ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Thomas Hengartner/Christoph Maria Merki (Hrsg.), Genussmittel. Ein kulturgeschichtliches Handbuch, Campus Verlag, Frankfurt/Main etc., 292 S., kart., 49 DM.


Folgende Institutionen haben den Druck dieses Buches finanziell unterstützt: das Bundesamt für Gesundheit in Bern, der schweizerische Verband der Backwaren- und Zuckerwaren-Industrie, der Verband schweizerischer Schokoladenfabrikanten, Nestlé, die schweizerische Fachstelle für Alkohol- und andere Drogenprobleme und die Vereinigung der schweizerischen Hersteller von Kaffeeprodukten. Unter den Autoren findet sich auch der Firmenhistoriker von Nestlé. Er schreibt über Kakao. Aber keine Angst, über Nestlé erfährt der Leser nichts. Denn das Buch ist gut gemeint. Es will vertraut machen mit der Herstellung, der Vermarktung und dem Konsum von Kaffee, Kakao, Tee, Tabak, Cannabis, Opium, Zucker, Honig, Gewürzen und alkoholischen Getränken in Vergangenheit und Gegenwart. Dabei geht es den Herausgebern um nicht weniger als um eine Verbindung zwischen den ,,Sehnsüchten des Alltags" und der hohen Politik, zwischen Mikro- und Makrohistorie. Wunderbar. Aber das Spektrum ist so breit, und die Ziele sind so vielfältig, dass das Scheitern in der Projektanlage schon vorgezeichnet ist.
Die Autoren, unter ihnen so verdiente Sozialhistoriker wie Hans-Jürgen Teuteberg, Dietmar Rothermund, Jakob Tanner und Hasso Spode, retten sich, indem sie bei ihrer rasenden Fahrt durch die Jahrhunderte in einen zeitenfernen Lexikonstil ohne klare Subjektbestimmung verfallen und zuweilen auch Deutschland mit der Welt verwechseln und deutsche Geschichte mit Geschichte schlechthin. Rothermunds kenntnisreicher Beitrag zum Tee ist der einzige, wo so etwas wie Genuss aufblitzt. Hingegen findet das Problem der sozialen Distinktion gebührende Beachtung. Dabei wird allerdings fast nur nach Klassen differenziert. Der Genderaspekt, obwohl zentral, wird gerade mal von Hengartner mit Blick auf den Tabakkonsum angesprochen. Und einzig Tanner findet, wenn er vom Drogenkonsum spricht, einige Worte zur Bedeutung der Generationenfolge und der Jugendkultur. Dabei haben wir uns doch einst durch Alkoholgenuss als Erwachsene und durchs Zigaretten- bzw. Pfeifenrauchen, Sartre, Camus und Max Frisch kopierend als Intellektuelle inszeniert. Und auch die Saufbrüder, die am ,,Vatertag" grölend das Berliner Umland verunstalten, benötigen Bier, um sich in der Gruppe ihrer Männlichkeit zu vergewissern. Aber die neueren sozialanthropologischen Zugänge zum Problem des Konsums, etwa die Debatten um ,,constructive drinking", finden keinen Niederschlag in dem Buch.
Wenn das Buch trotzdem Beachtung verdient, dann liegt das an der Hartnäckigkeit, um nicht zu sagen Lust, mit der die Autoren, allen voran Hengartner, Spode und Tanner, sich zu zeigen bemühen, wie die Kategorien Genuss und Gefahr diskursiv konstruiert wurden. Diese Ausführungen sind ausgesprochen lesenswert, weil hier deutlich wird, wie schnell sich Einschätzungen wandeln können, und weil sie viel Moralin und Hypokrisie aufdecken. Was gestern Medikament war, kann Suchtmittel oder Genussmittel werden, und umgekehrt. Aber bei aller Sympathie für den Dekonstruktivismus sollte man nicht übersehen, dass Tabak, Alkohol und Opium erhebliche Gefahren in sich tragen. Ein Gang durch die onkologischen Abteilungen der Krankenhäuser und eine Fahrt über brandenburgische Alleen führen das jedem drastisch vor Augen. Die Geschichte der Genussmittel ist halt auch eine Geschichte des Elends, des Leids und der tödlichen Flucht. So ist das Buch weniger ein Handbuch als ein Schrei nach weiterer Forschung. Es nennt Richtungen, markiert Zugangsweisen und legt erste Fäden aus. Das nötige Problem- und Methodenbewusstsein ist da. Hoffen wir, dass der eine oder andere Faden aufgegriffen wird. Aber dann bitte mit etwas mehr Sinnenfreude. Vielleicht nach der Art von Richard Kleins Cigarettes are sublime (Durham N.C. 1993), das sich ebenso elegant wie subversiv mit der Kulturgeschichte der Zigaretten befasst.


Albert Wirz, Berlin


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