Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online
Manfred Jakubowski-Tiessen/Hartmut Lehmann/Johannes Schilling/Reinhart Staats (Hrsg.), Jahrhundertwenden. Endzeit- und Zukunftsvorstellungen vom 15. bis zum 20. Jahrhundert, (= Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte, Bd. 155), Verlag Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1999, 402 S., geb., 78 DM.
Die ,,Jahrhundertwende" ist eine Erfindung der Neuzeit, ja im Grunde der Moderne und damit eine Folge von umfassenden Säkularisierungsprozessen - so zugespitzt könnte man ein wichtiges Ergebnis des vorliegenden Bandes, der auf eine im Mai 1998 am Max-Planck-Institut für Geschichte in Göttingen veranstaltete Tagung zurückgeht, umreißen. Im Kern geht es den Beiträgen des Bandes jedoch um etwas anderes, nämlich um die Frage nach der symbolischen Bedeutung der Jahrhundertwenden vor allem im Kontext religiös-konfessioneller (End-) Zeitvorstellungen. Der Band zielt also weniger auf eine Geschichte kollektiver Zukunftsvorstellungen und -hoffnungen, deren Verdichtung sich ja bis auf die Zeit um 1900 auch kaum mit den Jahrhundertwenden deckt,1 sondern eher auf die Analyse der mit den kalendarischen Jahrhundertwechseln verbundenen symbolischen Zeit- und Weltdeutungen.2 Ein allgemeiner Befund springt dabei nach Durchsicht der vielen Teilbeiträge gleich ins Auge: Auch wenn die Jahrhundertwenden der frühen Neuzeit noch nicht mit der Intensität der Fortschrittsbegeisterung des beginnenden 19. und 20. Jahrhunderts reflektiert und wahrgenommen wurden, so spiegeln sie doch bereits in der frühen Neuzeit eine signifikante Verdichtung kollektiver Erwartungshaltungen, die nicht nur das individuelle persönliche Schicksal betrafen, sondern die Situation der ,,ganzen Menschheit" im Blick hatten. Auf der Basis vielfältiger, primär ideen- und geistesgeschichtlicher Quellen wie Predigten, Kirchenliedern, Kalendern, Gedichten , Erbauungsbüchern, philosophisch-wissenschaftlichen Schriften, Prophezeiungen, Prodigien, aber auch Annalen und visuellen Quellen gehen die einzelnen Beiträge also der spannenden Frage nach, welcher Symbolwert der ,,Jahrhundertwende" jeweils im kollektiven Bewusstsein zukam. Der geographische Fokus, das sei hier gleich vorweggeschickt, liegt dabei in erster Linie auf Deutschland bzw. dem Alten Reich mit seinen vielfältigen konfessionellen Gegensätzen und Konflikten. Die religions- und konfessionshistorische Perspektive beherrscht daher auch das Spektrum der meisten Beiträge, wogegen etwa primär sozial- oder politikgeschichtliche Bezüge ebenso wie literarische Utopien oder technisch-wissenschaftliche Visionen leider weit gehend ausgeklammert bleiben, was eine gewisse Engführung der Perspektive bedingt, zugleich aber auch eine engere thematische Verzahnung erlaubt.
Vor diesem Hintergrund erscheint die Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert zunächst noch stark durch den mittelalterlichen Horizont traditioneller eschatologischer Erwartungshaltungen geprägt, sodass die rein kalendarische Jahrhundertwende als solche noch kaum eine Rolle spielte, sondern eher astrologische Spekulationen wie etwa die aufgrund spezifischer Kometenkonstellationen für 1524 erwartete ,,Sintflut" von Bedeutung waren. Allerdings wird in den Beiträgen zur Jahrhundertwende um 1500 auch deutlich, wie hinter den überzeitlich-christlichen Deutungsmustern zunehmend konkrete politische Faktoren die kollektiven Zukunftserwartungen zu bestimmen begannen. So zeigt etwa der faszinierende Beitrag von Heinrich Dormeier zu den apokalyptischen Vorstellungen in der italienischen Kunst um 1500, wie die religiöse Bildwelt eines Botticelli oder Signorelli konkrete politische Krisen der italienischen Stadtstaaten und damit vielfältige kollektive Ängste reflektierte. Solche kollektiven Ängste vor einer apokalyptischen Endzeit hatte schon die päpstliche Propaganda geschickt zu nutzen verstanden, als sie erstmals das Jahr 1300 zum ,,Jubeljahr" erklärt und damit durch die versprochene Generalabsolution eine Flut von Pilgerreisen ausgelöst hatte. Diese Strategie wurde, wie Helga Robinson-Hammerstein anschaulich darlegt, anlässlich der folgenden Jahrhundertwenden erfolgreich intensiviert und schließlich auch vom Kaiser geschickt im Kontext der habsburgisch-burgundischen Wahlpropaganda übernommen, indem der 1500 geborene Karl V. als neuer Heilsbringer und Initiator eines neuen goldenen Zeitalters gefeiert wurde. Unter der Hand wurde die traditionelle christliche (wenn auch ,,verunsicherte") Welt- und Zeitdeutung somit bereits um 1500 in wachsendem Maße politisch instrumentalisiert, was dem Symbolwert ,,Jahrhundertwende" eine neue Wendung gab. Dementsprechend gewann diese ,,symbolpolitische" Funktionalisierung im Laufe des 16. Jahrhunderts auf der Basis der medialen Revolution des Buchdrucks und im Kontext des intensiven Propagandakampfes der Kirchen immer mehr an Bedeutung, was vor allem für das Luthertum galt, wie die Beiträge von Thomas Kaufmann und Robin B. Barnes zeigen. So gab die Jahrhundertwende um 1600 im Rückblick auf die bestandenen Herausforderungen einerseits Anlass zu Selbstbewusstsein und Zukunftsvertrauen. Komplementär dazu jedoch dominierten apokalyptische Denkformen und Deutungsstrategien das grundlegende Weltverständnis der Lutheraner aller Stände: ,,Gerade die gewiss geglaubte Nähe des Endes erforderte definitive doktrinale und konfessionelle Scheidungen und geschichtstheologische Wertungen des Papsttums als des okzidentalen Antichristen (...). Die gewisse Vernichtung der endzeitlichen Gegner der wahren Kirche schuf Trost in der Bedrängnis und schärfte die Notwendigkeit wahrer Buße und Glaubenstreue ein." (Kaufmann, 1600 - Deutungen der Jahrhundertwende im deutschen Luthertum, S. 75).
Mit der zunehmenden Verbreitung von Uhren und Kalendern und einem zuvor ungekannten Aufstieg der Mathematik und der Naturwissenschaften veränderte sich dann, wie Manfred Jakubowski-Tiessen sehr anschaulich vorführt, im 17. Jahrhundert zunehmend das Zeitbewusstsein zunächst primär innerhalb der gelehrten Eliten, zunehmend dann aber auch beim Adel und besitzenden Bürgertum. Diese ,,Chronologisierung" des Zeitbewusstseins führte einerseits zunehmend zu einem im wahrsten Sinne des Wortes ,,säkularen" Bewusstsein, das historische Entwicklungen immer mehr aus dem religiös überzeitlichen Deutungszusammenhang herauslöste und in wachsendem Maße begann, die einzelnen Jahrhunderte als unterschiedliche ,,weltgeschichtliche Epochen" zu begreifen, was zugleich das wachsende (Selbst-) Bewusstsein als ,,Neuzeit" spiegelt. Die zunehmende Rationalisierung des Zeitbewusstseins schlug sich andererseits aber auch ganz konkret in gelehrten Debatten zur Vereinheitlichung der Zeitrechnung nieder, die schließlich in der Übernahme des zuvor nur in den katholischen Gebieten gültigen Gregorianischen Kalenders von 1582 durch die protestantischen Territorien im Jahre 1700 gipfelten. Allerdings sollte diese ,,Rationalisierung" des Zeitbewusstseins nicht überbewertet werden, wie die Beiträge zu den konfessionellen Milieus um 1700 sehr präzise nachzeichnen: So spielten etwa im Pietismus, wie Hans Schneider zeigt, religiös-millenaristische Endzeit- und Erlösungsvorstellungen um 1700 eine viel prägendere Rolle als chronologisch-historische Deutungsmuster.
Vor diesem Hintergrund kann daher erst mit der Jahrhundertwende um 1800 von einer breiteren Durchsetzung des Denkens in Jahrhunderten gesprochen werden, was sich u.a. in der intensiven publizistischen Feier dieser Jahrhundertwende manifestiert. Der Beitrag von Benigna von Krusenstjern dokumentiert anhand von ,,Säkulargedichten" und Zeitschriftenbeiträgen zur Jahrhundertwende 1800 einen bemerkenswerten Zukunftsoptimismus, der endlich von der kriegerischen Vergangenheit (besonders des zurückliegenden 18. Jahrhunderts) Abschied zu nehmen hoffte und eine neue friedliche und prosperierende Gesellschaftsordnung in der Zukunft antizipierte. Die Französische Revolution hatte gezeigt, dass sich die Verhältnisse ändern ließen, dass im Namen von Aufklärung, Kunst und Vernunft potentiell eine neue Gesellschaft verwirklichbar war - ein Leitbild, das vor allem ,,progressive" Intellektuelle in einer Mischung aus deterministischem und voluntaristischem Denken im Hinblick auf ihre eigene Rolle als Künder und Führer dieser neuen Gesellschaft entwarfen, wie Ludwig Stockinger in seinem Beitrag zum ,,Kairosbewusstsein" der Frühromantiker verdeutlicht, während bezeichnenderweise Theologen wie Gottfried Menken oder Friedrich Schleiermacher unter Verweis auf die Schattenseiten der Revolution weiterhin am traditionellen Verfallsmodell festhielten (siehe dazu den Beitrag von Kurt Nowak).
Der Vergleich der symbolischen Bedeutung der Jahrhundertwenden ergibt also bei aller Heterogenität im Detail ein interessantes gemeinsames Muster, dem in der Tat umfassende Säkularisierungsprozesse zugrunde liegen: Je stärker das Denken durch religiös-kirchliche Vorstellungen und Deutungsmuster geprägt war, desto stärker wurden die Jahrhundertwenden als ,,Endzeiten" wahrgenommen, was bezeichnenderweise im Kern für alle konfessionellen Milieus gleichermaßen galt, auch wenn die Endzeitvorstellungen inhaltlich differieren mochten. Der hohe Symbolwert der Jahrhundertwende als Indikator von ,,Fortschritt" entwickelte sich dagegen erst auf der Basis eines gewandelten Zeitbewusstseins, das sich vor allem auf systematische (astronomische) Naturbeobachtung, Mathematisierung und ,,Aufklärung" stützte und sich im Zuge dieser Rationalisierungs- und Verwissenschaftlichungsprozesse auch zunehmend ,,historisierte". Folgerichtig konstatieren die beiden abschließenden Beiträge von Reinhart Staats und Gerhard Sauter daher auch für das historische Denken der Gegenwart ein fast völliges Fehlen von religiös geprägten Endzeit- und Apokalypsevorstellungen. So erhellend der Schwerpunkt auf Konfessions- und Säkularisierungsmustern für den Symbolwert der Jahrhundertwenden für die Phase der frühen Neuzeit also ist, so eingeschränkt wirkt er andererseits für die Analyse der Zeit um 1900, ganz zu schweigen von der der jüngsten Jahrhundertwende, die trotz der symbolisch so aufgeladenen Zahl 2000 bis auf den Beitrag von Staats kaum Erwähnung findet.3 So ist zu bedauern, dass gewissermaßen die Phase der ,,Selbstreflexivität", die sich in der zeitgenössischen Selbstdefinition der Jahrhundertwende um 1900 als ,,fin de siècle" so überaus prägnant gespiegelt findet, in dem vorliegenden Band kaum in repräsentativer Weise behandelt wird. Nur zwei Beiträge zur Kunst und zur evangelischen Publizistik werden nicht der breiten, technisch-industriell geprägten Zukunftseuphorie um 1900 gerecht, die nicht nur in einer umfassenden ,,Technisierung" der Zukunftsvorstellungen (gespiegelt in der neuen Gattung der Science Fiction), sondern auch in einer Fülle alternativer wirtschafts- und kulturpolitischer Entwürfe, gesellschaftlicher Reformbewegungen (Pädagogik, Sexualmoral, Städtebau, Frauenbewegung usw.), künstlerischer Avantgarden und kosmologisch-esoterischer Visionen zum Ausdruck kam - hier werden die Grenzen eines fast ausschließlich ideen- und konfessionshistorischen Zugangs, der den ganzen Band kennzeichnet, sehr deutlich. Vor diesem Hintergrund verspricht der Titel mehr als der Inhalt trotz aller Vielfalt der Einzelbeiträge faktisch halten kann. Die Stärke dieser Zusammenschau liegt andererseits ohne Zweifel darin, dass sie im Gegensatz zur häufigen ,,Religionsvergessenheit" der modernen Historiographie die enorme Bedeutung religiös-konfessioneller Deutungsmuster wie auch umfassender Säkularisierungsprozesse für das kollektive Welt- und Zeitverständnis bis weit in das 20. Jahrhundert varianten- und facettenreich herausarbeitet.
Alexander Schmidt-Gernig, Berlin