ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
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Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Robert Bohn, Reichskommissariat Norwegen. "Nationalsozialistische Neuordnung" und Kriegswirtschaft (=Beiträge zur Militärgeschichte, Bd. 54), R. Oldenbourg Verlag, München 2000, 530 S., geb., 88 DM.


Nirgendwo war die Quote zwischen Besatzern und Einheimischen so hoch wie in Norwegen; ein Land mit kriegswichtigen Rohstoffindustrien, so groß wie Italien, wo aber nur knapp drei Millionen Einwohner lebten. Im Zweiten Weltkrieg hatte es zwischen April 1940 bis zum Mai 1945 ein aus mehreren 100.000 Mann bestehendes Besatzungsregime zu ertragen. Standen bei der Besetzung Norwegens ursprünglich geostrategische Gesichtspunkte im Mittelpunkt - Narvik, Rivalität zu England - , so rückte im Laufe des Krieges immer mehr die wirtschaftliche Ausbeutung dieses eroberten Gebietes ins Zentrum des deutschen Interesses. Bohn macht diese Strukturveränderung deutscher Militärpolitik zum Hauptthema seines Buches.

Im ersten Drittel - einer Art Exposition - gibt der Autor eine biographische Skizze des Reichkommissars Josef Terboven (S.31-57) sowie eine Institutionsanalyse des Reichskommissariats mit seinen Hauptabteilungen und Außendienststellen und erkennt auch deren enge Verflechtung mit Stellen der SS, der Sicherheitspolizei und des Sicherheitsdienstes. Ausführlich schildert er im Rahmen seines institutionen- und personengeschichtlichen Ansatzes die Arbeitsweise ideologischer Einrichtungen wie des SS- und Polizeigerichts und des Einsatzstabes.

Kapitel III und IV stellen den Kern von Bohns Studie dar und beschäftigen sich mit dem Stellenwert der ökonomischen Struktur Norwegens in der deutschen Kriegswirtschaft und mit den intensiven Bemühungen der deutschen Besatzungsbehörden, das ökonomische Potenzial der norwegischen Wirtschaft zu mobilisieren (S.121-203). Insbesondere macht Bohn das nicht immer spannungsfreie Verhältnis der Hauptabteilung Volkswirtschaft unter Carl Offe im Reichskommissariat gegenüber der Wirtschaftspolitik der Nasjonal Samling unter Quisling zum Thema. Das Personal des norwegischen Reichskommissariats oder vielmehr seiner Hauptabteilung Volkswirtschaft habe ebenso wie die Vierjahresplanbehörde zum großen Teil nach konservativen, wilhelminisch-imperialistischen Kategorien gehandelt und weniger nach nationalsozialistischen (S.143). Alan S. Milwards Diagnose, der für Norwegen von einer zielstrebigen "Fascist economy" gesprochen hatte, meint der Verfasser daher widersprechen zu müssen, allein deswegen, weil in seinen Augen eine systematische nationalsozialistische Wirtschaftsprogrammatik gefehlt habe (S.223). Der Verfasser arbeitet heraus, dass sich die norwegische Wirtschaftswelt in der Hoffnung auf profitabe Geschäfte viel problemloser mit den deutschen Okkupanten arrangieren konnte als die norwegische Beamtenschaft (S.260 ff). Nur mit Hilfe der norwegischen Privatwirtschaft sei es möglich gewesen, aus Norwegen einen der wichtigsten Rohstoff- und Warenlieferanten für die deutsche Kriegswirtschaft zu machen und zudem mit massiven Fischlieferungen die gefährdete Eiweißversorgung im Reich sicherzustellen (S.278). Diese enge Kooperation sollte bis zur Kapitulation anhalten.

In seiner Untersuchung über die deutschen finanzpolitischen Maßnahmen in der norwegischen Kriegswirtschaft - wie z.B. des zentralen Clearing (S.286ff) oder der Besatzungskostenfinanzierung (S.305ff) - betritt Bohn wissenschaftliches Neuland (S.303-353). Untersuchungen über die Kaufkraft und Steuerpolitik, die der Verfasser für Norwegen geleistet hat, stecken für andere europäische Besatzungsgebiete bestenfalls in den Anfängen. Am Ende beschäftigt sich der Verfasser mit der Frage, wie die Rohstoffvorkommen Norwegens immer mehr den Interessen der deutschen Rüstungswirtschaft dienstbar gemacht wurden, sodass man von einer regelrechten Ausbeutung sprechen könne. Sonderinteressen der Nazis, wie z.B. die Vorliebe des Reichsluftfahrtministers Göring am Leichtmetallausbau in Norwegen (Koppenbergplan, der letztendlich scheitern sollte), konterkarierten immer wieder die Effizienz ökonomischer Zweckrationalität. An übersichtlichen, neuerstellten Diagrammen mit ausführlichen Kommentaren wird deutlich, dass die norwegische Rohstoffindustrie - je länger der Krieg dauerte - immer schonungsloser ausgebeutet wurde (S.432f, S.446f).

Bohns aus intensivem Aktenstudium hervorgegangene Studie über das Reichskommissiarat als Besatzungsinstrument zwischen "Nationalsozialistischer Neuordnung" und Kriegswirtschaft füllt zweifellos eine Forschungslücke. Hans Dietrich Loocks wegweisende Studie aus dem Jahre 1970 hört zeitlich in dem Jahre auf (1940), in dem Bohns Studie erst richtig einsetzt. Ansonsten war der Forscher oder interessierte Laie, der sich fundiert über die Zeit Norwegens im Zweiten Weltkrieg informieren wollte, zum großen Teil auf norwegischsprachige Literatur angewiesen.

Bohn weist bestimmt nicht zu Unrecht auf generationsbedingte Scheuklappen in der Forschung hin (S.14 ff), die bis vor kurzem fast ausschließlich von Trägern der norwegischen Widerstandsbewegung geprägt gewesen sei und nur wenig Platz für Relativierung und alternative Standpunkte gelassen habe; die Rollen seien genau verteilt gewesen, Freund habe gegen Feind, Held gegen Schurke, Demokrat gegen Nazi gestanden (Magne Skodvin, Thomas C. Wyller, Sverre Kjeldstadli). Dennoch ist auch seine aus der Schule deutscher Militärgeschichte geborene Studie keineswegs frei von Voreingenommenheiten, wenn z.B. ein so zweifelhafter Autor wie David Irving gebührend berücksichtigt wird (siehe z. B. S.144), wohingegen die zentrale Literatur zur norwegischen Judenverfolgung nicht ausgewertet wird und noch nicht einmal in der Bibliographie auftaucht, etwa S. Abrahamsen über den norwegischen Holocaust (1968), P. M. Hayes über Quisling (1971) oder H. Valentin über Rettungsaktionen (1953). Bohns Lamento, dass "jede seriöse Geschichtsforschung, egal welcher Schule, nur die demokratischen und an der Idee der Freiheit orientierten nationalnorwegischen Werte vertreten darf und dass unter keinen Umständen die Standpunkte der nationalsozialistischen Besatzer und ihrer norwegischen Helfer eingenommen werden dürfen" (S.24 f), erhält im Rahmen dieser Literaturgewichtung einen apologetischen Akzent.

Überhaupt scheint sich die Studie des Kieler Historikers nicht immer auf der Höhe der aktuellen Forschung zu bewegen. Spricht der Verfasser von "neuerer Forschung" oder von "Korrekturen in jüngster Zeit", beruft er sich nicht selten auf Literatur, die schon zwanzig Jahre oder noch älter ist (S. 26, S. 121, Anm.3; S. 135). Dass der Aufsatz von Denkiewicz-Szczepaniak aus der "Historisk Tidsskrift" (1997) über polnische Zwangsarbeiter in Norwegen unberücksichtigt bleibt, mag noch darauf zurückzuführen sein, dass zwischen Abschluss der Habilitation und ihrer Veröffentlichung sechs Jahre vergehen sollten. Inzwischen reicht es auch nicht mehr aus, sich bei derartigen Themen in Grundsatzfragen nur auf Willi A. Boelcke zu stützen und Autoren wie vor allem Richard Overy zu ignorieren. Schwerwiegender sind bestimmte inhaltliche Lücken: Im Kapitel über beschlagnahmte "feindliche Vermögen" wird mit keinem Wort auf die Verwertung der - wenn auch nicht hohen - norwegisch-jüdischen Vermögenswerte eingegangen (S. 286-290). Überhaupt werden Holocaustforscher bestimmte Schlüsselfakten vermissen, wie die Anweisung des Polizeiministers Jinas Lie vom 10. Januar 1942, Ausweise der Juden mit einem "J" zu versehen, nachdem er dazu von der deutschen Sicherheitspolizei aufgefordert worden war. Gerhard Flesch als Kommandeur der Sicherheitspolizei in Trondheim findet zwar mehrmals Erwähnung, aber nicht als Ausgangspunkt eines Befehls vom 7.10.1942, alle jüdischen Männer über vierzehn Jahren zu verhaften. Dass in Norwegen im Gegensatz zu Polen keine rassische Kriegsführung und Versklavungspolitik stattgefunden hätte (S. 14) kann der Autor also in dieser Eindeutigkeit nur deswegen behaupten, weil er um dieses Thema einen großen Bogen macht.

Zu diesem Bild passt auch, dass weder bei Terboven, dem ehemaligen Gauleiter von Essen beziehungsweise Oberpräsidenten der preußischen Rheinprovinz sowie "alten Kämpfer" noch beim Leiter der Hauptabteilung Volkswirtschaft und ehemaligen Hamburger Gauwirtschaftsberater Carl Otte der ideologische Hintergrund ihres politischen Handelns konkret analysiert wird. Stattdessen erscheint der Reichskommissar in Bohns Optik als geschickt-rationaler Machtpolitiker, ohne bestimmt auch die in ihm präsente Ambivalenz zwischen Ideologie und Rationalität, wie sie Ulrich Herbert am Beispiel von Best herausgearbeitet hat, ausreichend zu verdeutlichen. Allzu kritiklos macht sich Bohn eine Äußerung von Arthur Seyß-Inquart von Ende 1940 - "Im Osten haben wir eine nationalsozialistische Mission, drüben im Westen haben wir eine Funktion" (S. 454) - zu eigen. Dass bei der Auswahl der Beamten für Polen und für Norwegen unterschiedlich verfahren wurde, und für Skandinavien die fachliche Qualifikation den Ausschlag gegeben hätte, während bei Polen die Loyalität der NS-Weltanschauung maßgebend gewesen wäre, bedarf bestimmt noch vertiefender vergleichender Forschung, wie überhaupt der komparatistische Blickwinkel in dieser Studie nur zart angedeutet ist und über die berechtigte Feststellung, dass die bisherige Forschung sich stets um einen Vergleich gedrückt habe, nicht herauskommt.
Dabei steht der Nutzen von Bohns Beitrag für den Forschungsdiskurs zum Zweiten Weltkrieg außer Frage, da wir nun mehr über den inneren Aufbau einer wichtigen zivilen Besatzungsbehörde und insbesondere über den Stellenwert der norwegischen Wirtschaft in der deutschen Kriegswirtschaft wissen. Die detaillierte, aktengesättigte Schilderung der deutschen Besatzungspolitik in Norwegen schreitet in ihrem Gedankengang meist diszipliniert - vielleicht bisweilen eine Idee zu technisch oder feingeschliffen - voran. Die wichtige Frage nun, in welchen Verhältnis der Rassismus, d. h. der Germanenkult und der Antisemitismus zur Besatzungspolitik standen, ob er die wirtschaftliche Modernisierung bei der Erschließung der kriegswichtigen Rohstoffreserven bremste oder verstärkte, scheint den Autor nicht sonderlich interessiert zu haben. Die SS-Organe seien für den Reichskommissar nur ein "besonders wichtiges Instrument zur Durchsetzung seiner 'Politik'" (S.456). Anführungszeichen reichen zur Erklärung aber keineswegs aus.
Es mag geschickt sein, dass sich der Autor ein Thema ausgesucht hat, das eine reiche archivalische Überlieferung garantiert. Es bleibt sein Verdienst, diesen großen Bestand erschlossen und in dichter Beschreibung quellennah geschildert zu haben. In dieser Stärke sind aber auch nicht unerhebliche Schwächen des Buches begründet, nicht nur, weil bei dieser Vorgehensweise immer wieder der Deskription gegenüber der Analyse der Vorzug gegeben wird, sondern insbesondere, weil damit meist die Einnahme eines Standortes verbunden ist, der kaum in der Lage ist, sich von dem in den Akten dominanten institutionellen Blick zu distanzieren. Die historische Wahrheit in der nationalsozialistischen Kriegs- und Wirtschaftspolitik, die immer gleichzeitig auch Vernichtungspolitik gewesen war, hat seinen Maßstab nicht nur in archivalischen Belegen, woran im Kompetenzwirrwarr des Kriegsendes oft kein Mangel besteht, sondern ganz besonders in moralischen Fragen, die zumindest gestellt werden müssen, wenn auch in den meisten Fällen wegen schwieriger Quellenlage eine befriedigende Antwort ausbleiben muss.


Stefan Laube ,Berlin


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