ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Anna Hillyar/Jane McDermid, Revolutionary Women in Russia, 1870-1917. A Study in Collective Biography, Manchester University Press, Manchester 2000, 232 S., kart., 15,99 £.


Mit diesem Buch wollen die beiden Autorinnen die Frage beantworten, warum Frauen in der 75-jährigen Geschichte der Sowjetunion keine politischen Machtpositionen innehatten, obwohl sie schon seit den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts in ständig wachsender Zahl an der russischen revolutionären Bewegung teilnahmen. Um es gleich vorwegzunehmen: Diese Frage wird im vorliegenden Band ebenso wenig beantwortet wie in der letzten Veröffentlichung des Autorinnenduos (Midwives of the Revolution: Female bolsheviks and women workers in 1917, London 1999), das sich inhaltlich über weite Strecken mit dem vorliegenden Band deckt.
Doch diesmal soll eine Kollektivbiografie Antwort auf die oben aufgeworfene Frage geben. So haben die Verfasserinnen aus Autobiografien, Memoiren, Biografien, Zeitschriften, Nachschlagewerken und aus Moskauer Archivmaterial Angaben über etwa 1200 Frauen zusammengetragen, die zwischen 1870 und 1917 eine revolutionäre politische Organisation oder politische Partei unterstützten. Dabei kam es ihnen vor allem darauf an, auch proletarische Frauen in den Kreis der Revolutionärinnen zurückzuholen, die überwiegend aus gehobenen sozialen Schichten stammten. Die gesammelten Daten wurden chronologisch geordnet und je nach Eintrittsjahr in die revolutionäre Bewegung den Gruppen 1870-1889, 1890-1904 bzw. 1905-1917 zugeordnet, die drei Entwicklungsphasen des politischen Untergrundes in Russland entsprechen. Das Jahr 1917 als Schlusspunkt der Untersuchung wird damit begründet, dass es nach der Oktoberrevolution keine revolutionäre Bewegung mehr gegeben habe, sondern nur noch ,,establishment politics" (S. 13).
Wie das Cover des Buches verheißt, handelt es sich um ,,a powerful study of working women and Russian Marxism, which aims to engage readers with descriptions of ,real` revolutionary women." Was die Leser und Leserinnen dann aber von diesem Sammlerfleiß zu sehen bekommen, sind keine minuziös rekonstruierten Lebensläufe, sondern z.B. eine Liste mit 507 Namen und Berufen russischer Revolutionärinnen (Anhang 2), über deren Zustandekommen (Quellen, Auswahlkriterien, Repräsentativität) die Verfasserinnen schweigen. Anhang 1 enthält Kurzbiografien von 97 ausgewählten ,,Sozialdemokratinnen", deren formale Parteizugehörigkeit längst nicht immer nachzuweisen ist. Erstaunlicherweise ist auch Marija Spiridonova, eine Führungsfigur der Linken Sozialrevolutionäre, in diese Gruppe geraten. Ferner finden sich im eigentlichen Text des Buches noch 10 Tabellen, die Auskunft geben über die 16 bzw. 17 weiblichen Angeklagten der beiden großen politischen Prozesse des Jahres 1877, über 15 Revolutionärinnen der siebziger Jahre, schließlich über 100 Revolutionärinnen der Jahre 1890-1904, die in getrennten Tabellen auch nach sozialer Herkunft und Beruf befragt werden, schließlich über die 25 Arbeiterinnendelegierten zum Sovet der Stadt Ivanovo-Voznesensk und zuguterletzt über 50 ,,ausgewählte" (warum, bleibt ungesagt) weibliche Mitglieder der Partei der Sozialrevolutionäre (PSR). Was die Autorinnen, die ja ein Buch mit neuen Erkenntnissen über revolutionäre Frauen in Russland vorlegen wollen, veranlasst hat, ausgerechnet die weiblichen Mitglieder der jüdischen sozialistischen Parteien wie ,,Bund" und Poalej Zion unter den Tisch fallen zu lassen, bleibt ihr Geheimnis. Die Entscheidung ist umso unverständlicher, als diese Organisationen einen viel höheren Frauenanteil aufwiesen als die russischen Konkurrenzparteien RSDRP (Russische Sozialdemokratische Arbeiterpartei) und PSR (Partei der Sozialrevolutionäre). Wer insbesondere Frauen aus unteren Schichten in die Geschichte reintegrieren möchte, sollte hier suchen, denn die weiblichen Mitglieder der jüdischen sozialistischen Parteien rekrutierten sich überwiegend aus dem Arbeiterinnen- und Handwerkerinnenmilieu.
Insgesamt haben die Verfasserinnen kaum neue Quellenbestände erschlossen oder nur ansatzweise ausgeschöpft, wie z. B. den Nachlass der ,,Gesellschaft alter Bol'ševiken". Stattdessen verwenden sie längst veröffentlichte und schon mehrfach gründlich ausgewertete Quellen. Trotz ihres hohen innovativen Anspruchs fügen sie aber auch in inhaltlich-interpretatorischer Hinsicht den Forschungserträgen der letzten dreißig Jahre nichts Bemerkenswertes hinzu. Nicht einmal als synthetisches Werk vermag der Band zu überzeugen. Sofern die Verfasserinnen es überhaupt für nötig halten, auf die vorhandene wissenschaftliche Literatur einzugehen, so vorwiegend in der Absicht, die Autoren zurechtzuweisen oder längst etablierte Standardwerke für wertlos zu erklären (z. B. Clements, Engel, Fieseler, Glickman, Stites). Die Verfasserinnen tun geradezu so, als hätten ausgerechnet die der Frauen- und Geschlechtergeschichte verpflichteten Historiker und Historikerinnen die geringe Nachhaltigkeit der Teilnahme von Frauen an der russischen revolutionären Bewegung böswillig ,,erschrieben". Allein, auch die kämpferischen Autorinnen des vorliegenden Bandes haben nichts vorzuweisen, was die etablierte Sichtweise auch nur um ein Jota ergänzen oder verändern könnte.
Anstelle neuer Perspektiven warten sie mit Ungenauigkeiten auf, vor denen hier nur exemplarisch gewarnt werden kann: Auf S. 11 heißt es, die RSDRP habe sich 1903 auf dem ,,3. Parteitag in Prag" in eine men'ševistische und eine bol'ševistische Fraktion gespalten. Tatsächlich kam es 1903 auf dem 2. Parteitag in Brüssel und London zur Parteispaltung. 1878 wird als das Jahr genannt (S. 17), in dem die ersten Höheren Frauenkurse in Russland eröffnet wurden. Dies gilt jedoch nur für die Städte St. Petersburg und Kiev. In Moskau und Kazan` gab es solche Kurse schon ab 1872 bzw. 1876. Zudem entstanden auch in St. Petersburg bereits 1872 Medizinische Frauenkurse. Schließlich werden die Moskauer Hochschulkurse für Frauen zu ,,Gerie-Kursen" (S. 98), während ihr Gründer tatsächlich ,,Guerrier" hieß, was sich in kyrillischen Buchstaben als ,,Gere" darstellt. Was mit ,,the reforms of 1861" (S. 24) gemeint ist, bleibt unklar. Die Rede ist wohl von der Epoche der ,,Großen Reformen", die sich aber von der Bauernbefreiung im Jahr 1861 bis zur Militärreform von 1874 erstreckte. Auf der gleichen Seite behaupten die Autorinnen, die Narodniki (,,Volksgänger") seien von den Marxschen Ideen beeinflusst gewesen. Gewiss war das ,,Kommunistische Manifest" in Russland bekannt, aber die Utopie eines russischen Bauernsozialismus speiste sich nicht daraus, sondern aus den Schriften von Aleksandr Hercen und Nikolaj Cernyševskij. Die Tabelle auf S. 114/115 zeigt angeblich 11 Sozialdemokratinnen, die 44% aller weiblichen Delegierten zum Ersten Arbeiterrat von Ivanovo im Jahr 1905 gestellt hätten. Sofern die Rezensentin richtig zählen kann, enthält die Übersicht aber nur 9 RSDRP-Frauen, die dann nicht mehr als 36% der 25 weiblichen Sovet-Mitglieder ausmachen. Ähnliches Durcheinander finden wir schon auf S. 28: ,,In the Trial of the 50 just under a third of the accused were women; in the Trial of the 193, it was just under a fifth. Thanks to the publicity this trial received in Russia, a great deal of which was due to the high number of women involved (over 30 per cent), [...]". Hier passt einfach nichts mehr zusammen.
Auch die spärlichen Anmerkungen sind voller Patzer. Häufig verweisen die Autorinnen zum Beleg für ihre Aussagen auf ganze Bücher, ohne die entsprechenden Seitenzahlen zu nennen, machen grundsätzlich Fehler bei der Umschrift aus dem Russischen, schreiben gelegentlich Autorennamen falsch und zitieren einen Zeitschriftenbeitrag unter falschem Titel. Doch gleichen sie diese und andere Nachlässigkeiten mit Mut zur Prophetie ganz ungezwungen aus: ,,It is most likely that had Perovskaia and Zheliabin survived the assassination of the Tsar they would have gone on to marry too, given the strength of their feelings for one another." (S. 50). Abgesehen davon, dass diese Behauptung durch keinerlei Quelle gestützt ist, belegt das Zitat einmal mehr den sorglosen Umgang der Verfasserinnen mit historischen Fakten: der ,,Auserwählte" von Sofja Perovskaja hieß nämlich keineswegs Zheliabin, sondern Zeljabov. Wer einen zuverlässigen Überblick über die Geschichte von Frauen in der revolutionären Bewegung des Russischen Reiches wünscht, sollte auf dieses Buch lieber verzichten.


Beate Fieseler, Bochum


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