ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Teresa Kulawik, Wohlfahrtsstaat und Mutterschaft. Schweden und Deutschland 1870-1912, (= Politik der Geschlechterverhältnisse, Bd. 13), Campus Verlag, Frankfurt/Main, New York 1999, , 411 S., geb., 78 DM.


Teresa Kulawik rekonstruiert in ihrer Studie die Entstehung sozialpolitischer Regulierungen von Mutterschaft, wie sie einerseits als Arbeitsschutzbestimmungen und andererseits als finanzielle Unterstützungen für Wöchnerinnen vor dem Ersten Weltkrieg in Deutschland und Schweden eingeführt wurden.
Kulawik knüpft an die Theorien des historischen Institutionalismus und des Diskursmodells an. Sie entfaltet ein analytisches Konzept, das nicht nur politische Konstellationen berücksichtigt, sondern auch Kräfteverhältnisse und Deutungsmuster, die die Entstehung sozialpolitischer Maßnahmen beeinflussten. Auf diesem Hintergrund wird es ihr möglich, die zentrale Bedeutung einer Politik, die von einer mehr oder weniger ausgeprägten Akzeptanz der geschlechterspezifischen Ungleichheit ausging, für das Hervorbringen unterschiedlicher Wohlfahrtsstaatstypen in Schweden und Deutschland nachzuweisen. So entstand eine komparative Studie, die es erlaubt, die jeweils nationalen Politikmuster und ihre Wirkungen zu identifizieren.
Besonders erhellend erscheint die Berücksichtigung der Ebene der diskursiven Deutungsmuster bei der Analyse des Gehalts der politischen Entscheidungen; die in den beiden untersuchten Ländern erheblich differierten. Kulawik arbeitet heraus, dass in Deutschland der Sittlichkeitsdiskurs und naturwissenschaftlich-medizinische Deutungsmuster von Anfang an eine zentrale Rolle bei der frühen Arbeitsschutzgesetzgebung spielten, während der Sittlichkeitsdiskurs in Schweden eine marginale Rolle spielte, und der medizinische Diskurs dort erst nach der Jahrhundertwende bedeutsam wurde. Im Rahmen der Studie wird auch herausgearbeitet, dass Diskurse immer auch durch staatliche Regulierungen von Öffentlichkeit und durch main-stream-Debatten, z. B. innerhalb der Ärzteschaft, nicht unwesentlich beeinflusst wurden. Deutlich wird auch, dass das Verbot der politischen Betätigung für Frauen und der Ausschluss aus gymnasialer und universitärer Bildung sowie staatsdienstlichen Positionen in Deutschland nicht nur dazu führte, dass Frauen in ihrer Organisationsfähigkeit, am Erwerb von Bildung und der Teilnahme an gesellschaftlichen Positionen beschränkt wurden, sondern dass sie dadurch auch aus dem öffentlichen Diskurs ausgeschlossen blieben. Diese Schließungsprozesse blieben keinesfalls auf die bürgerlichen Frauen beschränkt. Auch die frühen Gewerkschaftsorganisationen wehrten sich dagegen, Frauen aufzunehmen. Sie sprachen sich immer wieder für ein Verbot der Frauenerwerbsarbeit aus, weil auch der ,,Arbeitsmann" - nach bürgerlichem Vorbild - die Frau im (eigenen) Haus sehen wollte.
Die Autorin kritisiert, dass die frühe Einengung der sozialen Frage auf die Arbeiterfrage in Deutschland dazu führte, dass die Debatte um sozialpolitische Maßnahmen auf die enge Arbeiterfrage bezogen blieb und sich so mehr an der Logik politischer Konflikte als an der Logik real existierender sozialer Probleme orientierte. Sie arbeitet heraus, dass in Schweden Arbeitsschutzgesetze zunächst nicht geschlechtsspezifisch erörtert wurden, während in Deutschland von Anbeginn der Forderungen besondere Arbeitsschutzmaßnahmen für Frauen gefordert wurden. Die geschlechtsspezifische Differenzierung wurde damit begründet, dass Männer kollektiv, mit Hilfe ihrer gewerkschaftlichen Organisationen, für die Verbesserung ihrer Arbeitsbedingungen kämpfen könnten, während Frauen als schutzbedürftige Personen dazu nicht in der Lage seien und es auch gar nicht wünschenswert erschien, dass sie sich als kollektive Subjekte konstituierten. Obendrein wurde ihnen das Unvermögen, sich zu organisieren, unterstellt, indem das herrschende Organisationsverbot verschwiegen wurde. Die besonderen Maßnahmen für Mütter wurden unter dem Ausschluss der politischen Beteiligung von Frauen verabschiedet und waren letztlich gegen die ökonomischen und politischen Rechte gerichtet, weil sie Frauen als Arbeitskräfte zweiter Klasse definierten, deren Hauptlebensinhalt außerhalb der Erwerbsarbeit lag. Die sich um die Jahrhundertwende formierende Frauenbewegung in Deutschland, konnte - so die Einschätzung der Autorin - die in den sozialpolitischen Regelungen angelegte Logik kaum mehr modifizieren. An dieser Stelle vermisst die Leserin allerdings eine Auseinandersetzung mit der Frauenbewegung, die bereits in mehrere Flügel gespalten war und durchaus kein einheitliches Interesse an der ökonomischen Selbständigkeit der Frauen formulierte.
Anschaulich wird mit der Studie herausgearbeitet, dass es nicht nur um eine hierarchische Platzierung von Männern und Frauen ging, sondern auch um die Lösung eines strukturellen Problems. Indem der Bereich der generativen Reproduktion von der Geld- und Warenökonomie ausgeschlossen wurde, wurden Kinder selbst zum Kostenfaktor, und Gebären und Erziehen behinderten die Möglichkeit der Beschaffung von eigenen Subsistenzmitteln. Hausarbeit wurde zur Pflicht und zur unbezahlt aus Liebe verrichteten Arbeit. Hier erfährt der Sittlichkeitsdiskurs eine Verschränkung mit dem naturwissenschaftlichen Diskurs. Dieser begründete die geschlechtsspezifischen Zuweisungen mit der natürlichen Bestimmung der Frau für diese Arbeit und rechtfertigte scheinbar zugleich die ökonomischen Folgen dieser Exklusion: Schließlich ging es um den Vollzug naturwissenschaftlicher Erkenntnisse. Geschlechtsspezifische Ungleichheiten wurden so (scheinbar) rational begründet. Dabei ging es weniger um Sorge und Hilfe für die nachkommende Generation als um die Aufrechterhaltung der ökonomischen Abhängigkeit der Mütter, ein Opfer, das die schwedischen Frauen - weder die Bürgerinnen noch die Sozialdemokratinnen - nicht bringen wollten.
Die Forderung nach besonderem weiblichem Arbeitsschutz führte schließlich dazu, dass es nicht mehr in erster Linie darum ging, die schädlichen Arbeitsbedingungen und Produktionsmethoden für alle Produzenten zu verändern, sondern die Arbeit der Frauen, insbesondere wenn sie Mütter waren oder wurden, zu regulieren und zu beschränken. Da aber auch der Sittlichkeitsdiskurs eine Rolle spielte, wurde immer wieder diskutiert, ledige Mütter aus den potentiellen Maßnahmen auszuschließen. Ein Diskurs, der innerhalb der Frauenbewegung zu heftigen Auseinandersetzungen führte, die allerdings von der Autorin nur angedeutet werden.
In Schweden, so wird es aus der Studie deutlich, gab es dagegen zunächst keine geschlechtsspezifischen Unterscheidungen bezüglich der Auswirkungen der industriellen Arbeit. Sie wurden - ebenso wie eine spezifische Mutterschaftspolitik - erst um die Jahrhundertwende relevant und führten dann auch dort zur Partikularisierung des Arbeitsschutzes. Es war vor allem die schwedische Frauenbewegung, die Arbeitsschutzbestimmungen für Frauen - abgesehen von Arbeitsverboten für Wöchnerinnen - ablehnte. Als beispielhaft dafür ist die enorme Mobilisierung gegen das Nachtarbeitsverbot zu nennen, in der bürgerliche und sozialdemokratische Frauenbewegungen zusammenarbeiteten. Ihnen war bewusst, dass besondere Frauenarbeitsschutzbestimmungen immer dazu führten, die geschlechterspezifische Ungleichheit in der Erwerbsarbeit zu fördern. Später waren es die Forderungen der Liberalen, die die Formulierung geschlechtsspezifischer Maßnahmen gegen die sozialdemokratischen Forderungen nach einem Achtstundentag für alle setzten und schließlich die Mutterschaftsversicherung als gesetzliche Minimallösung durchsetzten. Anhand der schwedischen Debatte um die Mutterschaftsversicherung macht die Autorin die Unmöglichkeit der Verortung von Mütterarbeit in den Institutionen der Marktgesellschaft und der an ihnen ausgerichteten modernen Sozial(Versicherungs)Politik deutlich. Mutterschaft, so die Argumentation, sei eben kein versicherbares Risiko, weil sie - indem etwas geschaffen wird - keinen Schaden produziere, auch wenn sie unter den Bedingungen der Marktwirtschaft als Beeinträchtigung der Erwerbsarbeit erscheint. Sie ist also wertvoll, hat aber keinen Marktwert. Und da die ,,Schädigung" nicht am Markt verursacht wurde, wollten die Arbeitgeber sie nicht zu ihrer Angelegenheit, sondern zur Angelegenheit des Staates machen, während die Frauen in Schweden sie von Anfang an als Geschlechterfrage institutionalisieren wollten. Dieses Vorhaben scheiterte, da die entsprechende Solidarität nicht entstehen konnte.
Bei den meisten Veröffentlichungen zur Geschichte der Sozialversicherung - außerhalb der historischen Frauenforschung - fällt eine weit gehende Geschlechterblindheit auf. Mutterschaftspolitische Leistungen werden allenfalls im Zusammenhang mit familienpolitischen Leistungen berücksichtigt, ihre geschlechterdiskriminierende Wirkung bleibt undiskutiert. Mit dieser Leerstelle räumt Kulawik auf. Sie zeigt eindeutig, dass Sozialpolitik seit ihrer Entstehung einen geschlechterspezifischen Bias hat.
Deutlich wird, dass mit der Konstruktion der Mütterlichkeit auf der Basis der Ungleichheit zwischen den Geschlechtern während der Gründungsphase der Wohlfahrtsstaaten Weichenstellungen vorgenommen wurden, die bis heute nachwirken. Beinahe hundert Jahre später sind zwar die medizinisch-hygienischen Forderungen der Mutterschutzbewegung weit gehend erfüllt. Die konkrete Utopie der linken feministischen Bewegung, die darauf abzielt, Strukturen zu schaffen, die geeignet sind, Frauen, auch wenn sie Mütter sind, einen ebenbürtigen Zugang zur existenzsichernden Erwerbsarbeit zu ermöglichen und Männer, die Väter sind, für die Teilhabe an den Reproduktionsarbeiten zu gewinnen, sind noch lange nicht eingelöst.
Insgesamt ist dies ein wichtiges Buch, das deutlich macht, dass Mutterschaft im Wohlfahrtsstaat sowohl Ausschluss als auch Inklusion bedeuten kann. Die komparative Forschung erweist sich als sinnvoll, weil es sich bei den Ländern Schweden und Deutschland um zwei Länder handelt, die sozialhistorisch viele Gemeinsamkeiten aufweisen: späte und schnelle Industrialisierung, starker Staat, schwaches Bürgertum und frühe Mobilisierung der Arbeiterbewegung. Unterschiede in geschlechterspezifischer Hinsicht ergeben sich besonders aus der starken Betonung des Ernährermodells in Deutschland und eines schwachen Ernährermodells in Schweden. Das wird in der Studie herausgearbeitet. Offen bleibt, warum gerade in Deutschland (bis heute) ein so vehementes Interesse an der Aufrechterhaltung der bürgerlichen Kleinfamilie mit ,,Haupternährer" und Hausfrau bzw. ,,Zuverdienerin" besteht. Schließlich hat sich dieses Modell - wenn auch auf Kosten der Frauen - als billigste Einrichtung zur Versorgung von Kindern, Pflegebedürftigen und alten Menschen erwiesen und Staat und Kommunen die Bereitstellung von kostenaufwendiger, sozialer, pflegerischer und pädagogischer Infrastruktur erspart.
Die historische Rekonstruktion des Diskurses um Wohlfahrtsstaat und Mutterschaft, wie sie mit dieser Studie vorgenommen worden ist, zeichnet das Buch aus, weil anhand der geschichtlichen Entwicklung die Abhängigkeit des Mutterschaftsdiskurses von den jeweiligen gesellschaftlichen Tendenzen und politischen, ökonomischen und sittlichen Diskursen nachgezeichnet werden kann. Wenn es durch die Lektüre gelingt, aktuelle politische Tendenzen zu einer Rekonstruktion von Mütterlichkeit anhand nicht genutzter Handlungsspielräume der Vergangenheit kritisch zu beleuchten und daraus Schlüsse für die Zukunft zu ziehen, so kann die Studie einen Beitrag dazu leisten, ein Denken in Zusammenhängen zu fordern, das gleichzeitig historisch und zukunftsgerichtet vorgeht.
Das Buch ist für die theoretisch und praktisch mit diesem Thema Befassten nützlich, für die zuletzt genannte Bezugsgruppe leider in Bezug auf Seitenzahl und Abstraktionsgrad etwas sperrig.


Gisela Notz, Bonn


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