand Schöningh, Paderborn etc. 2001, 403 S., geb., 58 DM.


,,Heinrich Dräger wurde am 2. Juli 1898 in Lübeck als Sohn des Eigentümerunternehmers Dr. Ing. h.c. Alexander Bernhard Dräger und seiner Frau Elfriede Dräger geboren." So lautet der erste Satz des ,Prolog` überschriebenen Kapitels, mit dem der Autor seine Biographie beginnt. Seine konventionelle Schlichtheit bildet einen merkwürdigen Kontrast zu der vorausgehenden Einleitung, in der auf 20 Seiten Begriffe wie ,komplexe Systeme`, ,intermediäre Strukturen`, ,Selbstorganisationsdynamik` und ,aktorzentrierte Perspektive` so selbstverständlich paradieren, wie sich das für eine Doktorarbeit gehört. Und auch in anderen Textpassagen mutet der Verfasser dem Leser Satzungetüme wie das folgende zu ,,Aufgrund der hohen Komplexität infolge der Ausdifferenziertheit der ökonomischen Zusammenhänge einer industriekapitalistischen Wirtschaft war eine außerordentlich hohe Kapazität zur Komplexitätsreduzierung notwendig, um die bestehenden Selbstorganisationsprinzipien zu ersetzen." (S. 242). Gewiss: Es gibt kein Gesetz, das den inflationären Gebrauch der Luhmann'schen Allerweltsformel von der ,Komplexitätsreduktion` verböte - aber muss man die Bürokratisierung, um die es in diesem Zusammenhang geht, auch noch in Satzbau und Wortwahl nachvollziehen?
Zu seinem und des Lesers Glück kann Lorentz aber auch menschenfreundlicher formulieren. Immerhin ist sein Buch - ,,vorliegende Darstellung" heißt es im Vorwort! - die ,,überarbeitete" Fassung seiner bei Ludolf Herbst an der Humboldt-Universität zu Berlin entstandenen Dissertation. Sie versteht sich als Ausdruck einer grundlegenden Umorientierung in der Unternehmensgeschichtsschreibung, als deren Folge nicht die Institutionen in den Mittelpunkt der Untersuchung rücken, sondern die kulturellen Faktoren und die individuelle Disposition wirtschaftlichen Handelns. Lorentz geht es um die einzelne Unternehmerpersönlichkeit ,,im Spannungsfeld von wirtschaftlichen Rahmenbedingungen und individuellen Strategien" und um die Frage nach unternehmerischen Handlungs- und Entscheidungsspielräumen (S. 25). Diese Verbindung von Unternehmensgeschichte, Unternehmerbiographie und Geschichte der Arbeitswelt ist dem Verfasser in jeder Hinsicht gelungen.
Heinrich Dräger - sein Lübecker mittelständisches Unternehmen wurde vor allem durch Atemschutzgeräte und Gasmasken weltbekannt - war ein ,politischer` Unternehmer. Seit den frühen 1930er Jahren gehörte er zu einem exklusiven Kreis von Industriellen, die im Zeichen der Weltwirtschaftskrise Alternativen zu der immer stärker drohenden Intervention des Staates in die Wirtschaft zu entwickeln versuchten. Diesem Zweck diente die 1931/32 von Dräger gegründete ,Studiengesellschaft für Geld und Kreditwirtschaft`, einer von vielen in dieser Zeit wie Pilze aus dem Boden schießenden Diskussionskreise. Aus diesem ,brain trust` der wirtschaftsbürgerlichen Elite entwickelte sich ein weit reichendes Netzwerk von Beziehungen, das die Kommunikation der Unternehmer mit den Regierungen, der Ministerialbürokratie sowie den Verbänden und Parteien ermöglichte. Einige Mitglieder der Studiengesellschaft machten im ,Dritten Reich` Karriere als wirtschaftspolitische Entscheidungsträger und Berater der nationalsozialistischen Funktionselite. Für Dräger war dieses Netzwerk enger Vertrauens- und Loyalitätsverhältnisse insofern von entscheidender Bedeutung, als es ihm in der Zeit des staatlich kontrollierten Nachrichtenmonopols einen gewissen Informationsvorsprung sicherte.
Drägers politisches Denken und Handeln kreiste um die Fragen, in welchem Maße eine kapitalistisch organisierte Marktwirtschaft gesteuert werden dürfe, und welche Auswirkungen staatliche Eingriffe auf Wirtschaft und Gesellschaft hätten. Zu diesen Fragen nahm der Lübecker Eigentümer-Unternehmer in der NS-Zeit eine durchaus ambivalente Stellung ein. Zunächst nutzte er nämlich die Vorteile des Staatsinterventionismus, um im Windschatten staatlicher Rüstungsaufträge moderne Fertigungskapazitäten aufzubauen. In den 1930er Jahren profitierte das Unternehmen von der Aufrüstung, die einen lukrativen Ersatz für die seit der Weltwirtschaftskrise schwachen internationalen Märkte bot. Kritik wurde erst laut, als vor allem in der zweiten Hälfte des Zweiten Weltkrieges die staatliche Intervention und damit die Bürokratisierung in einem so nicht gewünschten Maße zunahm. Zwar lehnte Dräger die rassistisch-imperialistischen Ziele der nationalsozialistischen Politik ab - aber eine Hoffnung für den aktiven Widerstand war er nie. In Parteimitgliedschaft, Übernahme von Funktionen in der Rüstungsbürokratie sowie in der Beschäftigung von Zwangsarbeitern und KZ-Häftlingen sah er die einzige Chance, die Verfügungsmacht über seine Produktionsmittel zu behalten, den Schaden für das Unternehmen zu begrenzen und dieses schließlich im bestmöglichen Zustand in die Nachkriegszeit zu retten. Ohne Antisemit zu sein, profitierte auch Dräger von der Arisierung, als er 1936 die Hamburger Gummiwarenfabrik Skara für den relativ niedrigen Preis von 140.000 Reichsmark von seinem jüdischen Eigentümer kaufte. Wenn es im Interesse seines Unternehmens lag, konnte Dräger sowohl Freunde und Geschäftspartner schützen als auch gleichzeitig Geschäfte abschließen, die erst durch die Verdrängung jüdischer Unternehmer möglich wurden. Diese widersprüchliche Verstrickung in die verbrecherischen Maßnahmen des NS-Staates erklärt Lorentz durch ein generationsspezifisches Verständnis von Verantwortung für das Unternehmen und ein tief greifendes Solidaritätsgefühl mit der kämpfenden Truppe. Drägers Verhalten sei durchaus typisch für große Teile der Industrieelite: Man versuchte, das Überleben und die Unabhängigkeit des eigenen Betriebs zu sichern, und man hoffte, durch die begrenzte Kooperation mit dem NS-Regime die kapitalistische Ordnung bewahren und nach dem Krieg zur marktgesteuerten Wirtschaftsordnung zurückkehren zu können.
Charakteristisch für eine bestimmte Tendenz nicht nur in der Unternehmensgeschichtsschreibung, sondern in der Erforschung des Nationalsozialismus überhaupt, sind die von Lorentz als ,zentral` erklärten Ergebnisse. Das individuelle Verhalten einzelner Unternehmerpersönlichkeiten habe ,,oft eine maßgebliche Rolle gespielt", schreibt er auf S. 183, und in der Schlussbetrachtung heißt es ganz in diesem Sinne, das Spannungsverhältnis zwischen den makroökonomischen Rahmenbedingungen der Umwelt und den unternehmerischen Entscheidungen hänge ,,wesentlich von der einzelnen Unternehmerpersönlichkeit bzw. der Fähigkeit des Managements" ab (S. 363). Die ,Unternehmerpersönlichkeit` Heinrich Dräger ist nicht nur auf dem Umschlagbild zu sehen, sondern auch auf einigen der 32 Abbildungen, u. a. mit Prominenten wie Ludwig Erhard und Helmut Schmidt. Die konkreten Akteure kehren zurück!


Volker Ackermann, Düsseldorf


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