Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online
Manfred Kittel, Provinz zwischen Reich und Republik. Politische Mentalitäten in Deutschland und Frankreich, 1918-1933/36, R. Oldenbourg Verlag, München 2000, 854 S., geb., 168 DM.
Mit ,,Provinz zwischen Reich und Republik", einer überarbeiteten Fassung seiner 1999 in Regensburg eingereichten Habilitationsschrift, ist Manfred Kittel eine äußerst dichte, präzise und vielschichtige Doppelstudie zweier ländlicher Provinzregionen in Deutschland und Frankreich gelungen. Die Grundspannung und -struktur des Buches wird dabei durch die Auswahl der beiden Untersuchungsregionen bestimmt: Westmittelfranken und die französische Corrèze am Westabhang des Zentralmassivs zeichnen sich zwar durch eine vergleichbare Wirtschafts- und Sozialstruktur aus - beide Gegenden sind weit von den jeweiligen nationalen (Berlin/München bzw. Paris) oder sogar regionalen (Limoges bzw. Nürnberg) Zentren entfernt, sind weitestgehend kleinbäuerlich strukturiert und gehören im nationalen Rahmen zu den ärmeren Regionen -, unterscheiden sich aber grundlegend in ihrer politischen Orientierung. Während in der Corrèze (wie im gesamten Limousin) schon seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Republik und der demokratisch-liberale Republikanismus, der sich seit der Jahrhundertwende im ,,parti radical" organisierte, Fuß fassen konnte, dominierte in Westmittelfranken seit der Reichsgründung ein nationalprotestantisch geprägter Liberalkonservativismus, der seine politische Heimat zunächst im Nationalliberalismus, nach 1918 dann in der DNVP fand. In beiden Regionen kam es zu einer engen Symbiose zwischen dem bäuerlichen Sozialmilieu und diesen dominierenden politischen Orientierungen, erkennbar etwa an Doppelfunktionen führender Politiker in Parteien und Bauernverbänden; sie erklärt die frappierende Dauerhaftigkeit dieser Strukturen, an denen sich bis 1930 kaum etwas ändern sollte. Eine entscheidende Rolle für Entstehung und Stabilität dieser ,,sozialmoralischen Milieus" spielte die konfessionelle Prägung der beiden Regionen: Während im theologisch konservativen und orthodox lutherischen protestantischen Westmittelfranken die konfessionelle Frontstellung gegenüber dem katholischen (Alt-)Bayern dominant blieb, zählte die Corrèze zu denjenigen Gebieten Frankreichs, in denen das antiklerikal-laizistische Lager im 19. Jahrhundert die Oberhand gewonnen hatte und sich nun zentral durch sein Festhalten an der laizistischen Gesetzgebung und der strikten Gegnerschaft zur katholischen Kirche und allen (echten oder imaginierten) ,,klerikalen" Tendenzen definierte. Kam hier dem protestantische Dorfpfarrer die entscheidende Orientierungsfunktion für das bäuerliche Sozialmilieu zu, so nahm dort der laizistische Dorfschullehrer (,,instituteur") diese Rolle ein.
Kittels in der Einleitung formulierter Anspruch, ,,dichte Beschreibung" und ,,distanzierende Analyse", Politik- und Kulturgeschichte, Personen- und Kulturgeschichte sowie makro- und mikrohistorischen Zugriff zusammenführen zu wollen, wird dabei in glänzender Weise eingelöst. Gewiss, bei über 750 Textseiten muss die Frage erlaubt sein, ob nicht eine Straffung des Textes möglich gewesen wäre, und in der Tat hätte wohl die eine oder andere Wahlkontroverse, die eine oder andere Propaganda(schmutz)schlacht weniger ausführlich und zitatverliebt dargestellt werden können. Dennoch ist die lokale oder regionale Perspektive hier nie Selbstzweck, sondern sie bleibt immer eingebunden in übergreifende Fragestellungen und kontrolliert durch aus der makrohistorischen Perspektive gewonnenes Problembewusstsein. So kommen die Vorteile einer bewussten Eingrenzung des Untersuchungsgebietes in Kittels Darstellung voll zum Tragen: Sie ist ausgesprochen plastisch und lebensgesättigt, geht auch skurrilen Details nicht aus dem Wege und kann eine Tiefenschärfe erreichen, die breiter angelegten Studien in dieser Form nie möglich wäre.
Für die Herleitung der dominanten ,,Milieumentalitäten" - ,,nationalprotestantisches Milieu" hier, ,,republikanisch-laizisitisches Milieu" dort - greift Kittel weit ins 19. Jahrhundert zurück und analysiert ausführlich die Hinwendung der Bauern des Limousin zum Republikanismus und die unter dem Zeichen von Reichsgründung und Re-Konfessionalisierung zustande gekommene konservative Wende der ursprünglich liberalen protestantischen Bauern Westmittelfrankens. In fünf groß angelegten Kapiteln wird anschließend die Entwicklung in der Zwischenkriegszeit untersucht, wobei jeweils im engeren Sinne politische Analysen mit eher strukturell angelegten Überlegungen zur Entwicklung der Mentalitäten und der Stabilität des ,,Milieus" abwechseln. Kittel kann zeigen, dass die Verwerfungen, die der Erste Weltkrieg zeitigte, nur oberflächlicher Natur waren: Die Erfolge des konservativen ,,bloc national" in Frankreich wie diejenigen der Demokraten in Deutschland waren vorübergehend; schon etwa 1920 gelang es den bisher dominierenden Kräften, die alten Verhältnisse wiederherzustellen. Hier wie dort hatten ,,Außenseiter" nur dann eine Chance auf politischen Erfolg, wenn es ihnen gelang, sich mit den milieuspezifischen Mentalitäten zu arrangieren und somit nicht mehr als ,,milieufremd" wahrgenommen zu werden. Dies galt in der Corrèze für Sozialisten (und später Kommunisten), die Erfolge dann erzielen konnten, wenn sie sich als die ,,besseren" Republikaner und Laizisten darstellen und das eigene Programm als konsequente Verwirklichung (oder logische Folge) der republikanischen Ideale stilisieren konnten. In Westmittelfranken galt Ähnliches für die verschiedenen Gruppierungen und Strömungen, die seit der Jahrhundertwende unter dem Begriff des ,,Völkischen" zusammengefasst wurden. Es gehört zu den Verdiensten Kittels, gezeigt zu haben, wie offen das ,,nationalprotestantische Milieu" der fränkischen Bauern nach rechts war, sodass es schon 1923/24 zu einer kurzen Blüte der ,,völkischen" Bewegung in der Region kommen konnte. So war es kaum überraschend, dass in Westmittelfranken die NSDAP schließlich selbst die Rolle der ,,nationalprotestantischen Milieupartei" übernehmen konnte, als die bisherigen Inhaber dieser Rolle sich in internen Lagerkämpfen selbst ins politische Abseits manövriert hatten. Überzeugend kann Kittel nachweisen, dass die so unterschiedlichen Reaktionen der limousinischen und der fränkischen Bauern auf die Krise der 1930er Jahre (die hier nur zum geringeren Teil eine Folge der Weltwirtschaftskrise war) tief in der Geschichte beider Regionen angelegt und keinesfalls als ein Kontinuitätsbruch angesehen wurde bzw. angesehen werden kann.
Kittels ausgesprochen gut lesbare Studie ist auf gleich bleibend hohem stilistischen und methodologischem Niveau geschrieben; Bibliographie und Anmerkungsapparat verraten eine stupende Belesenheit des Autors, vor der man nur den Hut ziehen kann. Zweifelhaft bleibt dem Rezensenten aber, ob die Untersuchung tatsächlich so viel zu einem Vergleich der allgemeinen Entstehungsbedingungen von Volksfront und NS-Staat in Frankreich und Deutschland beitragen kann, wie es der Autor in Einleitung und Schlusskapitel glaubt. Kittel selbst ist das Problem der fehlenden Repräsentativität der von ihm untersuchten Regionen bewusst: Nicht in allen ländlichen Gegenden Deutschlands dominierte das nationalprotestantische Milieu auch nur annähernd so sehr wie in Westmittelfranken, und auch die Dominanz der demokratisch-laizistischen Republik war in der französischen Provinz nicht überall so ausgeprägt und unangefochten wie in der Corrèze. Dennoch finden sich (der Titel des Buches ist das beste Beispiel) immer wieder Passagen, die das Gegenteil suggerieren und aus der kontrastierenden Untersuchung zweier Regionen Schlüsse auf die politische Mentalität der ganzen Nation zu ziehen versuchen (so z. B. S. 748). Im Grunde, so scheint es, ist Kittel hier ein Opfer seines eigenen ,,Versuchsaufbaus": Hatte er doch bewusst zwei Regionen gesucht, deren politische Kulturen möglichst weit auseinander liegen sollten. Weshalb diese Auswahl (in Anlehnung an die ,,Differenzmethode" John Stuart Mills) den ,,meisten Erkenntnisgewinn" versprach, ist dem Rezensenten nicht recht verständlich geworden. Dass 1933 bzw. 1936 Westmittelfranken und die Corrèze die Flucht nach rechts bzw. nach links angetreten haben, kann im Grunde nicht überraschen: Die Anfälligkeit des Nationalprotestantismus für die NS-Ideologie war ebenso bekannt wie die relative Immunität des französischen Radikalismus für faschistisches Denken. Weiter führend ist Kittels Untersuchung in der Frage, wie die Infiltration des Nationalsozialismus in das zuvor so stabile Milieu des Nationalprotestantismus im ganz konkreten Fall vor sich gehen konnte, und wie sich die republikanischen Bauern der Corrèze vor der faschistischen Bedrohung zu schützen vermochten. Dies ist in beiden Fällen noch nie so überzeugend und so detailgenau dargestellt worden wie im vorliegenden Buch.
Daniel Mollenhauer, Erfurt