ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Anja Victorine Hartmann/Malgorzata Morawiec/Peter Voss (Hrsg.), Eliten um 1800. Erfahrungshorizonte, Verhaltensweisen, Handlungsmöglichkeiten (= Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte, Bd. 183, Abt. Universalgeschichte/Historische Beiträge zur Elitenforschung 1), Verlag Philipp von Zabern, Mainz 2000, X, 442 S., geb., 88 DM.


Der Band geht auf ein Kolloquium im März 2000 zurück, auf dem die Ergebnisse des von Heinz Duchhardt am Institut für Europäische Geschichte initiierten und von der Gerda-Henkel-Stiftung geförderten Forschungsprojektes ,,Eliten um 1800" vorgestellt und diskutiert wurden. Im Mittelpunkt des Projektes steht die Frage, wie europäische Eliten auf die großen politischen, gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und kulturellen Umbrüche der so genannten Sattelzeit zwischen 1750 und 1850 reagierten, wie sie diese beeinflussten und wie sich die Veränderungen letztlich auch auf die Rekrutierung von Eliten auswirkten. Das Projekt steht einerseits in einem Zusammenhang zu den Frankfurter und Bielefelder Großprojekten zum Bürgertum und zu einem seit einiger Zeit laufenden Berliner Projekt über ,,Adel und bürgerliche Führungsschichten". Es setzt aber andererseits noch einmal eigene Akzente. Zum einen hat man sich bei der Definition von Eliten zu einer größeren Offenheit entschlossen, sodass etwa auch ,,ländliche Eliten" in den großen Untersuchungskomplex einbezogen werden. Zum anderen richtet sich das Interesse am Verhalten von Eliten stark auf jene Umbruchsphase um 1800, in der alte staatliche und gesellschaftliche Strukturen schwanden oder in Fluss gerieten, der später das Elitenverhalten prägende industrialisierte Nationalstaat aber noch nicht existierte.
Die meisten Beiträge des in vier Teile gegliederten Sammelbandes stammen von den Mitarbeitern des Projektes, fünf weitere von Historikern und Historikerinnen, die sich in anderen Zusammenhängen mit einer ähnlichen Thematik beschäftigt haben. Im Mittelpunkt des ersten Teils stehen die ,,Lebensentwürfe und Lebensläufe" einzelner Personen. Die Beiträge reichen von G. Mahlerweins Überlegungen zur ,,Selbststilisierung ländlicher Eliten" in Rheinhessen, mit denen die in der Forschung bislang nur wenig untersuchten ländlichen Führungsschichten ins Blickfeld gerückt werden, über den Frankfurter Juden und Wechselmakler Hirschhorn, den Breslauer Professor Karl von Raumer, den Grevener Kaufmann Biederlack bis hin zum Berner Patrizier und Publizisten Karl Viktor von Bonstetten. Deutlich wird in allen Beiträgen, wie der gesellschaftliche Wandel, eine neue wirtschaftliche Dynamik und vor allem der massive politische Umbruch in Gestalt der Französischen Revolution und der napoleonischen Herrschaft zur Neubestimmung des eigenen Standorts zwangen. Zugleich wird aber vor allem in den Beiträgen über Biederlack (P. Voss) und Bonstetten (A. T. Gardiner) anschaulich herausgearbeitet, welche wichtige Rolle traditionale Elemente innerhalb der unumgänglich gewordenen Neuorientierung nach wie vor spielten.
Im zweiten Teil geht es um das Thema ,,Familie - Tradition und Dynamik". M. Wienfort befasst sich in ihrem stark von den Fragestellungen der Geschlechtergeschichte geprägten Beitrag mit der standesgemäßen Lebensführung einer preußischen Richterfamilie in der Mitte des 19. Jahrhunderts und zeigt einen Fall, in dem die Ehefrau in wichtigen Auseinandersetzungen mit dem Staat die Initiative ergriff. Die Bedeutung familiärer Netzwerke für den sozialen Aufstieg wie für die Abwehr statusbedrohender Entwicklungen wird in Beiträgen über die Ratsfamilien der preußischen Landstadt Herford (N. Rügge), die Sozialisation junger französischer Adeliger im deutschen Exil (K. Rance) und in der Aufstiegsgeschichte der Familie Enschedé im niederländischen Haarlem (F. W. Lantinck) thematisiert. Gerade der letztgenannte, sehr gelungene Beitrag unterstreicht die Bedeutung der Umbruchszeit um 1800 sehr anschaulich, weil erst die politischen Veränderungen der wirtschaftlich längst erfolgreichen Familie Enschedé auch den Aufstieg in die politische Elite der Stadt ermöglichten. Fragen der städtischen Eliten bilden im Übrigen auch den Schwerpunkt des dritten Teils ,,Gruppe - Integration und Abgrenzung". A. V. Hartmann fragt nach dem Verhältnis von Macht und Geld in der Stadt Genf. Sie zeigt, dass ökonomischer Erfolg keineswegs automatisch auch entsprechende politische Ämter nach sich zog, dies im Ancien Régime angesichts der Möglichkeiten indirekter Einflussnahme von den Betroffenen auch gar nicht unbedingt angestrebt wurde und erst der Umbruch um 1800 neue innerstädtische Entwicklungen in Gang setzte. Noch mehr als die Genfer Wirtschaftselite mussten die von I. Mittenzwei behandelten Wiener Großkaufleute, unter denen Protestanten und Juden einen hohen Anteil besaßen, indirekte Einflusswege suchen, um ihre Interessen gegenüber der politischen Führung in Stadt und Staat zu vertreten. Außerordentlich instruktive Beiträge liefern ferner B. Blessing mit ihrer Analyse der Karriere- und Sozialprofile Regensburger Ratsherren der frühen Neuzeit und Th. Maentel, der sich mit den Führungsschichten der Stadt Leipzig auseinandersetzt und dabei die politischen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen ebenso überzeugend umreißt wie den gesellschaftlichen Wandel und seine Folgen selbst. Während Maentel im Falle Leipzig besonderes Gewicht auf das bürgerliche Assoziationswesen als neuer sozialer Organisationsform legt, hebt F. Hatje in seinem Beitrag über das Ehrenamt in der Bürgergesellschaft Hamburgs hervor, dass die familiären Klientelsysteme bei der Besetzung politischer Ehrenämter auch im 19. Jahrhundert oft noch wichtiger sein konnten als die Zugehörigkeit zu den neuen Vereinen. In fast allen Beiträgen wird im Übrigen noch einmal deutlich unterstrichen, dass das alteingesessene Stadtbürgertum keineswegs zu den Verlierern des Wandels gehörte, sondern dass sich ein wichtiger Teil durch Anpassung an die Moderne und gleichzeitiger Bewahrung von scheinbar bewährten Verhaltensmustern in die Lage versetzte, den Wandel aktiv mitzugestalten und Führungspositionen zu behaupten.
Der vierte Teil des Bandes stellt vier Konzepte zur Vertiefung der neuen Forschungsansätze vor. Hier geht es um Reaktionen des Adels auf die tiefe Legitimationskrise, die mit den Umbrüchen um 1800 verbunden war (S. Grillmeyer u. W. D. Godsey), um die Folgen des Zusammenpralls gewachsener ständischer Bürgervorstellungen mit dem Staatsbürgermodell der Französischen Revolution in den Niederlanden (W. W. Mijnhardt) und um die Frage, inwieweit das in letzter Zeit wieder vieldiskutierte Generationenmodell Untersuchungen über die strukturelle Integration von Eliten befruchten kann (A. Schulz). Insgesamt bleibt festzuhalten, dass der vorgelegte Band die laufenden Debatten über Eliten im Übergangsprozess von der ständischen zur modernen bürgerlichen Gesellschaft bereichert. Besonders hervorzuheben ist zum einen, dass die lange Zeit Frühneuzeitforschung und Arbeiten zum 19. Jahrhundert trennende Epochenschwelle der ,,westeuropäischen Doppelrevolution" in nahezu allen Beiträgen überwunden wird und damit der Blick für den eigenen Charakter der Übergangszeit geschärft wird. Zum anderen ist positiv zu vermerken, dass Fragen der deutschen Geschichte zwar im Mittelpunkt stehen, durch die Beiträge zur Schweiz, zu Frankreich, Italien und Spanien aber auch ein wichtiger Schritt zu einer vergleichenden europäischen Betrachtung getan worden ist.


Hans-Werner Hahn, Jena


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