ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Gerd Krämer, "Bollwerk der Sozialisten des Nordens". Die Anfänge der Altonaer Arbeiterbewegung bis 1875, Verlag Dölling und Galitz, Hamburg 1997, 302 S., brosch., 58 DM.


Gerd Krämer hat mit seiner Dissertation über die Anfänge der Arbeiterbewegung in Altona eine ebenso unprätenziöse wie informative Dissertation verfasst, die durch ihr erfreulich kompaktes Format auf sich aufmerksam macht. Angesichts von sozialgeschichtlichen Arbeiten, die oft genug bereits durch ihr reines Gewicht die Gemüter wie die Aufnahmefähigkeit des interessierten Publikums zu beschweren vermögen, ist dieser Umstand ausgesprochen begrüßenswert. Gerd Krämer gelingt dieses Unterfangen, indem er seinen Gegenstand präzise umgrenzt, die Arbeit stringent strukturiert und Redundanzen jeglicher Art vermeidet.
Das Thema seiner Untersuchung ist die Arbeiterbewegung in Altona von ihren Anfängen bis 1875. Altona, seit 1937 ein Stadtteil Hamburgs, gehörte während des Untersuchungszeitraums anfänglich noch zum dänischen Staatsverband, stand dann unter österreichischer Verwaltung, bis die Stadt nach 1866 in die nun preußische Provinz Schleswig-Holstein eingegliedert wurde. Krämer orientiert sich in seiner Darstellung jedoch nicht an solchen politischen Zäsuren, sondern folgt - und das ist plausibel - den gängigen Periodisierungen der Arbeiterbewegungsgeschichte. Er legt den Beginn des Untersuchungszeitraums auf die Entstehung der ersten Unterstützungskassen und Bildungsvereine, widmet sich dann der Arbeiterverbrüderung während der Revolution von 1848 und beendet seine Darstellung mit der Vereinigung von "Eisenachern" und "Lassalleanern" 1875. Die Geschichte der Altonaer Gemeinde des ADAV von 1863 bis zur Vereinigung mit der SDAP bildet dabei den Kern des Buches, auf den etwa zwei Drittel des Umfangs entfallen. Methodisch orientiert sich Krämer nach eigener Auskunft an einem lokalgeschichtlichem Zugang und nennt als Referenzen Arbeiten von Hartmut Zwahr oder Adelheid von Saldern, die Modelle der proletarischen Klassen- wie Milieubildung in urbanen und ländlichen Räumen vorgestellt haben. Ebensowenig fehlt der unvermeidliche Verweis auf einen in Anlehnung an E. P. Thompson erfahrungsgeschichtlich erweiterten Klassenbegriff.
Gerd Krämer beginnt seine Untersuchung mit einem Abriss der wirtschaftlichen Entwicklung und des Prozesses der Urbanisierung in Altona zwischen 1800 und 1880. Als bedeutsam erweist sich hier vor allem die Nähe zur Nachbarstadt Hamburg. Altona entwickelte sich in diesen Jahren zwar zur größten Stadt Holsteins mit einem sehr hohen Anteil von Lohnabhängigen unter den Einwohnern, die Stadt blieb aber vor allem Wohnort von Arbeitern, die in Hamburg oder Ottensen Erwerbsmöglichkeiten fanden. Zu einer eigenständigen industriellen Entwicklung kam es hier nicht. In Altona konzentrierten sich vor allem Kleinhandel und Kleingewerbe, Betriebe des Bekleidungsgewerbes und der Tabakverarbeitung (S. 45). Eine Ursache dieser eher verhalten verlaufenden Industrialisierung war der Umstand, dass die Stadt unter der dänischen Gewerbepolitik litt, die Altona zum Teil aus dem dänischen Zollverband ausgliederte. Auch nach der Annexion Schleswig-Holsteins durch Preußen wurde die Stadt aber nicht in einen größeren Wirtschaftsraum - nun des deutschen Zollgebietes - eingebunden, sondern blieb wegen ihres bescheidenden Freihafens bis 1889 für das Deutsche Reich Zollausland.
Die Arbeiterbewegung in Altona begann vor 1848 - wie anderenorts - ,sich mit der Einrichtung von Hilfs- und Unterstützungskassen zu formieren. Zur Zeit der 48er Revolution kam es auch hier zur Gründung erst von (Arbeiter-) Bildungs-, dann von Volksvereinen, die sich jedoch in Schleswig Holstein nicht allein der "sozialen", sondern immer auch der "nationalen" Frage widmeten. An einem lokalen Komitee der Arbeiterverbrüderung, das den Prozess der Emanzipation von bürgerlichen Parteiungen am weitesten vorantrieb, beteiligten sich überdies einige Mitglieder aus dem "Bund der Kommunisten" (S. 63). Insgesamt genügten diese Ansätze jedoch nicht, um über die Reaktionszeit der 1850er Jahre eine organisatorische Kontinuität der Arbeiterbewegung herzustellen, die Ansätze von 1848 mit den Gruppierungen in den 1860er Jahren verbunden hätte.
Erst mit der Gründung einer ADAV-Gemeinde in Altona 1864 kann von einem "Neuanfang der organisierten Arbeiterbewegung gesprochen werden."(S. 87) Krämer beschreibt sehr anschaulich, wie diese Anfänge zunächst von der Position in der Schleswig-Holstein-Frage überschattet waren. Aber bereits die Wahlen im Norddeutschen Bund 1867 boten dann die Möglichkeit, nun die soziale Frage durch eine Organisation der Arbeiterbewegung zum Gegenstand der politischen Auseinandersetzung zu machen. Das Wahlergebnis des ADAV in Altona kann jedoch nur als enttäuschend bezeichnet werden, was nicht zuletzt darauf zurückzuführen ist, dass die örtliche Gemeinde durch zahlreiche Streitigkeiten und Flügelkämpfe völlig zerrüttet war. Trotz dieses schlechten Abschneidens gelang es aber, die Altonaer Gemeinde des ADAV zu reorganisieren. Die ersten Mitglieder des ADAV, die vorwiegend unter Handwerkern rekrutiert wurden, betrieben eine zumindest teilweise erfolgreiche Agitation unter den Hafen- und Fabrikarbeitern. Erfolge zeigten sich bereits bei den Reichstagswahlen 1871, als der ADAV-Kandidat erst in der Stichwahl unterlag. In den nächsten Jahre verstärkte man die Bemühungen, auch unter den Landarbeitern in Holstein Anhänger zu erreichen, sodass schließlich 1874 der Wahlkreis Altona/Stormarn vom ADAV gewonnen wurde.
Ein zentraler Aspekt innerhalb der Programmatik des ADAV war die Erlangung des allgemeinen Wahlrechtes. Insofern ist es plausibel, dass Krämer vor allem auf die Wahlkämpfe eingeht, die ohne Zweifel für die Bildung der "Klasse für sich" von großer Bedeutung waren. Streckenweise gerät ihm die Darstellung dadurch etwas organisationslastig. Umso interessanter sind die Passagen, in denen er Einblicke in das Innenleben des ADAV gewährt. Dazu gehört einerseits die Schilderung der zahlreichen Fraktionskämpfe, andererseits aber auch die Beschreibung des Vereins- und Gemeinschaftslebens. So widmet sich Krämer den örtlichen Ausprägungen des Lassalle-Kultes, zeigt die zwiespältige Haltung des ADAV zur Frauenfrage auf und zeichnet ein differenziertes Bild von den Aktivitäten auf Volksfesten, Feiern und Versammlungen, durch die das Konzept der "Großen Familie", dem sich der ADAV verschrieben hatte, verwirklicht werden sollte.
Auch wenn die Darstellung dieser "alltäglichen" Belange bisweilen etwas knapp gerät, so ist Krämer trotz ungünstiger Quellenlage eine gut lesbare, informative Arbeit über die Anfänge der Arbeiterbewegung in Altona gelungen, in der er nicht nur den ADAV, sondern auch einige der Personen vorstellt, die die frühe Arbeiterbewegung in Altona getragen haben. Da Altona zu den ersten Wahlkreisen gehörte, in denen ein sozialdemokratischer Mandatsträger gewählt wurde, ist Krämers Arbeit in jeder Hinsicht auch überregional von Interesse - sie bietet Material und Anstöße für vielfältige Formen des Vergleiches.


Thomas Siemon, Wilhelmshaven


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