Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online
Bernd Faulenbach/Annette Leo/Klaus Weberskirch, Zweierlei Geschichte. Lebensgeschichte und Geschichtsbewusstsein von Arbeitnehmern in West- und Ostdeutschland (= Geschichte und Erwachsenenbildung, Bd. 11), Klartext Verlag, Essen 2000, 487 S., kart., 48 DM.
Zehn Jahre nach dem Epochenjahr 1989 und der deutschen Vereinigung will dieses Buch ausdrücklich nicht als Beitrag zur Jubiläumsliteratur verstanden sein. Doch sieht Bernd Faulenbach, der im Vorwort auf diesen Hinweis Wert legt, in dem Buch eine Chance zum besseren Verständnis der gegenwärtigen Situation in Deutschland. Den Autoren geht es um ,,das Beziehungsverhältnis von Lebensgeschichte und Geschichtsbewusstsein, in dem Vergangenheit und Gegenwart, erlebte und erlernte Geschichte, Erinnerungen und Interessen, individuelle und Kollektive Erfahrungen, geronnene Geschichte und aktuelle Probleme ineinandergreifen". (S. 9) Ein so ambitioniertes Anliegen macht skeptisch, birgt doch die kaum noch überschaubare Reihe von Publikationen zur jüngsten deutschen Geschichte, insbesondere solcher zur Geschichte der DDR, der deutschen Vereinigung und zum Transformationsprozess der ,,neuen" Bundesländer, manche einschlägige Untersuchung auf der Grundlage lebensgeschichtlicher Interviews. Dass die Kunst des Fragens und der Interpretation dabei mitunter auch seltsame Blüten getrieben hat, steht auf einem anderen Blatt. Doch mag hierin ein wichtiges Argument gelegen haben, wenn die Autoren dezidiert und mit erstaunlichem Erfolg um methodische Transparenz bemüht waren, sowohl bei der Bestimmung des Gegenstandes, als auch bei der Interviewführung und der Auswertung der Texte.
Dem Buch liegen die Ergebnisse eines Forschungsprojektes zugrunde, das, wie auch der Druck des Bandes, von der Volkswagen-Stiftung gefördert wurde. Um es vorweg zu nehmen: Den drei Autoren, Bernd Faulenbach als Leiter des Vorhabens, Annette Leo mit der Erfahrung der DDR im Hintergrund und Klaus Weberskirch mit einer bundesrepublikanischen Sozialisation, ist ein überaus konsistentes und, in diesem Genre durchaus nicht selbstverständlich, ein gut lesbares Produkt gelungen. Die Untersuchung beruht im Wesentlichen auf Intensivinterviews mit Menschen aus Brandenburg und Nordrhein-Westfalen. Es sind ehemalige oder auch noch beruflich aktive Mitarbeiter des Dortmunder Krupp-Hoesch-Werkes, des Nokia-Werkes Bochum, des Stahlwerkes Hennigsdorf bei Berlin und des Halbleiterwerkes Frankfurt/Oder, insgesamt 68 Frauen und Männer, Arbeiter und Angestellte. Die Spanne der Geburtsjahrgänge reicht von 1912 bis 1975, strukturiert nach den Alterskohorten 1927 und älter, 1928 bis 1937, 1938 bis 1947, 1948 bis 1957, 1958 und jünger. Nicht unerwähnt sollte bleiben, dass sich diese Kohortengliederung eher an westdeutschen Erwerbsbiographien orientierte, im Osten scheinen, so Faulenbach, die Generationenunterschiede weniger ausgeprägt gewesen zu sein. Die Auswahl der Betriebe war mit jeweils zwei Betrieben der Stahlbranche und zwei Elektronikbetrieben vom Gesichtspunkt der Vergleichbarkeit geleitet. Interviewpartner konnten mit Hilfe der Betriebsräte gewonnen werden, wobei die jeweilige Belegschaftsstruktur nach Alter und Geschlecht Berücksichtigung fand.
Im Einführungskapitel erläutert Faulenbach Fragehorizont und Fragestellungen. Ausführlich wird, vor allem in Anlehnung an Jörn Rüsen, der Begriff ,,Geschichtsbewusstsein" problematisiert. Die Autoren interessierten sich besonders dafür, wie Geschichtsbewusstsein nach dem Ende der DDR und angesichts der Erfahrung der Wiedervereinigung strukturiert ist, welchen Einfluss dieser Umbruch auf das Geschichtsbewusstsein ausübte und wie der Umbruch selbst ,,verarbeitet" wurde. Die entsprechenden Fragen werden an Arbeitnehmer gerichtet, deren Leben in der alten Bundesrepublik, in der DDR und nunmehr im vereinten Deutschland einen Erfahrungshintergrund bildet, dessen Einflüsse auf das Geschichtsbewusstsein Gegenstand der Untersuchung sind. Hierzu wird ein theoretisch überzeugend reflektierter Fragenkatalog präsentiert, dem die wohl berechtigte Annahme unterlegt ist, dass kollektive und individuelle Erfahrungen das Geschichtsbewusstsein entscheidend prägten. Besonders interessieren die jeweilige Sicht auf die Geschichte der Bundesrepublik und der DDR, auf das Wechselverhältnis beider zueinander, auf ihre Einordnung in größere historische Zusammenhänge, auf die NS-Zeit und Analogien zum SED-System. Faulenbach wirft in dem Zusammenhang das Problem auf, wie weit die Tiefendimension des Geschichtsbewusstseins der gegenwärtigen deutschen Gesellschaft reicht und schließt nicht aus, dass deren Horizont ,,nur sehr bedingt" über das 20. Jahrhundert hinausgeht. Den empirischen Befunden hierzu misst er, sicher berechtigt, Relevanz für Politik und Bildungsarbeit zu. Pointiert werden Forschungsstand und Vorgehensweise referiert, sodass die Leser bestens vorbereitet in die Lektüre der folgenden Kapitel entlassen werden.
Im zweiten Kapitel bietet Bernd Faulenbach einen vergleichenden Überblick zur Situation der vier Betriebe und der Arbeitnehmer in den neunziger Jahren. Die Befunde spiegeln beträchtliche Unterschiede: Während die beiden Bochumer und Dortmunder Unternehmen sich durch Höhen und Tiefen in der Wettbewerbslandschaft behaupteten, sind von den Werken in Hennigsdorf und Frankfurt/Oder um die Mitte des Jahrzehnts nur noch Rudimente geblieben, auf die das Wort von den ,,industriellen Kernen" allenfalls sehr bedingt zutreffen mag. ,,Nicht nur die Geschichte differiert, sondern auch die gegenwärtige Lage, die zum Zeitpunkt der Interviews im Westen deutlich günstiger war als im Osten, obgleich sich auch die Arbeiter im Westen Sorgen machten und dafür Grund hatten." (S. 41) Ganz offensichtlich hinterließ diese Situation ihre Spuren in den Berichten der Befragten.
Annette Leo stellt im dritten Kapitel anhand von acht exemplarisch ausgewählten Interviews Fallstudien vor, in denen jeweils vier Interviewpartner aus Ost und West, vier aus dem Stahlbereich und vier aus der Elektronikbranche, sowie, in Anlehnung an Karl Mannheims Generationentheorie, vier Generationen zu Wort kommen: die Kriegsgeneration, die HJ/FDJ-Generation, die erste und die zweite Nachkriegsgeneration. Die Autorin verzichtet auf die Wiedergabe langer Interviewpassagen, sondern bedient sich einer Darstellungsform, die sie treffend als ,,essayistische biographische Skizzen" bezeichnet. Ihr Versuch, aus den Interviews lebensgeschichtliche Verläufe, markante biographische Brüche und Schlüsselerlebnisse zu rekonstruieren und damit auch die ,,Sinnzentren" der Erzählungen herauszuarbeiten, beeindruckt. Das schließt nicht aus, dass man über manche Interpretation streiten kann. Aus gutem Grund verweist Leo mehrfach auf Widersprüche in den Erzählungen und sachliche Unrichtigkeiten. Solche sind an nicht wenigen Stellen anzutreffen und deuten vielleicht auch an, wie man autobiographische Retuschen vornimmt. Gleichwohl lassen die Erinnerungen der Interviewten generationen- und situationsabhängige Muster erkennen. Für die Älteren blieben die Kriegs- und Nachkriegszeit prägend. Sie und auch die Vertreter der ersten Nachkriegsgeneration sahen ihren Lebensweg stärker in politischen Kontexten, nicht so die Vertreter der jüngeren Generation. Bei den ,,DDR-Biographien" scheint Leo auf Anzeichen eines späten Verklärungseffekts gestoßen zu sein, der unter anderem dann aufscheint, wenn die repressiven Seiten des DDR-Systems ausgeblendet oder gar verteidigt werden oder wenn man die frühen Jahre der DDR als ,,gute Jahre" erinnert.
Im ersten Teil des vierten Kapitels fragen Bernd Faulenbach, Annette Leo und Klaus Weberskirch nach der Bedeutung konkreter historischer Ereignisse und Erfahrungen für das Geschichtsbewusstsein. Zu diesem Zweck untersuchen sie anhand der Interviews die Wahrnehmung einiger historischer und gegenwärtiger ,,Komplexe", so der ,,Wende" 1989/1990, der vorausgegangen Fluchtwelle und Demonstrationen, des Falls der Mauer, der Wahlen und der Währungsunion von 1990 sowie des Problems der nationalen Einheit. Im Ergebnis sind asymmetrische Erfahrungen zu verzeichnen. Während die Westdeutschen, in der Regel weniger direkt von dem Geschehen betroffen, einen eher distanzierten, vor allem aber pragmatischen Blick darauf hatten, nahmen die Ostdeutschen die ,,Wende" und ihre Folgen viel unmittelbarer, existentieller und persönlicher wahr. Der Umbruch von 1989/1990 sei deshalb für deren historisch-politisches Bewusstsein viel prägender, konstatieren die Autoren. Die folgenden Teile dieses Kapitels stammen aus der Feder von Annette Leo, die nach dem Bild der Bundesrepublik und der DDR aus Ost- und Westperspektive fragt und der jeweiligen Sicht auf die nationalsozialistische Vergangenheit deren Gegenwartsbezug nachgeht. Sie gelangt zu einem ambivalenten Ergebnis, sowohl in der Ost-West-Dimension als auch im Generationenvergleich. Im Osten überlagert 1989/1990 deutlich die Erinnerung an die NS-Zeit. Diese jedoch wurde vor allem mit den Krieg in Zusammenhang gebracht. Im Westen hingegen assoziierte man, generationell unterschiedlich, den Nationalsozialismus eher mit dem Holocaust. Bei allerdings ,,ausgesprochen rudimentären" Kenntnissen über das Dritte Reich scheint sich ein ,,gewisser Minimalkonsens als Ausdruck korrekten politischen Verhaltens [...] etabliert" zu haben. (S. 340 f.) Der folgende, von Bernd Faulenbach verfasste Abschnitt, zielt auf das Verhältnis heutiger Arbeitnehmer zur Geschichte der Arbeiterbewegung. Für die beiden Betriebe im Ruhrgebiet unterscheidet er in dieser Frage Traditionalisten und Indifferente. Wenngleich deren Verhältnis zur Arbeiterbewegung ,,alles andere als konsistent" sei, gebe es aber eine Identifikation mit den Gewerkschaften. Freilich spiele dabei die historische Dimension keine besondere Rolle. In den beiden brandenburgischen Betrieben ergab sich ein ganz anderes Bild. Hier traf man zwar durchaus auf historische Reminiszenzen, so auf teilweise idealisierte Vorstellungen vom Antifaschismus, doch insgesamt seien Begriff und Geschichte der Arbeiterbewegung im Osten weniger präsent als im Westen. Lakonisch hält Faulenbach fest, die ,,Verstaatlichung" der Arbeiterbewegung durch die SED habe zur Konsequenz gehabt, ,,dass mit der Auflösung des Staates auch die Arbeiterbewegung an ihr Ende kam." (S. 364) Die hier sichtbare Problemlage wird durch zwei Exkurse zur Erinnerung an lokale historische Ereignisse zusätzlich erhellt: Annette Leo geht den Spuren des 100-Tage-Streiks von 1929 und des 17. Juni 1953 in Hennigsdorf in der offiziellen DDR-Traditionspflege und in den Berichten der Interviewten nach, während Klaus Weberskirch den September-Streik von 1969 auf der Dortmunder Westfalenhütte behandelt. Dass die Erinnerungen unmittelbarer Akteure an 1953 und 1969 noch recht dicht sind, verwundert nicht, indes hält sich das Interesse der Jüngeren daran, gelinde gesagt, in Grenzen. Ob und inwieweit dies auf veränderte Rahmenbedingungen zurückzuführen ist, wäre sicher weiter zu diskutieren. Annette Leo beschließt das Kapitel mit einer längeren Betrachtung zur ,,Rolle historischer Persönlichkeiten" im Geschichtsdenken der Interviewpartner. Da geht es um Marx, Engels, Lenin und Stalin, um Brandt, Schmidt und Wehner, um Adenauer und Ehrhard, Pieck, Ulbricht und Honecker, um Liebknecht, Luxemburg und Thälmann, schließlich auch noch um Friedrich II. von Preußen, Bismarck und Kaiser Wilhelm II. Mit Letzteren mochte sich offenbar kaum einer der Interviewten identifizieren, auch war bei den Westdeutschen ein distanzierteres, auf jeden Fall differenzierteres Bild von diesen historischen Gestalten anzutreffen, während die Ostdeutschen zumindest tendenziell eine positive Bewertung der Haupt- und Leitfiguren aus der KPD/SED-Tradition nicht ausschlossen. Die Ergebnisse dieses vierten Kapitels zusammenfassend, betonen die Autoren das Diffuse der historischen Erinnerung, die geringe Tiefendimension des historischen Bewusstseins, die stark nachwirkenden Prägungen aus der Zeit der Zweistaatlichkeit und die daraus resultierenden Unterschiede der Erinnerung, des Wissens und des Traditionsverständnisses.
Auf der Grundlage der hier ausgebreiteten Forschungsergebnisse analysiert Bernd Faulenbach im sechsten Kapitel ,,die das Geschichtsbewusstsein prägenden Kategorien, Wertorientierungen, leitenden Hinsichten und grundlegenden Deutungsmuster" (S. 425). Wichtig erscheint hier, dass bei der Frage nach kollektiven Identitäten der befragten Arbeitnehmer Europa wenig Aufmerksamkeit beansprucht. Auch im Hinblick auf das Nationalbewusstsein hielten sie sich zurück. Wichtiger nahm man eine lokale, teilweise auch regionale (Landes-) Identifikation, und auch Hinweise auf eine Identifikation mit den Betrieben gab es. Faulenbach verweist auf Schwierigkeiten, den individuellen Platz in der Geschichte und mit Hilfe historischer Kenntnisse zu bestimmen. Vor allem die Älteren sahen sich eher in einer passiven, duldenden Rolle. Die Aussagen über Geschichte und Gegenwart ließen, im Osten mehr als im Westen, Schwierigkeiten sichtbar werden, zwischen Politik und Wirtschaft zu unterscheiden, wie man auch Unbehagen an der repräsentativen Demokratie artikulierte. Auf der sozialen Stufenleiter sah man sich eher unten, hielt viel von sozialer Gleichheit und klagte über den Verlust an Solidarität. Soziale Sicherheit artikulierte man auf beiden Seiten als Grundbedürfnis, nicht zuletzt, weil der Gedanke an die Zukunft Sorge erzeugt.
Abschließend unternimmt Faulenbach den Versuch, Determinanten des Geschichtsbewusstseins zu ordnen und zu abzuwägen. Danach ergab die Untersuchung keine klaren geschlechtsspezifischen Unterschiede im Geschichtsbewusstsein. Dagegen bestand ein direkter Zusammenhang zwischen Qualifikation und historischem Wissen. Ansätze eines kollektiven Gedächtnisses fanden sich bei Beschäftigten bereits länger bestehender Betriebe. Regionale Herkunft und Wohnort hatten für das Geschichtsbewusstsein allenfalls indirekte Bedeutung. Dagegen erwiesen sich die generationelle Zugehörigkeit und Ost-West-Prägungen als Faktoren von bedeutender Prägekraft. Nicht auszuschließen ist vor diesem Hintergrund, daß Geschichtsbewusstsein in Deutschland auf diese Weise und für einen schwer abzusehenden Zeitraum in größerer Spannweite widersprüchlich strukturiert bleibt. Allerdings, unterstreicht der Autor, gehe es dabei nicht mehr nur um die Bewältigung der Teilungsfolgen, sondern um die Zukunft der Demokratie. Alles das sind höchst anregende und über weite Passagen geradezu spannend zu lesende Fakten und Überlegungen. Das Buch ist für einen Leserkreis von Interesse, der weit über die engen Fachzirkel der Geschichtswissenschaft und der politischen Bildung hinausreicht.
Peter Hübner, Potsdam