ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Lothar Gall, Krupp. Der Aufstieg eines Industrieimperiums, Siedler Verlag, Berlin 2000, 400 S., geb., 49,90 DM.


Krupp - kaum ein deutsches Unternehmen hat Zeitgenossen und Historiker über viele Jahrzehnte so fasziniert oder auch erregt wie dieser Konzern im Herzen des Ruhrgebietes. Paradigmatisch schienen sich in dessen Geschichte nicht nur der rasante industrielle Aufstieg des Deutschen Reiches zu einer der führenden Industrienationen, sondern auch - so die Kritiker - die verhängnisvolle Verknüpfung von Kapital, Politik und Krieg widerzuspiegeln. Die Urteile über Krupp klafften daher bisher weit auseinander: So lobten die Bewunderer das genial anmutende unternehmerische Geschick des Konzerns und ihrer Inhaber, allen voran Alfred Krupp, während die Kritiker deren Haltung gegenüber den eigenen Mitarbeitern, deren skrupelloses Gewinnstreben und die dabei zu verzeichnende Instrumentalisierung der Politik häufig in Bausch und Bogen verdammten. Realität und Fiktion verschwammen in diesen Darstellungen freilich allzu schnell, und - gestützt auf einzelne bekannt gewordene Dokumente - wurden aus politischen Vorurteilen gesicherte historische Erkenntnisse. Heute ist es trotz gelegentlicher ,,Aufgeregtheiten" ruhiger geworden um den Konzern. Diese Ruhe und historische Distanz zu vielen Ereignissen in der Geschichte des Unternehmens begünstigt zweifellos auch die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit diesem ehemaligen ,,Händler des Todes".
Auf der Grundlage des seit vielen Jahren zugänglichen Krupp-Archivs hat Lothar Gall, eine der großen Autoritäten unserer Zunft, nunmehr eine Biografie des Unternehmens vorgelegt. Diese setzt methodisch neue Maßstäbe, da sie die traditionelle Unternehmensgeschichte aus ihrer klassischen ,,Enge" herausführt; inhaltlich beendet Gall damit den unbefriedigenden, von Polemik und unwissenschaftlichem Herangehen gekennzeichneten Zustand der Krupp-Forschung, gibt zugleich aber auch wichtige Anstöße für neue, weitere Forschungen über den Weg des Konzerns im 20. Jahrhundert.
Aus der Sicht der Inhaber der Firma - Friedrich, Alfred und Friedrich Alfred Krupp sowie Gustav Krupps von Bohlen und Halbach - schildert Gall den zunächst langsamen, von erheblichen Rückschlägen begleiteten, seit der Jahrhundertmitte sich dann in immer schnellerem Tempo beschleunigenden Aufstieg der 1811 gegründeten Gussstahlfabrik in Essen. Allein die Zahlen, die der Verfasser in einem umfangreichen Anhang nachweist, sprechen diesbezüglich ,,Bände": Zwischen Gründung im Jahre 1811 und Kriegsausbruch 1914 vergrößerte sich die Zahl der Mitarbeiter von 2 (!) auf 81.001; der Umsatz stieg im gleichen Zeitraum von 136 ,,Reichsthalern" (= 317 Mark) auf atemberaubende 406,3 Millionen Mark; der Gewinn - der Stein des Anstoßes vieler Darstellungen - schließlich kletterte von 22.000 (!) Mark 1837, dem ersten Jahr ohne Verlust, auf 33,9 Millionen Mark.
Worin liegt nun das Geheimnis dieses Erfolges? Galls Antwort ist differenziert, aber doch eindeutig: zunächst und vor allem in dem von den Inhabern verkörperten Lebensgesetz, zu investieren und zu expandieren. Das dem Kapitalismus inhärente Prinzip der Gewinnakkumulation wurde dabei erstaunlicherweise oft genug außer Acht gelassen. Dann in dem Verständnis von der Firma als einem neuartigen, einzigartigen Gemeinwesen mit besonderen Regeln. Die Fabrik war in den Augen ihrer Inhaber nichts anderes als ein Abbild des Staates; diesem entsprechend wurde sie organisiert, wurden Entscheidungen getroffen und der Ausbau von oben vorangetrieben. Zugleich war dieses vormoderne, patriarchalische Selbstverständnis die Wurzel der Fürsorge für die Arbeiter, die durch Wohnungen, Lesehallen und Konsumanstalten an die Firma gebunden, zu ,,Kruppianern", aber auch, nicht zu vergessen, diszipliniert wurden. Schließlich war es die Nähe zum Staat und die damit verknüpfte Sicherung eines festen Abnehmers hochwertiger, gewinnbringender Rüstungsgüter. Kanonen aus Gussstahl, einem völlig neuen Material, für die Armeen nahezu der ganzen Welt sowie besonders gehärtete Panzerplatten für die wilhelminische Flotte und - in bescheidenem Umfang - für andere vom Fieberwahn des Navalismus erfasste Staaten verliehen der Firma eine außergewöhnliche Stellung auf dem Rüstungsmarkt. Vergleichsweise hohe, kontinuierliche Gewinne waren die Folge. Auch wenn Gall, wie angemerkt werden sollte, die hohen Investitionen und die Besonderheiten des labilen Rüstungsgeschäftes vielleicht etwas unterschätzt, stellt er klar, dass der Konzern, entgegen vieler Legenden, nie primär ein Rüstungsunternehmen war. Am Anfang dieser Beziehung zwischen Konzern und Staat stand vielmehr der nahtlose Radreifen - unentbehrlich im Zeitalter der Verkehrsrevolution und bis heute das Symbol der Firma. In diesem wie auch in anderen Produkten spiegelten sich ein an Besessenheit grenzender Wille zu Innovation und Expansion sowie ein besonderes Gespür für die Bedürfnisse und Chancen des Marktes.
Gall zeigt diese Entwicklung in ihren vielen Facetten auf, beschreibt das innere Gefüge der Firma aus dem Blickwinkel des ,,absoluten" Herrschers, der sich zwangsläufig und eher wider Willen, zum ,,konstitutionellen" Monarchen wandelte wie auch aus der Perspektive der Arbeiter und Angestellten oder Beamten, wie sie hießen.
Einfühlsam sind auch die Porträts der Inhaber. Vor allem der vielfach unterschätzte, zugleich unglückliche Erbe Friedrich Alfred erscheint in einem neuen Licht, das seine Modernität und Durchsetzungsfähigkeit deutlich hervortreten lässt. Bestechend und hilfreich für das Verständnis der ,,Unternehmerphilosophie" sind auch die von Gall aufgezeigten Parallelen zwischen Alfred Krupp und Bismarck; beide waren ,,weiße Revolutionäre" und versuchten nach dem Prinzip des ,,Fert unda, nec regitur" den Herausforderungen der Zeit zu begegnen, stießen dabei aber zunehmend auf größere Schwierigkeiten. In einem langsamen Prozess begann der Konzern daher sich von einem Staat im Staate zu einer ,,Art Eigenbetrieb des kaiserlichen Nationalstaats" (S. 339), einer seiner Säulen zu entwickeln. Indem er sich an diesen in eigentümlicher Weise band, ging er mit ihm allerdings auch unter und verstand es erst nach schließlich zwei bitteren Niederlagen, einen neuen, zukunftsträchtigen Weg in die Moderne einzuschlagen.
Wirtschafts- und Sozialgeschichtler mögen in dieser Darstellung, die sich aus guten Gründen auf 350 Seiten beschränkt, hier und da Unebenheiten und Defizite beklagen. Derartige Kritik erscheint jedoch in vielem beckmesserisch. Sie verkennt die Absicht des Biografen, eine gut lesbare, komprimierte und dennoch außerordentlich lehrreiche Geschichte eines der bedeutendsten deutschen Unternehmen und seiner Gründer zu schreiben. Dabei gelingt es Gall zugleich in der von ihm meisterhaft beherrschten Kunst historischer Synthesen, ein spannendes, politisch, gesellschaftlich und wirtschaftlich ereignisreiches Zeitalter - das 19. Jahrhundert - erneut ins kollektive Gedächtnis zu rufen.


Michael Epkenhans, Bardowick


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