Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online
Martin Kirsch/Pierangelo Schiera (Hrsg.), Denken und Umsetzung des Konstitutionalismus in Deutschland und anderen europäischen Ländern in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, Verlag Duncker & Humblot, Berlin 1999, 272 S., geb., 148 DM.
Die Geschichte des deutschen Konstitutionalismus erfreute sich in den letzten drei Jahrzehnten zweifellos einer besonderen Aufmerksamkeit der historischen Forschung. Trotz umfassender und wegweisender Studien zur preußischen Verfassungsfrage, zum süddeutschen Konstitutionalismus oder zur Geschichte des Reichstages bietet die deutsche Verfassungsgeschichte des 19. Jahrhunderts aber noch immer vielfältige Perspektiven für neue Untersuchungen. Dies unterstreicht der vorliegende Band, der auf eine internationale Tagung vom Mai 1997 zurückgeht. Im ersten Teil enthält er Beiträge zur Entwicklung des deutschen Konstitutionalismus bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts. Mit den Beiträgen des zweiten Teils - »Konstitutionalismus in Europa - Vergleiche und Perspektiven« - wird versucht, der bislang noch zu wenig betriebenen vergleichenden verfassungshistorischen Forschung Impulse zu geben. Auch wenn zahlreiche Beiträge der allesamt bestens ausgewiesenen Autoren noch einmal die Ergebnisse bereits vorliegender umfassender Untersuchungen zusammenfassend präsentieren, ist der Band für die weitere Beschäftigung mit der Verfassungsgeschichte des frühen 19. Jahrhunderts in mehrfacher Hinsicht außerordentlich nützlich. Er gibt gerade durch die in der Einleitung referierte Tagungsdiskussion einen guten Einblick in den Stand der Forschung, unterstreicht vor allem im zweiten Teil die Chancen einer durch sozial- und kulturgeschichtliche Ansätze erweiterten Verfassungsgeschichte und lenkt den Blick auf die vielfältigen Wechselwirkungen zwischen den verfassungspolitischen Entwicklungen der europäischen Staaten.
Zu den im ersten Teil besonders intensiv diskutierten Fragen gehört die Problematik von Kontinuität und Diskontinuität in der Geschichte des frühen deutschen Konstitutionalismus. In mehreren Beiträgen wird danach gefragt, welche Zusammenhänge zwischen dem Konstitutionalismus des 19. Jahrhunderts einerseits und dem frühneuzeitlichen Staatsbildungsprozess, den ihn begleitenden politischen Theorien, den Reichsreformdebatten und dem frühneuzeitlichen Kommunalismus bestanden. Der Mitherausgeber A. Schiera skizziert den »Verfassungsbedarf«, der aus dem Staatsbildungsprozess durch die Kombination von Gewaltenteilung, Wohlfahrtsfunktionen des Staates, der auf den Schutz des Staates gerichteten Staatsraisonlehre sowie dem »Autonomierungsprozess des Politischen« entstand. W. Burgdorf analysiert die Wahlkapitulationsdiskussion der 1790er Jahre und weist nach, dass es im ausgehenden 18. Jahrhundert auch im Reich zu einem Umbruch im Verfassungsverständnis kam, der weit reichende Reformentwürfe zur Reichsverfassung hervorbrachte und sowohl in ideeller als auch in personeller Hinsicht wichtige Brücken zum deutschen Konstitutionalismus des frühen 19. Jahrhunderts schuf. Auch H. Boldt fragt in seinem Beitrag »Bundesstaat oder Staatenbund« nach den Kontinuitäten zwischen Reichsreformdebatten und der politischen Ordnung Deutschlands im 19. Jahrhundert. Er weist in diesem Zusammenhang die Thesen Angermeiers zurück, dass die staatenbündische Lösung des 1815 geschaffenen Deutschen Bundes bereits in der Entwicklung des Alten Reiches angelegt gewesen sei, betrachtet dabei das Entwicklungspotenzial des Deutschen Bundes außerordentlich kritisch und wirft schließlich die diskussionswürdige Frage auf, ob Deutschland nicht erst durch die staatenbündische Ordnung des frühen 19. Jahrhunderts zur »verspäteten Nation« geworden sei. In den übrigen Beiträgen des ersten Teils stehen vor allem einzelstaatliche Aspekte des Frühkonstituionalismus im Mittelpunkt. H. Brandt fasst die Ergebnisse seiner Pionierstudie zum württembergischen Parlamentarismus zusammen, unterstreicht dabei die neuen politischen Handlungsbedingungen seit Beginn des 19. Jahrhunderts, zeigt die Sackgassen der altrechtlichen Alternativen und betont die Modernität der württembergischen Verfassung, die vor allem seit 1830 in der Verfassungswirklichkeit immer stärker hervortreten sollte. P. Nolte untersucht das Verhältnis von Kommunalverfassung und Konstitutionalismus mit seinen sehr unterschiedlichen Ausprägungen in Preußen und Süddeutschland. In Preußen wurden die Selbstverwaltungstraditionen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts vom Adel letztlich dazu genutzt, den Konstitutionalismus auf der gesamtstaatlichen Ebene zu blockieren. In Süddeutschland dagegen erleichterte die Durchsetzung der Staatssouveränität und die klare Zurückweisung der älteren Zwischengewalten den Weg zum modernen Konstitutionalismus, dessen Erfolg durch das in einer zweiten Phase wieder mögliche Anknüpfen an die kommunalistischen Traditionen begünstigt wurde. Mit Noltes These, dass der mit diesen Traditionen verbundene »Erfahrungsrepublikanismus« bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts die politische Kultur Deutschlands maßgeblich bestimmt habe, setzt sich O. Dann in seinem Beitrag über Kants Republikanismus auseinander. Er geht dabei davon aus, dass die durch Kant geprägte moderne Republikanismus-Konzeption bereits sehr viel wirkungsmächtiger gewesen sei und das Nebeneinander von klassischem und modernem Republikanismus in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts noch genauer zu bestimmen sei.
Welches Forschungspotenzial eine vergleichende europäische Verfassungsgeschichte noch enthält, unterstreichen die Beiträge des zweiten Teils. M. Kirsch zeigt, welch große Bedeutung die französischen Vorbilder auf den monarchischen Konstitutionalismus ausübten, dem im 19. Jahrhundert nahezu alle europäischen Staaten folgten. Die napoleonische Variante des monarchischen Konstitutionalismus ermöglichte einerseits das Anknüpfen an die vorrevolutionäre Tradition der Monarchie und ebnete zugleich dem modernen Konzept des Verfassungsstaates den Weg. Zwei weitere Beiträge befassen sich mit den Wirkungen der spanischen Verfassung von 1812 auf die europäischen Verfassungsdebatten. W. Daum untersucht, wie die spanische Verfassung die Verfassungsdiskussionen im Königreich Neapel-Sizilien beeinflusste und wie pragmatisch dort mit dem Vorbild umgegangen wurde. H. Dippel macht deutlich, dass die deutschen Liberalen sich intensiver mit der spanischen Verfassung auseinandersetzten, als man es bisher gesehen hat, und dass diese Debatten bei der inneren Differenzierung des frühen Liberalismus eine wichtige Rolle spielten. Welch neue Einsichten eine um die Kultur- und Mentalitätsgeschichte erweiterte vergleichende europäische Verfassungsgeschichte vermitteln kann, unterstreicht sehr eindrucksvoll der Beitrag von M. Wienfort, der das Verhältnis von Monarchie und bürgerlicher Gesellschaft in Großbritannien und Preußen in den Mittelpunkt stellt. Mit dem »Sonderfall« Schweiz beschäftigt sich der Beitrag von U. Meyerhofer, und F. Hagemeyer geht der Rezeption preußischer Verfassungskonzepte in Dänemark nach, wo von einer zunächst ähnlichen Grundlage aus eine modernere Variante entwickelt wurde, die weit mehr als in Preußen den Übergang zu einer neuen Verfassungsform einleiten half.
Was man im Band vermisst, sind eigene Beiträge zu den mehrfach angesprochenen, aber nicht ausführlich behandelten Zusammenhängen von Staatsfinanzen und Verfassungspolitik. Bei der Debatte über die frühen deutschen Verfassungen hätte man auch etwas mehr auf die neben Preußen und Süddeutschland nicht zu unterschätzende und erst in jüngster Zeit stärker in das Blickfeld geratene mitteldeutsche Perspektive eingehen können. Und schließlich hätte man die Fragen nach dem verfassungspolitischen Zäsurcharakter des Jahres 1830 noch etwas ausführlicher behandeln können. Trotz dieser kritischen Bemerkungen bleibt festzuhalten, dass der vorliegende Band all diese Debatten außerordentlich befruchten kann.
Hans-Werner Hahn, Jena