ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Wolfram Kaiser/Gillian Staerck (Hrsg.), British Foreign Policy, 1955-1964. Contracting Options, Macmillan, Basingstoke, London 2000, 296 S., geb., 45 £.

,,Britain has lost an empire and has not yet found a role." - Wenige Zitate sind so überstrapaziert wie diese Bemerkung des ehemaligen US-amerikanischen Außenministers Dean Acheson vom Dezember 1962, wenn es um die Geschichte der britischen Außenpolitik in den 1950er und 1960er Jahren geht. Acheson warnte seinerzeit das Vereinigte Königreich, eine britische Rolle abseits von Europa, die auf der special relationship zu den USA und auf dem Commonwealth basiere, sei ausgespielt. Dieses zeitgenössische Urteil dient seitdem in der historischen Literatur häufig als Leitlinie, mit dem Ergebnis, dass der Topos vom ,,Untergang des britischen Weltreiches" beziehungsweise vom rapiden Macht- und Bedeutungsverlust der britischen Außenpolitik überakzentuiert und dadurch der Blick auf Handlungsoptionen und -spielräume verstellt wurde.
Der von Wolfram Kaiser und Gillian Staerck herausgegebene Sammelband, der auf eine Konferenz des Londoner ,,Institute of Contemporary British History" (ICBH) vom September 1996 zurückgeht, macht es sich zur Aufgabe, Achesons harsche Worte für die Zeit der konservativen Regierungen von Sir Anthony Eden (1955-1957), Harold Macmillan (1957-1963) und Sir Alec Douglas-Home (1963-64) zu hinterfragen. Wenngleich der Untertitel bereits die Richtung vorgibt, so fallen die Bewertungen der einzelnen Autoren durchaus unterschiedlich aus, was den Band zu einer anregenden Lektüre macht. Die Beiträge, die in ihrer Mehrheit auf (zum Zeitpunkt der Konferenz ,neu` zugänglichen) Regierungsquellen aus dem Public Record Office basieren, unterscheiden sich allerdings auch in ihrer Qualität und in ihren konzeptionellen Ansätzen, wobei die meisten Darstellungen den Konventionen ,,klassischer" Diplomatiegeschichte folgen.
Der erste Teil des Buches, überschrieben mit ,,The Foreign Policy-Making Process", handelt primär von den Grundlagen und Konzeptionen britischer Außenpolitik zwischen 1955 und 1964 sowie wichtigen institutionellen und innenpolitischen Determinanten. In ihrem programmatischen Beitrag über die ,,Macmillan-Jahre" betont Anne Deighton die Bedeutung sowohl von Personen - insbesondere die Schlüsselrolle Harold Macmillans, dessen Glaube an die Überlegenheit von personal diplomacy ihn stark in die Geschäfte des Foreign Office eingreifen ließ - als auch die der Regierungsbürokratie von Whitehall, wo das official mind einen eher reaktiven, der Verteidigung 'britischer Größe' verpflichteten Politikstil pflegte. Bislang vernachlässigtes Terrain betreten Michael David Kandiah und Peter Catterall, die sich mit der Rolle der Konservativen Partei in Bezug auf die britische Außenpolitik beziehungsweise mit der Entwicklung von außenpolitischen Konzepten innerhalb der oppositionellen Labour Party beschäftigen. Kandiah zeigt in seinem Beitrag, dass es den Tory-Regierungen trotz einiger Schwierigkeiten gelang, ihre Anhängerschaft mehrheitlich sowohl bei dem (1963 am französischen Veto gescheiterten) Beitritt zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) als auch bei der Dekolonisierung für ihre Linie zu gewinnen. Die Gewährleistung der Unterstützung durch die Partei spielte gleichzeitig aber auch stets eine wichtige Rolle im Kalkül bei der Entscheidungsfindung. Im Fall der Labour Party kommt Catterall zu dem Schluss, dass deren Parteiführung zwar nach außen hin oft betonte, keinen ,Illusionen` über die geminderte Bedeutung Großbritanniens anzuhängen, dennoch kaum radikale Alternativen zur Regierungspolitik entwickelte, die sich von ,britischer Größe` explizit verabschiedeten. Ein Beispiel dafür stellt die feindliche Haltung von Oppositionsführer Hugh Gaitskell gegenüber einem Beitritt Großbritanniens zur EWG dar, der nach den Worten des Labour-Politikers das ,,Ende von 1000 Jahren britischer Geschichte" bedeutet hätte. Vorschläge wie der ,,Gaitskell-Plan" von 1957 zur Schaffung einer demilitarisierten, neutralen Zone in Mitteleuropa sahen ,auf dem Papier` attraktiv aus, hätten aber im diplomatischen Ringen mit den Verbündeten, allen voran den USA und der Bundesrepublik Deutschland, kaum eine Chance auf Verwirklichung gehabt, was, wie Catterall mit Recht betont, auf die strukturelle Dominanz des Ost-West-Konfliktes auf die britische Außenpolitik verweist.
Wolfram Kaisers Beitrag ,,Against Napoleon and Hitler: Background Influences on British Diplomacy", der ,,die britische Diplomatie" (wenngleich meistens von der Person Macmillan die Rede ist) von eitlem Prestigedenken, symbolischer Politik, abstrusen historischen Analogien und nationalen Stereotypen dominiert sieht, ist ebenso provozierend wie in Teilen nicht überzeugend. So lenkt Kaiser zwar dankenswerter Weise die Aufmerksamkeit auf ein noch eher unterbelichtetes Forschungsfeld, doch dass im britischen Fall kollektive Mentalitäten der außenpolitischen Elite sich weit nachhaltiger ausgewirkt hätten als in anderen vergleichbaren westlichen Staaten wird eher behauptet als dargelegt, und auch die vom Autor angenommenen stark negativen Folgen dieser Elemente im britischen außenpolitischen Denken sind deutlich überzeichnet.
Im zweiten Teil des Buches über ,,Global and Regional Relationships" zeigen Kandiah und Gillian Staerck in einem breit angelegten Aufsatz über die britisch-amerikanischen Beziehungen, dass die starke britische Betonung der special relationship zu den USA zwar die Abhängigkeit des kleineren Partners, insbesondere bei der Nuklearbewaffnung, erhöhte, aber auch eine Reihe Vorteile - wie einen (wenn auch beschränkten) Einfluss auf amerikanische Entscheidungen - mit sich brachte. James R.V. Ellison beleuchtet in einem wohltuend nüchternen Beitrag die britische Politik gegenüber dem EWG-Projekt und betont den Traditionsbruch, den der erste Beitrittsantrag von 1961 darstellte.
Ronald Hyam, Matthew Elliot und Ursula Lehmkuhl steuern konzise Analysen der britischen Beziehungen zu Commonwealth und Empire, zu den Staaten des mittleren Ostens und denen Südostasiens bei, die insgesamt das Bild vermitteln, dass die britischen Regierungen bei der Auflösung der Reste des Kolonialreiches weniger aus Überzeugung denn aus Einsicht in die Unabwendbarkeit angesichts der wirtschaftlich-militärischen ,Überdehnung` sowie der wahrgenommenen Gefahr kommunistischer Ausbreitung und des Prestigeverlusts im Falle einer gewaltsamen Aufrechterhaltung britischer Herrschaft handelten. In vielen Fällen gelang es der britischen Außenpolitik, Einflusspositionen zu erhalten. Richard Bevins und Gregory Quinn beschäftigen sich mit dem bislang vernachlässigten Thema der britisch-sowjetischen Beziehungen, doch bietet ihre Chronik-hafte, eng an den Quellen orientierte Darstellung kaum neue Einsichten.
Gerade weil viele Autoren die Bedeutung des Ost-West-Konfliktes für die britische Außenpolitik nach 1955 betonen, vermisst man in dem Sammelband Beiträge zur britischen Rolle in der globalen Auseinandersetzung zwischen den Supermächten, die sich beispielsweise an der Berlin-Krise von 1958-1962 festmachen ließe. Bedauerlich ist auch der Verzicht auf Abhandlungen zur britischen Deutschlandpolitik - wo doch der Status Großbritanniens als Siegermacht des Zweiten Weltkriegs wesentlich zur Vorstellung ,britischen Größe` beitrug -, und zu den britischen Beziehungen zu West- oder Osteuropa (bei Letzterem spielte Großbritannien eine gewisse Vorreiterrolle). Dennoch ist der Band als informative, quellenreiche Bestandsaufnahme historischer Forschung zur britischen Außenpolitik der Nachkriegszeit insgesamt empfehlenswert.


Henning Hoff, Köln


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