ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Michael Brenner, Jüdische Kultur in der Weimarer Republik. Aus dem Englischen übersetzt von Holger Fliessbach, C. H. Beck Verlag, München 2000, 340 S., geb., 68 DM.


Die Historiographie zum deutschen Judentum in der Weimarer Republik blieb in den letzten Jahrzehnten methodisch oft in den Bahnen einer recht antiquierten Politik- und Geistesgeschichte. Zudem reproduzierte sie bisweilen genau jene Frontstellungen, die in den zwanziger Jahren zwischen Anhängern des Centralvereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens und Zionisten oder zwischen deutschen und Ostjuden existierten. Michael Brenners materialreiches, auf umfassenden Archiv- und Literaturstudien basierendes Buch weist nicht nur mit seiner Themenstellung, sondern auch mit seinen methodischen Innovationen erheblich über diese festgefahrene Tradition hinaus.
Der Autor führt zunächst einen Begriff von jüdischer Kultur in der Weimarer Republik ein, der sich wohltuend absetzt von dem rechts wie links verbreiteten Verständnis der ,,Kultur der Weimarer Republik" als weit gehend fortschrittlich und jüdisch beeinflusst. ,,Jüdische Kultur" in Michael Brenners Definition meint hingegen jene ,,literarischen, künstlerischen und wissenschaftlichen Bekundungen, die durch Institutionen wie Schule und Theater, Verlage, Kulturvereine und Clubs gefördert wurden und unter deutschen Juden bewusst eine kollektive Identität zu stiften suchten, die sich von der ihrer nichtjüdischen Umgebung abhob." (S. 15) Im Anschluss an Eric Hobsbawm betont er zweitens den um Neukonstruktion bemühten Charakter einer solchen Suche nach jüdischen Identitätsmustern. Was in der Weimarer Republik ,,wie eine Rekonstruktion authentischer Traditionen" aussehe, sei vielmehr als ,,moderne(n) Konstruktion oder Erfindung einer Tradition" (S. 16) zu interpretieren. Drittens erörtert Michael Brenner - auch das ist innovativ - die jüdische Konstruktion kultureller Tradition in ihrer komplexen Beziehung zu jenen diskursiven Grundmustern, welche die intellektuelle deutsche Diskussion nach dem Ersten Weltkrieg beherrschten. Dies waren, so der Autor, vor allem ein tief gehender Irrationalismus, die Suche nach Gemeinschaft und einer Synthese des Wissens, das Bemühen um Authentizität und Ganzheit und eine gewisse Fixiertheit auf Fragen der Statistik und einer höchst problematischen (Sozial-)Hygiene.
Vor diesem analytischen Hintergrund konstatiert Michael Brenner für die Weimarer Republik zunächst ein verstärktes Streben nach Gemeinschaft unter den deutschen Juden. Es äußerte sich zum einen darin, dass deren religiös liberale Mehrheit sich nun nicht mehr in erster Linie als Glaubens-, sondern vor allem als Schicksals- und Herkunftsgemeinschaft verstand und sich bisweilen in romantisierendem Antimodernismus vom Fortschrittsdenken des 19. Jahrhunderts distanzierte. Zum anderen kam es zu einer zunehmend komplexen Aufgabenzuweisung an die jüdischen Gemeinden auf den Gebieten der Sozialfürsorge, Kultur und Bildung - einer Aufgabenzuweisung, die sich jedoch, vom Autor vielleicht ein wenig unterschätzt, weit gehend schon im Kaiserreich ausgebildet hatte.
Der zweite Teil des Buches untersucht die Weitergabe jüdischen Wissens. Neu war hier in den zwanziger Jahren vor allem das von Franz Rosenzweig konzipierte Frankfurter Jüdische Lehrhaus, dessen Entstehung trotz seines traditionell jüdischen Namens im Kontext der zeitgenössischen deutschen Diskussion über Fragen der Bildungsreform zu situieren ist. Besonders erwähnenswert sind außerdem zwei mehrbändige jüdische Enzyklopädien; nach dem Verständnis der Herausgeber ging es bei diesen Werken um die Wiederherstellung jüdischen Wissens. Tatsächlich, so Michael Brenner, habe es sich jedoch um eine moderne Neuschöpfung dieses Wissens gehandelt. Im Mittelpunkt des dritten Buchteils stehen schließlich Literatur, bildende Kunst und Musik. Nicht wenige jüdische Schriftsteller, Bild- und Tonkünstler setzten danach in den zwanziger Jahren den ,,assimilierten" - der Autor zieht diesen Terminus leider dem differenzierteren Begriff ,,Akkulturation" vor - deutschen Juden fiktive Bilder dessen entgegen, was sie für authentisches Judentum hielten: orientalische Juden, häretisch-messianische Figuren wie Sabbatai Zewi und vor allem Ostjuden.

Nach Michael Brenner betrachteten dabei alle wesentlichen Strömungen des deutschen Judentums die Begegnung mit den Ostjuden als bedeutsam: ,,Für liberale Juden bildeten die jiddisch sprechenden Ostjuden einen kulturellen Vorposten des Deutschtums, für Zionisten verkörperten sie authentisches Judentum, und für die kleine Gruppe orthodoxer deutscher Juden war das Ostjudentum eine Quelle der religiösen Inspiration." (S. 44) Hier lässt sich der Autor ein wenig von Wunschdenken beeinflussen. Für die Mehrheit der liberalen deutschen Juden repräsentierten zumindest die in Deutschland lebenden Ostjuden, das zeigt das einschlägige Buch von Trude Maurer, nämlich nicht nur einen ,,Vorposten des Deutschtums", sondern umgekehrt auch das wieder auferstandene ,,Ghetto" oder mit einem Romantitel von Karl Emil Franzos das nach Deutschland eingewanderte ,,Halbasien".


Dieses Beispiel weist auf ein Problem des Buches hin. Der Autor schreibt in sehr starker Akzentuierung des Gemeinschaftsgedankens, einige deutsche Juden hätten ihr Bedürfnis nach Gemeinschaft in den zwanziger Jahren ,,durch besondere Betonung ihres Deutschseins" befriedigt, andere seien Sozialisten oder Kommunisten geworden, dritte hätten ,,Zuflucht in der Wiederentdeckung einer jüdischen Gemeinschaft" gefunden (S. 47). In welchem Verhältnis diese Strömungen quantitativ und qualitativ zueinander und zum traditionellen Bild des deutschen Staatsbürgers jüdischen Glaubens standen, wird in Michael Brenners hervorragendem Buch aber leider ebenso wenig diskutiert wie die Frage danach, in welchem Maße die deutschen und die in Deutschland lebenden Ostjuden den neuen Entwürfen einer jüdischen Kultur und Identität überhaupt Aufmerksamkeit schenkten.


Yvonne Rieker, Essen


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