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Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Étienne Fouilloux, Une église en quête de liberté: La pensée catholique française entre modernisme et Vatican II: 1914-1962, Desclée de Brouwer, Paris 1998, 325 S., brosch., 160 FF.


Mit dieser Studie liegt endlich eine souveräne Abhandlung der intellektuellen Strömungen innerhalb des französischen Katholizismus in den ersten zwei Dritteln des zwanzigsten Jahrhunderts vor. Auf dreihundert Seiten stellt Étienne Fouilloux sowohl die von den jeweiligen Päpsten autorisierte römische Version des Katholizismus als auch die politischen und intellektuellen Vorstellungen ihrer Widersacher im frankophonen Teil Europas in all ihrer schillernden und widersprüchlichen Vielfalt überzeugend dar. Dabei ist es ein Hauptanliegen des führenden Vertreters der gegenwärtigen französischen Religionshistoriker, aufzuzeigen, dass weder Rom noch Roms Gegenspieler mit einer Stimme sprachen. Beide Strömungen, sowohl der Vatikan als auch die reformorientierten Kaderschmieden der Dominikaner um Le Saulchoir und der Jesuiten auf La Fourvière, können nur unter Anwendung von unangebrachten Verallgemeinerungen als zwei klar konturierte Tendenzen angesehen werden.
Stark vereinfacht periodisiert Fouilloux die jeweiligen Positionen der ,,Stellvertreter Gottes" folgendermaßen. Nach der vom antimodernistischen Kurs geprägten Amtszeit Pius X., der wenige Wochen nach Ausbruch des Ersten Weltkrieges starb, temperierte sein Nachfolger Benedikt XV. die Repressionsmaßnahmen gegenüber einigen Bestrebungen von Vertretern der Kirche, sich mit der Moderne anzufreunden, ohne jedoch gänzlich umzuschwenken. Die ersten Amtsjahre von Benedikts Nachfolger, Pius XI., waren wiederum von verschärften Repressalien gekennzeichnet. Das Jahr 1926 sollte hier aber nochmals einen Wendepunkt markieren. Die ständig markanter werdenden Versuche des Milieus um die von Charles Maurras geführte Action Française, Religion und (in diesem Falle rechtsradikale) Politik als separate Sphären anzusehen, in denen das Zeitliche einen hohen Grad von Autonomie annahm, wurden von Pius XI. in einer Aufsehen erregenden Aktion autoritativ und autoritär beendet.
Im Anschluss an diese Maßnahmen, die nicht als Anpassung an reformerische Tendenzen, sondern als Reaktion auf politische Unabhängigkeitsbestrebungen interpretiert werden müssen, eröffneten sich jedoch zum ersten Mal seit Jahrzehnten einige Möglichkeiten für reformorientierte Theologen, ihre Ansichten in aller Öffentlichkeit vorzustellen. Denn hatte bis 1926 ein ultraorthodoxer Thomismus in der Form eines höchst spekulativen Scholastizismus den Ton innerhalb der römisch-katholischen Kirche angegeben, so ermöglichte der Skandal um die Action Française das Erstarken eines alternativen Verständnisses thomistischer Tradition. Ein konstruktiver Dialog mit der Moderne in all ihren Schattierungen zog nun zum ersten Mal seit langer Zeit nicht zwangsläufig Interdiktion, Berufsverbote und Exil nach sich. Von 1928 bis 1935 verzeichnete der französische Katholizismus "eine seit langem nicht mehr gesehene Phase der Innovation." (S. 85)
Ab Mitte der dreißiger Jahren bis in die ersten Kriegsjahre hinein erstarkte jedoch wieder die konservative Gegenreaktion, die Anfang 1942, "als die Deutschen vor Moskau und die Japaner in Singapur standen"(S. 90), mit der Indizierung der von Marie-Dominique Chenu verfassten Une école de théologie: Le Saulchoir ihren Höhepunkt fand. Doch gerade dem Kriegserlebnis ist es zu verdanken, dass - trotz des päpstlichen Konservatismus - der französische Katholizismus von 1941 bis 1944 von einer Welle der Erneuerungen gekennzeichnet war, die nur "mit jener des Zeitraums 1928-1935 verglichen werden kann." (S. 93)
Außer der Unmöglichkeit, die Welt des Katholizismus während der nationalsozialistischen Okkupation weiter Teile Europas von Rom aus zu dirigieren, sind hier vor allem die materiellen und psychologischen Bedingungen, unter denen der Klerus seelsorgerische Arbeit leisten sollte, verantwortlich zu machen. Unter den Bedingungen der Deportations- und Straflager des Dritten Reiches war es unmöglich, die Feinheiten römisch-katholischer Liturgie in der Praxis konsequent anzuwenden und gewissenhaft zu wahren. Die Normen der traditionellen Ausbildungspraxis an Priesterseminaren und katholischen Universitäten konnten aus denselben Gründen ebenfalls nicht eingehalten werden. Und so wurden trotz päpstlicher Kritik an mancher dieser Neuerungen die Jahre 1941-1948 zu einer Periode der Öffnung des Katholizismus - und dies nicht nur in Frankreich.
Dann allerdings schlug das Pendel wieder um. Ein Gegenkurs wurde verfolgt, der die fünfziger Jahre hindurch anhielt. "Sowohl in der Welt der Ideen als auch der Welt der Taten stand Rom 1958 dem Jahre 1907 [als Pius X. eine antimodernistische Hexenjagd einläutete] näher als 1962." (S. 302) Erst die von Papst Johannes XXIII. im November 1962 überraschend autorisierte Abwendung vom strikt antimodernistischen Kurs während der Beratungen des Zweiten Vatikanischen Konzils bereiteten diesem ein jähes Ende.
Soweit der kurze Überblick über das Hin und Her der miteinander konkurrierenden Strömungen innerhalb des römischen und französischen Katholizismus. Dabei unterstreicht Fouilloux, dass selbst zu Hochzeiten des antimodernistischen Konservatismus oft widersprüchliche Stimmen und Dokumente aus Rom die Sage vom monolithischen Block des Vatikans relativierten und letztendlich widerlegten. Doch, genauso wie Rom nie mit einer Stimme sprach, so charakterisierten die unterschiedlichsten Tendenzen und Strömungen das intellektuelle Lager der Widersacher Roms. Wohl die innovativsten und überzeugendsten Passagen dieser Studie beschreiben die Eigentümlichkeiten, aber auch die Gemeinsamkeiten dieser Befürworter einer `neuen Theologie'.
Ein Hauptanliegen des Autors ist die Betonung der Tatsache, dass die theologischen Modernisierer versuchten, einen dritten Weg zwischen radikalen Befürwortern der Moderne und ebenso radikalen Antimodernisten zu ebnen. Fouilloux klassifiziert das reformerische Lager in zwei mehr oder weniger klar voneinander abgegrenzte Schulen. Die vielleicht bekannteste kann als Verfechterin eines erneuerten Thomismus angesehen werden, und ihre Wortführer waren oft Mitglieder des Dominikanerordens. Die zweite Tendenz war weniger klar abgegrenzt, und ihre Kontrahenten werden einmal von Fouilloux als Personen bezeichnet, die "sich auf die Seite des Subjekts auf der Suche nach Wahrheit stellen." (S. 109) In derselben Passage seiner Studie charakterisiert Fouilloux sie als Philosophen und Theologen "der Aktion, der Immanenz, der Intuition, der Person, des Gewissens, der Existenz." (S. 109) Einige der Exponenten dieser zweiten reformerischen Tendenz waren Mitglieder des Jesuitenordens; aber Henri Bergson und Marcel Blondel gehörten ebenso dazu.
Beide Richtungen - "jesuitischer Blondelismus und dominikanischer Thomismus" (S. 195) - verband ihr gemeinsamer Glaube an die Notwendigkeit des Katholizismus, "sich gegenüber den vielfältigen Tendenzen in dieser Welt, in der wir leben, zu öffnen." (S. 243) Die Mittel dazu wurden, wie oft bei christlichen Reformbewegungen, in einer Rückbesinnung auf die Ursprünge des Christentums und die entsprechenden Rituale und Texte gesehen. Beide Richtungen wurden gleichermaßen die Zielscheibe wiederholter päpstlicher Kritik.
Wie bereits angedeutet, lokalisiert Étienne Fouilloux den Durchbruch dieser Reformtendenzen im Zweiten Vatikanischen Konzil, einer ideologischen und theologischen Kehrtwendung, die der Autor zu Recht keinesfalls als zwangsläufig einstuft. In seinem Fazit der multiplen Phasenverschiebungen zwischen 1926 und 1962 warnt Fouilloux: "Man darf nicht vergessen, dass sich im hier analysierten Zeitraum Knospen bildeten, die nicht unbedingt eine Blütenpracht hervorbringen mussten." (S. 307) Heutzutage, wo führende Anwärter auf das Amt des ,,Stellvertreter Gottes", wie der genuesische Kardinal Dionigi Tettamanzi, allen Ernstes Zehn-Stufen-Programme zur Teufelsvertreibung in der katholischen Öffentlichkeit präsentieren, mag es dahingestellt bleiben, ob die Errungenschaften des Zweiten Vatikanischen Konzils wirklich die Blüten sind, als die Fouilloux sie einstuft, oder nicht doch nur einige prachtvolle Knospen, die dann noch vor der vollen Blüte exkommuniziert werden.
Wie dem auch sei, Une église en quête de liberté (Eine die Freiheit suchende Kirche) ist ein inhaltlich und sprachlich überzeugender Überblick der wichtigsten Auseinandersetzungen und Errungenschaften des französischen und europäischen Katholizismus im zwanzigsten Jahrhundert. Das Buch weist einmal mehr Étienne Fouilloux als führenden europäischen Religionshistoriker aus. Es bleibt zu hoffen, dass dieses als Standardwerk anzusehende Oeuvre einen deutschen Verleger finden möge.


Gerd-Rainer Horn, Huddersfield/West Yorkshire


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