Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online
Philipp Herder-Dorneich, Ökonomische Theorie des Gesundheitswesens. Problemgeschichte, Problembereiche, Theoretische Grundlagen, Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden 1994, 1040 S., geb., 198 DM.
Der Verfasser, einer der Begründer der Gesundheitsökonomie in Deutschland und über Jahrzehnte einer ihrer wichtigsten Vertreter (nicht zuletzt auch in politischen Beratungsgremien), legt mit diesem Buch einen Überblick über sein Lebenswerk vor. Dass er sich dabei - trotz des immer noch imponierenden Umfangs - um Zusammenfassung und insofern Komprimierung bemüht hat, wird im Vorwort deutlich. Hier weist er auf verschiedene ergänzende Veröffentlichungen hin, nicht zuletzt auch auf eine Trilogie, in deren Bänden er seine grundlegende theoretische Konzeption der Gesundheitsökonomie dargelegt hat. Seine frenetische Produktivität hat es möglich gemacht, dass sich der Nomos Verlag nicht scheute, 1994 Herder-Dorneichs Schriftenverzeichnis als Monographie zu publizieren.
Wenn sich der Rezensent dennoch nur knapp zu dem vorliegenden Buch äußern will, dann deshalb, weil seine Bedeutung für ein primär historisch interessiertes Publikum eingeschränkt ist. Das Werk ist in die schon im Untertitel genannten drei großen Teile ("Bücher") gegliedert, von denen hier am ehesten der erste interessiert, die Problemgeschichte. Nach einer Einleitung (S. 15-31), in der skizziert wird, was man sich unter "Ökonomischer Theorie des Gesundheitswesens" vorzustellen hat und wie sich diese als Spezialdisziplin etablierte, legt der Verfasser im 1. Buch (S. 33-173) einen "Überblick über die geschichtliche Entwicklung gesetzlicher Sicherungsmaßnahmen im Gesundheitswesen" (S. 33) vor. Dabei schlägt er einen weiten Bogen. Er beginnt mit gesundheitsrelevanten Einrichtungen und Maßnahmen in der Antike sowie im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit (S. 33-56), behandelt dann ausführlicher die Periode vom Beginn der Industrialisierung bis zum Ersten Weltkrieg (S. 57-96), streift kurz die Weimarer Republik und die NS-Zeit (S. 97-109, um relativ ausführlich die Entwicklungen nach dem Zweiten Weltkrieg in der BRD darzustellen (S. 110-173).
Eine neuere Geschichte der Sozialpolitik, hier konzentriert auf die Gesundheitssicherung, von vergleichbarer historischer Reichweite liegt derzeit nicht vor. Insofern könnte man diesen Teil des vorliegenden Werks im Prinzip nur begrüßen. Einschränkend ist allerdings darauf hinzuweisen, daß der Verfasser die neuere einschlägige Literatur, die häufig unter dem Oberbegriff "Sozialgeschichte der Medizin" firmiert, nicht verarbeitet hat. So wurden, um nur einige Namen zu nennen, in keiner Weise berücksichtigt: Blasius, Bleker, Frevert, Göckenjan, Huerkamp, Imhof, Karbe, Kater, Labisch, Spree, Stürzbecher, Weindling, die alle schon in den 1980er Jahren und früher einschlägig publiziert haben. Auch Jetter und Murken fehlen, obwohl viel von der Geschichte der Hospitäler und Krankenhäuser die Rede ist, und selbst von Tennstedt werden nur zwei ältere Titel rezipiert. Die Darstellung beruht vielmehr fast ausschließlich auf Literatur aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die in vieler Hinsicht überholt, zumindest stark ergänzungsbedürftig ist. Das mindert den Wert dieses historischen Teils ganz erheblich. Andererseits ist positiv hervorzuheben, dass es dem Verfasser nach eigenem Bekunden nicht primär um die Geschichte geht, sondern um die Herleitung von Problemen in der Gegenwart der Gesundheitssicherung, die eben eine Geschichte haben, oder, um ein in Mode kommendes Wort zu benutzen, pfadabhängig sind. Auf die historischen Wurzeln der Probleme, auf ihren Pfad, kommt es dem Verfasser an. Und unter diesem Gesichtspunkt hat die historische Darstellung durchaus wieder einen Wert, denn jeweils nach Skizzierung einer historischen Entwicklungsetappe hält der Verfasser. inne und nimmt eine "Problemsichtung" vor (S. 39-41 für die Antike, S. 48 f. und 55 f. für das Mittelalter, S. 62, 70 f. u. 77 für die frühe Industrialisierungsphase, S. 84 u. 88 für die Bismarckschen Gesetzesinitiativen, S. 93 f. für die ärztlichen Professionalisierungsbemühungen im späten Kaiserreich usw. Diese problembezogene Interpretation historischer Entwicklungslinien ist vielfach originell und stellt den Wert der historischen Einführung für die Gesundheitsökonomik sicher.
Im 2. Buch behandelt der Verf. vor allem so genannte Problembereiche (S. 234-615), z. B. Wettbewerb im Gesundheitswesen, Rationalitätenfallen, Selbstbeteiligung, Selbstmedikation, Ärzteschwemme, Pflegeversicherung oder Arzneimittelversorgung. Dem stellt er einen längeren Abschnitt voraus, der einer "gesundheitsökonomischen Bewusstseinswerdung" dienen soll (S. 175-233). Dieser Abschnitt ist für historisch Denkende insofern von Interesse, als er die intendierte "Bewusstseinswerdung" seinerseits als einen historischen Prozess über mehr als 150 Jahre hin darstellt.
Das 3. Buch führt schließlich in die eigentliche Gesundheitsökonomik ein. Dabei zeichnet sich der Ansatz des Verfassers dadurch aus, dass er ordnungspolitische Überlegungen in den Vordergrund stellt und insgesamt vom Ansatz der Neuen Politischen Ökonomie ausgeht. Rein formale Darstellung und Ableitungen ökonomischer Modelle finden sich deshalb nur selten, was im Großen und Ganzen den Nachvollzug der Argumentation auch für Nicht-Volkswirte ermöglicht. Ein erster Abschnitt gilt der "Güterlehre" (S. 617-689), bei dem es vor allem um die Besonderheiten von "Gesundheitsgütern" und deren spezifische Steuerungsprobleme geht. Im zweiten Abschnitt (S. 690-851) werden elementare Steuerungsmechanismen abgehandelt, insbesondere marktmäßige versus bürokratische oder verbandsmäßige. Der dritte Abschnitt (S. 852-893) bringt eine "Theorie der Gesundheitssysteme". In einem vierten Abschnitt (S. 894-942) werden Erscheinungsformen der Entwicklung des Gesundheitssystems im Sinne seiner Dynamik dargestellt. Der kurze fünfte Abschnitt (S. 943-975) stellt die Beziehung zwischen Systemdefekten und Ordnungspolitik her, während der sechste, letzte Abschnitt (S. 976-986) einen kurzen Ausblick auf Gegenwarts- und Zukunftsprobleme bietet. Verzeichnisse der benutzten Literatur und Abkürzungen sowie ein sehr nützliches Stichwortverzeichnis runden den Band ab.
Mir scheint, dass der modelltheoretische, aber wenig formalisierte Ansatz des Verfassers dazu beiträgt, gerade diese "Ökonomische Theorie des Gesundheitswesens" auch für volkswirtschaftliche Laien lesbar und nachvollziehbar zu machen - im Gegensatz zu den meisten anderen derzeit verfügbaren Darstellungen des Gegenstands, die sich ausschließlich an die Zunft der Volkswirte wenden. Deshalb dürfte dieses Buch, trotz seiner fachhistorischen Schwächen, als Einführung in die Gesundheitsökonomik für historisch Interessierte und Arbeitende wertvoll sein. Nicht zuletzt kann es das Bewusstsein für die Differenziertheit und Systemhaftigkeit des Gesundheitswesens stärken und ein auch in historischen Analysen vorzusetzendes bzw. instrumentell einzusetzendes Verständnis wesentlicher Zusammenhänge und Steuerungsprobleme im Gesundheitsbereich konkretisieren helfen.
Reinhard Spree, München