Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online
Manfred Hildermeier/Jürgen Kocka/Christoph Conrad (Hrsg.), Europäische Zivilgesellschaft in Ost und West. Begriff, Geschichte, Chancen. Campus Verlag, Frankfurt/Main etc. a.M.2000, 250 S., kart., 58 DM.
Eine der interessantesten und vielversprechendsten Neugründungen im Bereich der historischen Wissenschaften in Deutschland, das 1998 an der Freien Universität Berlin und der Humboldt-Universität zu Berlin eröffnete Zentrum für Vergleichende Geschichte Europas (ZVGE), stellt sich mit einer Veröffentlichung vor, die um den in den letzten Jahren populären und umstrittenen Begriff der Zivilgesellschaft kreist, der dem »Zentrum« als eine Art konzeptionelles Dach für seine Arbeit dienen soll. Der schillernde Begriff soll eine neue Verknüpfung von west- und osteuropäischer Geschichte ermöglichen und vergleichende Untersuchungen anstoßen.
Der vorliegende Sammelband, der die Zivilgesellschaft sowohl konzeptionell-theoretisch als auch exemplarisch entwicklungs-geschichtlich diskutiert, führt sowohl Befürworter (z.B. J. Kocka, M. Hildermeier) als auch Kritiker (z.B. K. Hagemann, Chr. Hann) zusammen. Das verleiht der Veröffentlichung einen begrüßenswert offenen Charakter. Jürgen Kocka hebt einleitend in seinem Gang durch den »semantischen Dschungel« der Begriffsgeschichte sozialgeschichtliche wie philosophische Anknüpfungspunkte an den verwandten, aber von ihm abgehobenen Begriff der »bürgerlichen Gesellschaft« mit seinen Ursprüngen in der (west-)europäischen Aufklärung des 18. Jahrhundert hervor. Manches erinnert an Diskussionen um die bürgerliche Gesellschaft im Umkreis entsprechender Sonderforschungsbereiche an der Frankfurter und an der Bielefelder Universität. Zivilgesellschaft wird wie die bürgerliche Gesellschaft als ein offenes Projekt verteidigt, Ausschlussmechanismen gegenüber den Frauen, ethnischen und konfessionellen Minderheiten sowie den Unterschichten mit Verweis auf den Prozesscharakter und das Integrationspotenzial als temporäre Erscheinungen gewertet. Klaus von Beyme weist aus politikwissenschaftlicher Sicht in kritischer Distanz zu den von Vertretern der Zivilgesellschaft in den Vordergrund gerückten sozialen Bewegungen auf die Bedeutung demokratischer Institutionen und politischer Parteien hin. In verwandter, aber ausbalancierterer Form lässt sich eine ähnliche Position auch aus Hartmut Kaelbles vergleichendem Beitrag über die Geschichte der europäischen Integration und der Interpretationen der Demokratisierung ihrer Institutionen herauslesen. Die Historikerin Karen Hagemann stellt die dem »Projekt Zivilgesellschaft« quasi immanenten strukturellen Ausschlussmechanismen gegenüber Frauen heraus, die Anfang des 19. Jahrhunderts in der Vorstellung von Staat und Nation als Volksfamilie einen klassischen Ausdruck fanden. Vor dem empirischen Hintergrund aktueller Entwicklungen eines ungarischen Dorfes sowie der polnisch-ukrainischen Grenzregion im Südosten Polens formuliert der Ethnologe Chris Hann seine Vorbehalte gegenüber dem Konzept und Projekt Zivilgesellschaft, vor allem seinen elitär-intellektuellen und (west-)europazentrisch-missionarischen Zügen (»Ich finde die gegenwärtige Form neoliberaler Hegemonie abstoßend«, S.108). Wie der bulgarische Philosoph und Historiker Ivalyo Znepolski fordert er Respekt vor kultureller Vielfalt, vor ethnischer und konfessioneller Heterogenität und weist auf Desolidarisierungs- und Pauperisierungstendenzen der letzten Jahre im östlichen Europa hin, während viele in den westlichen Metropolen nur den Sieg politischer Freiheit erkennen wollen.
Sehr unterschiedlich fallen die Urteile der beiden Osteuropahistoriker Manfred Hildermeier und Holm Sundhausen, beide gleichzeitig Mitglieder des ZVGE, über Erfolge zivilgesellschaftlicher Entwicklungen in Ost- und Südosteuropa im 19. und frühen 20. Jahrhundert aus. Der Russlandhistoriker Manfred Hildermeier sieht in den städtischen Gesellschaften des ausgehenden Zarenreiches Ansätze für eine fortschreitende zivile Gesellschaft, die vom Krieg und dem Oktoberumsturz abgebrochen wurden und verbindet seine Deutung mit forschungsstrategischen Rück- und Ausblicken. Der Südosteuropahistoriker Holm Sundhausen kann dagegen auf dem Balkan vom frühen 19. Jahrhundert bis zum Beginn des Zweiten Weltkrieges kaum Fortschritte in Richtung auf das »Projekt des Westens« (S.149) finden und betont die Zugkraft und Funktion des Ethnonationalismus als Bindeglied zwischen den Eliten und der Masse (S.171). Die von Kocka für die deutsche bzw. westeuropäische Entwicklung relativierten Ausschlussmechanismen erhalten hier ein ganz anderes Gewicht.
Es bleibt aber dem holländischen Historiker Tom Nijhuis in seinem Beitrag über die niederländische Zivilgesellschaft vorbehalten, ein weiteres wichtiges Moment zu nennen: das unterschiedliche frühneuzeitliche Erbe: Die Städte und Provinzen der Niederlande legten ein dauerhaftes bürgerliches Fundament, dem erst sehr viel später ein Staatsbildungsprozess folgte. Und hier sind eben nicht nur Unterschiede zur preußisch-deutschen Entwicklung, sondern zu vielen Staaten im ostmittel-, südost- oder osteuropäischen Raum erkennbar. Der tschechische Historiker Kren zeigt, dass vor diesem Hintergrund Zivilgesellschaft in der tschechischen Nachkriegsgesellschaft vor allem als antistaatliches und antitotalitäres Projekt Zuspruch gewann, aber unter demokratischen Bedingungen noch keinen stetigen Platz gefunden hat. So bleiben am Ende zentrale Fragen offen: die nach der Operationalisierbarkeit des Konzeptes jenseits einer zu Recht geforderten Historisierung, die nach der einen (wie es der Titel suggeriert) oder nach den vielen Zivilgesellschaften, die nach den normativen Gehalten und den utopischen Versprechen, die nach den osteuropäischen Intellektuellen, die dem Begriff doch zu neuem Leben verhalfen (wo war ihre Stimme auf der Konferenz?). Insgesamt überzeugt der offene und diskussionsfreudige Charakter der Veröffentlichung und spiegelt den Stand der Forschung wider.
Die »gute Fee« (von Beyme) Zivilgesellschaft wird dem ZVGE noch manch harte osteuropäische Nuss zu knacken geben und dabei hoffentlich nicht zur Verklärung der deutschen und westeuropäischen Entwicklung führen.
Guido Hausmann, Köln