Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online
Michaela Ellmann, Hans Lukaschek im Kreisauer Kreis. Verfassungsrechtliche und verfassungspolitische Beiträge zu den Plänen des Kreisauer Kreises für einen Neuaufbau Deutschlands, Verlag Ferdinand Schöningh, Paderborn etc. 2000, 200 S., kart., 48 DM.
Franz Graf von Schwerin, Helmuth James Graf von Moltke: Im Widerstand die Zukunft denken. Zielvorstellungen für ein neues Deutschland, Verlag Ferdinand Schöningh, Paderborn etc. 1999, 212 S., kart., 48 DM.
Beide Arbeiten sind als juristische Dissertationen an der Universität Hamburg entstanden, die Drucklegung wurde durch die Görres-Gesellschaft unterstützt. Die Rezensentin ist Historikerin, kann also nur prüfen, was diese Arbeiten für den Bereich der Geschichtswissenschaft leisten.
Beide Verfasser beginnen mit einer Biographie. Dass sie für Moltke knapper ausfällt als für Lukaschek, stört nicht, denn zu Moltke gibt es eine Reihe von Veröffentlichungen mit Aussagen zur Biographie, während das für Lukaschek nicht zutrifft. Lukaschek hat den Widerstand gegen Hitler nicht mit dem Leben bezahlt. Wie auch die anderen Überlebenden des Kreisauer Kreises galt ihm nicht primär das Interesse der Forschung. Der gut recherchierte und belegte sowie sprachlich ansprechende biographische Abriss von Michaela Ellmann füllt eine Lücke in der Widerstandsliteratur.
Michaela Ellmann kommt auf einzelne, für die Widerstandsarbeit wichtige Episoden im weiteren Verlauf ihrer Arbeit zurück. Sie geht von der These aus, dass Lukascheks Beiträge für die Neuordnungspläne des Kreisauer Kreises zum einen durch seine Katholizität, zum anderen durch seine beruflichen Erfahrungen in Schlesien während des Ersten Weltkrieges, in der Abstimmungszeit gemäß dem Versailler Vertrag und in der Weimarer Zeit in verschiedenen Funktionen bis hin zum Oberpräsidenten von Oberschlesien ausgeprägt wurden.
Da von Lukaschek selbst keine umfangreichen Zeugnisse vorliegen, geht die Verfasserin den methodischen Weg, dass sie Andeutungen verdichtet durch Rückgriff auf greifbare Texte. So wird z.B. unter der Überschrift "Der katholische Glaube als Grundgedanke" in mehreren, allerdings nur vage mit der Person Lukaschek verbundenen Teilabschnitten eingegangen auf Enzykliken, auf Philosophen wie Theodor Vischer, auf die Naturrechtslehre von Thomas von Aquin. Ellmann vermittelt in diesen Teilen ihrer Arbeit durchaus eine Menge an Wissen. Der Rückbezug auf die Person Lukascheks überzeugt allerdings nur punktuell: Die Person wird reduziert als eine Art Stichwortgeber oder Anknüpfungspunkt.
Das methodische Vorgehen ist auch im weiteren Verlauf der Arbeit ähnlich. So berichtet sie über das Bildungssystem während der Weimarer Zeit sowie die schul- und hochschulpolitischen Vorstellungen des Kreisauer Kreises auf etwa 13 Seiten, für Lukascheks Position kommen noch einmal 7 Seiten dazu. Wenn man sich diese dann genauer anschaut, wird nur ein Bruchteil davon mit der Darstellung von dessen Positionen gefüllt. In den übrigen Kapiteln zur Neugliederung Europas, zum Minderheitenschutz , zum geplanten Wahlsystem oder zur strafrechtlichen Ahndung von NS-Verbrechen ist viel Wissenswertes dargelegt, was aber nicht unbedingt allein Lukaschek betrifft.
Ellmann weitet ihre Arbeit über die Zeit des Kreisauer Kreises aus und beschreibt das politische Engagement Lukascheks in der Nachkriegszeit, seinen gescheiterten Versuch, Kreisauer Vorstellungen in die CDU-Politik der frühen Nachkriegszeit einzubringen, sein politisches Wirken in der Sowjetischen Besatzungszone und später im Kabinett Adenauer.
Michaela Ellmann hat als grundlegende Quelle für die Mitarbeit Lukascheks im Kreisauer Kreis zwei aus dessen Feder stammende Texte benutzt, einmal "Was war und wollte der Kreisauer Kreis?", eine Rede von 1958, zum Zweiten einen Aufsatz aus einer pädagogischen Zeitschrift von 1959. Dass ex post geschriebene Erinnerungen verklären, ist bekannt und dürfte auch hier anzunehmen sein. Leider gibt die Verfasserin ihren Lesern nicht die Gelegenheit, das durch eine Veröffentlichung dieser nicht leicht zugänglichen Texte selbst zu überprüfen. Stattdessen lässt sie im Quellenanhang Grundsatztexte der Kreisauer ohne Quellenangabe abdrucken, die längst bekannt sind, weil Ger van Roon sie in seiner Arbeit "Neuordnung im Widerstand" bereits 1967 im Quellenanhang publiziert hat.
Verwundert hat die Rezensentin die Kleingliedrigkeit in Inhaltsverzeichnis und Durchführung. Häufig wird ein Gliederungspunkt auf nur einer Seite abgehandelt, selten geht ein Punkt über mehr als eine Seite. Nicht immer ist die Hierarchie von übergeordnetem Thema zu den Unterpunkten logisch zwingend. Da auch die zweite hier zu rezensierende Arbeit von Franz von Schwerin so strukturiert ist, wird das möglicherweise juristenspezifisch sein.
Franz von Schwerin hat sich die Aufgabe gestellt, die Neuordnungsvorstellungen des führenden Kopfes des Kreisauer Kreises, nämlich die von Helmuth James Graf Moltke darzustellen, weil, wie er richtig ausführt, diese Pläne bislang überwiegend als Pläne des Kreisauer Kreises verstanden und bewertet wurden.
Als Historiker interessiert es, ob der Verfasser neue Quellen - und, wenn ja wo - gefunden hat. Man stellt fest: Ausweislich des Anhanges mit Literaturverzeichnis und Registern hat der Verfasser keine Archivarbeit geleistet. Blättert man den Dokumentenanhang durch, so stellt man fest: Alle abgedruckten Moltke-Texte kommen einem bekannt vor, die vorliegende Arbeit zieht ihre Legitimation also nicht aus dem Entdecken neuer Quellen, sondern aus der neuen - juristischen, speziell staatsrechtlich ausgerichteten - Fragestellung.
In seinem ersten Kapitel stellt von Schwerin die Vita Moltkes vor sowie dessen Meinung zu Politik und Gesellschaft ab 1926. Hier geht der Verfasser erstmals auf die Denkschriften Moltkes ein, indem er sie am Ende des 1.Kapitels kurz vorstellt: Er thematisiert Datierungsfragen, Fragen der Zuschreibung von Texten zu Moltke, Einflüsse auf Moltke während der Entstehungszeit u.a.m.
Im zweiten Kapitel versucht der Verfasser Moltkes Vorstellungen für eine politische und gesellschaftliche Neuordnung in Deutschland und Europa darzustellen, im letzten Kapitel versucht er herauszuarbeiten, welche Möglichkeiten der Realisierbarkeit Moltke sah.
Die beiden letzten Kapitel müssen, so erwartet man es bei der Lektüre des Inhaltsverzeichnisses, die Kernkapitel dieser Arbeit sein: Die Denkschriften Moltkes sollen unter staats- und verfassungsrechtlichen Kriterien untersucht werden. Diese Kriterien werden allerdings nicht eindeutig formuliert. Nur hin und wieder, z.B. bei der Frage nach dem Staatszweck, erläutert der Verfasser unter Rückgriff auf juristische Literatur, was unter Wohlfahrtsstaat, Polizeistaat, Sozialstaat, Nachtwächterstaat zu verstehen ist, kann aber die Verbindung zu den Vorstellungen Moltkes nicht überzeugend leisten: Aussagen stehen unverbunden nebeneinander, den gemeinsamen Nenner, das missing link muss der Leser allein finden.
Ein weiteres Beispiel: Von Schwerin schreibt, dass Moltke die Staatsform einer parlamentarischen Republik gewollt habe, worunter eine unbefangene, gleichwohl nicht unpolitische Rezensentin sich eine parlamentarische Demokratie westlicher Prägung vorstellt. In den weiteren Ausführungen von Schwerins und in den Zitaten aus Moltkes Texten wird aber eindeutig klar, dass Moltke eine Staatsform, in der alle aktives und passives Wahlrecht haben, nicht guthieß, sondern eine Bewährung im außer- oder vorpolitischen Raum vor die Zulassung als Wähler/zu Wählender gesetzt hatte, worüber in der Fachliteratur schon lange geschrieben worden ist. Auch von Schwerin kommt schließlich zu diesem Schluss, wenn er schreibt, dass Moltke sich von der Idee einer Aristokratie habe beeinflussen lassen, hebt ihn aber sofort wieder auf, wenn er ausführt, letztendlich sei Moltke für eine repräsentative Demokratie gewesen. Was ist denn nun Moltkes Staatsverständnis? Was tun? Am besten ist es, die Moltke-Texte einfach ohne Hilfe des vorliegenden Buches zu lesen und die altbewährte historische Literatur zum Thema zu Rate zu ziehen: Ger van Roon, Hans Mommsen u.a.m.
Der Verfasser zitiert gern und viel, auch längere Zitate, wie es sich gehört, abgehoben vom übrigen Text. Er zitiert hauptsächlich aus den im Anhang abgedruckten Denkschriften, auf die er hätte platzsparend verweisen können. Er verliert bei der Menge der Zitate mehrfach die Übersicht; so kommt es vor, dass kurz hintereinander dieselben Zitate auftauchen, mal im Fließtext, mal in den Fußnoten.
Warum macht der Verfasser das? Zu vermuten ist eine große Unsicherheit beim Verstehen der Texte Moltkes sowie bei der eigenständigen Formulierung von dessen Vorstellungen. Von Schwerin nähert sich seinem Gegenstand durchweg weitschweifig, seinen Gegenstand umkreisend, erst in einem großen Kreis, dann enger werdend, um schließlich das Ziel, die Kreismitte, doch noch zu verfehlen. Das ist ein umständliches Verfahren, das den Leser Zeit kostet und enttäuscht, weil er nicht zu einem Erfolgserlebnis kommt. Der Verfasser muss das gespürt haben und die Flucht in die Sicherheit des Zitats angetreten haben: Was Moltke selbst schreibt, drückt noch immer am authentischsten Moltkes Meinung aus.
Aus der schönen Idee, die einem Forschungsprojekt über die verfassungspolitischen Vorstellungen verschiedener Kreisauer an der Juristischen Fakultät der Universität Hamburg entstammt, ist eine Arbeit geworden, die dem Historiker nicht hilft, aus einem anderen als dem gewohnten Blickwinkel historische Texte und Persönlichkeiten neu anzupeilen. Man sollte einen Juristen mit einer Parallel-Rezension beauftragen, um zu prüfen, ob für diesen Fachbereich wichtige Erkenntnisse durch die Arbeit von Franz von Schwerin geleistet wurde.
Dorothea Beck, Telgte