ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Rainer Lindner, Historiker und Herrschaft. Nationsbildung und Geschichtspolitik in Weißrussland im 19. und 20. Jahrhundert (= Ordnungssysteme. Studien zur Ideengeschichte der Neuzeit, Bd. 5), R. Oldenbourg Verlag, München 1999, 536 S., geb., 98 DM.


Historiker beanspruchen allzu oft, sie schauten auf die geschichtliche Entwicklung des eigenen Staates und die eigene Gesellschaft mit großer Distanz und seien somit objektiv. Sie unterliegen damit in der Regel einem Irrtum, sind sie doch häufig mittendrin, wenn auch nicht immer an federführender Stelle. Moderne Nationen und Staaten benötigen für ihre Legitimation und Stabilität eine gemeinsame Vergangenheit und damit Historiker, die über diese Vergangenheit sprechen und schreiben. Die Staaten zogen sie deshalb in den Staatsdienst und versuchten sich so ihrer Loyalität zu versichern. Doch gab es in diesem Verhältnis große Unterschiede: Je nach dem Stadium und den Bedingungen der Nationsbildung und je nach berufsständischer Lage gestaltete sich das Verhältnis von 'Historiker und Herrschaft' unterschiedlich. Die jeweilige Gestalt dieses Verhältnisses sagt sehr viel über den inneren Zustand der jeweiligen Staaten und Gesellschaften aus.
Das exemplifiziert überzeugend die Studie von Rainer Lindner, eine überarbeitete Fassung einer an der Universität Konstanz eingereichten Dissertation. Am weißrussischen Fall untersucht er die Wechselbeziehungen zwischen Nationsbildung, historischer Selbstwahrnehmung und politischer Herrschaft vom ausgehenden Zarenreich, in dem die Weißrussen ohne jegliche besondere Form politischer Autonomie lebten, über die Sowjetperiode hindurch bis zum postsowjetischen Nationalstaat Belarus. Leitende Begriffe der Darstellung sind "Geschichtskultur" und "Geschichtspolitik", beide werden allerdings inhaltlich nicht näher bestimmt. Einleuchtend ist die Einbeziehung von Publizistik, Lehrbüchern, Museen u.a. neben der Historiographie. Es liegt somit keine rein historiographische Untersuchung vor, obwohl diese Perspektive dominiert. Auch der verschränkte chronologisch-thematische Aufbau vom ausgehenden Zarenreich (Kapitel 1) über den Stalinismus (1921-1944), die Nachkriegszeit, das Tauwetter (1944-1949, Kapitel 3) bis in die spät- und postsowjetische Zeit (Kapitel 4) ist logisch und stringent. Lindner sucht nach Kontinuitätslinien und Themen des weißrussischen Geschichtsbildes (S.23). Erstmals kann davon Ende des 19. Jahrhunderts im Kontext der Herausbildung einer nationalen Geschichtsschreibung die Rede sein, die sich ihren eigenen Platz gegenüber der polnischen und der russischen (bzw. "großrussischen") Geschichtsschreibung mühsam erkämpfen musste. Die nationalen "Initiativgruppen" der Weißrussen entwickelten sich aus einer Regionalhistoriographie heraus. Obwohl das weißrussisch-litauische Siedlungsgebiet als eine der wenigen großen Regionen des Zarenreiches bis 1917 ohne Universität blieb, entstand in Wilna in einigen gelehrten Vereinigungen eine Art weißrussischer 'Gelehrtennationalismus' (S.56). Das ostslawische Teilfürstentum Polack (9.-12. Jh.) wurde als Ausgangspunkt einer weißrussischen Staatlichkeit angesehen und mythologisch verklärt, der weißrussische Charakter des "weißrussisch-litauischen Großfürstentums" betont, die folgende Eroberung Polacks durch Ivan IV. dagegen genauso wie die folgende Polonisierung bedauert. Dieses Geschichtsbild war vor allem ein Feindbild, das gegen die Polen oder gegen die Russen gerichtet war (S.90). Lindner spricht sogar von einem "vorwissenschaftlichen Niveau" (S.117) der vorsowjetischen weißrussischen Historiographie, zumal sich auch die polnische und russische Historiographie kaum mit den Weißrussen beschäftigten. Eine Zäsur gab es nicht 1917, sondern erst Ende der 1920er Jahre (1927-1934). Bis dahin konkurrierten eine föderale, eine nationale und eine 'westrussische' (d.h. eher russisch-zentralistische) Geschichtsinterpretation miteinander. Die frühe Sowjetunion brachte der weißrussischen Historiographie zunächst eine starke institutionelle Aufwertung: 1921 wurde in Minsk eine Weißrussische Staatliche Universität und ein Institut für weißrussische Kultur (Inbelkul't) gegründet, aus dem 1929 die Weißrussische Akademie der Wissenschaften hervorging. Die institutionelle Aufwertung korrespondierte mit einem aus dem Zarenreich unbekannten starken Einfluss jeweiliger Konstellationen in Partei und Staat auf die Geschichtswissenschaft. Weißrussifizierung und Nationaldemokratismus konnten sich in diesem Rahmen bis etwa 1929 entfalten. Erstmals erschienen eine Reihe von Darstellungen und Quellenpublikationen zur Geschichte Weißrusslands. Ethnonationale Positionen wurden etwa in der Herausstellung einer besonders 'reinen' weißrussischen Ethnogenese, der Betonung der hohen Kultur der weißrussischen Eliten im Großfürstentum Litauen oder der Herausstellung einer westliche und östliche Einflüsse verbindenden besonderen weißrussischen Synthese geäußert. Nur einer der führenden weißrussischen Historiker aus dieser Zeit überlebte die Jahre der schlimmsten Stalinschen Säuberungen.
Das Ende des Zweiten Weltkriegs war in Weißrussland eine Stunde null und die folgenden Jahrzehnte eine wirtschaftliche Erfolgsgeschichte, die zu einer tief greifenden Umgestaltung der Sowjetrepublik von einer agrarisch zu einer urbanisierten Gesellschaft führte und es im gesamtsowjetischen Maßstab zu erstaunlichem Wohlstand gebracht hatte. Die Geschichtswissenschaft begann sich von Krieg und Besatzung sowie vom Terror der Jahre 1937/38 zu erholen und reagierte auf die "Einverleibung" der westweißrussischen Gebiete bzw. erstmalige Vereinigung der weißrussischen Siedlungsgebiete in einem politisch-staatlichen Gebilde. Die Schwierigkeiten einer ideologisch ,,richtigen" Gesamtdarstellung stellt Lindner am Beispiel der Fertigstellung einer neuen 'Geschichte der BSSR' dar, die eine antipolnische und prorussische Beziehungsgeschichte beinhaltete und zum Rückzug vieler Historiker in "unverbindliche Kleinprojekte" (S.332) führte. In der Dichotomie von nationalstaatlicher Orientierung und Sowjetpatriotismus sowie der Dominanz von Sowjetgeschichte und Parteigeschichtsforschung sieht er - wohl unbestreitbar - den Ausdruck einer großen "Politiknähe" (S.377). Die Geschichtswissenschaft weitete sich in den 1960er und 1970er Jahren personell deutlich aus, auch weil sich jetzt vielfältige Karrieremöglichkeiten boten. Das scheinbar stabile Geschichtsbild begann erst 1988 Risse zu bekommen, als das "Totschweigen der kulturellen und sprachlichen Traditionen Weißrusslands im erstarrten Breznevsystem" kritisiert wurde (S.390).
Der Zeitraum der eigentlichen Wiederentdeckung der Nationalgeschichte von 1988 bis 1994 fehlt merkwürdigerweise in der Darstellung. Aber Lindner diagnostiziert noch den neuen Rückgriff auf das sowjetische Geschichtsbild nach dem Amtsantritt von Präsident A. Lukaschenka im Jahre 1994. Am Ende sieht er ein gegenwärtig gespaltenes Geschichtsbild: nationales steht neben sowjetischem, Zugriffsversuche der Politik neben Versuchen, sich politischer Kontrolle zu entziehen, ohne dass dies als Beginn einer Emanzipation der Historiker und der historischen Wissenschaften von der Politik gewertet werden kann. Die stark auf die Gegenwart zielende Darstellung ist insgesamt überzeugend, wenn auch in den Wertungen nicht überraschend. Sie ist zwar nicht exemplarisch für die postsowjetischen Staaten, dafür sind etwa im Kaukasus oder in Mittelasien die Traditionen zu unterschiedlich. Sie ist aber auf jeden Fall ein wichtiger Bestandteil der von ihm selbst zu Recht eingeforderten Abkehr von der "Metropolen-Historiographie" (S.15).


Guido Hausmann, Köln


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