ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Stefan Bajohr, Lass dich nicht mit den Bengels ein! Sexualität, Geburtenregelung und Geschlechtsmoral im Braunschweiger Arbeitermilieu 1900 bis 1933 (= Veröffentlichungen des Instituts für soziale Beziehungen, Bd. 15), Klartext Verlag, Essen 2001, 173 S., geb., 49,50 DM.


Zur Geschichte der Braunschweiger Arbeiterbewegung im ersten Drittel des letzten Jahrhunderts liegt mittlerweile eine Vielzahl von Untersuchungen vor. Vor fast 20 Jahren publizierte Stefan Bajohr einen Band mit Interviews zum Alltag Braunschweiger Arbeiter von der Jahrhundertwende bis zur "Machtergreifung". Was damals von ihm nicht veröffentlicht wurde, die Abschnitte zu Fragen des Umgangs mit Sexualität, hat Bajohr nun in einem weiteren Band ausgewertet. Grundlage sind Gespräche mit 22 "oral authors" (6 Frauen, 16 Männer), die zwischen 1890 und 1914 geboren wurden und im proletarischen Milieu der Stadt Braunschweig, einer Hochburg der Sozialdemokratie in dieser Zeit, aufwuchsen. Die Themen Prostitution und Homosexualität wurden in den 1980 geführten Befragungen nicht angesprochen.
Ausgangspunkt der Analyse Bajohrs ist die strittige Frage, ob sich das Proletariat im Untersuchungszeitraum der repressiven bürgerlichen Sexualmoral unterwarf oder aber die sexuell freieste Klasse war. Der Autor plädiert für eine differenzierte Herangehensweise, weil keine der beiden Extrempositionen die Realität adäquat erfasse. Verbreitete voreheliche sexuelle Kontakte standen neben einer Tabuisierung alles Geschlechtlichen in der proletarischen Familie. Ob sich diese Positionen in den drei behandelten Jahrzehnten veränderten, versucht Bajohr dadurch zu erfassen, dass er die Gesprächspartner auch nach der Sexualmoral ihrer Eltern fragte.
Als Ergebnis seiner Untersuchung präsentiert der Verfasser u.a. die These - denn 22 lokal begrenzte Interviews können mehr nicht begründen -, dass weibliche Heranwachsende aus dem proletarischen Milieu seit jeher vorehelichen Sex praktizierten. Die von der wissenschaftlichen Literatur konstatierte Liberalisierung der Haltung nichtproletarischer weiblicher Jugendlicher in dieser Frage nach 1919 wäre demnach einer der wenigen Fälle gewesen, in denen nicht die bürgerlichen, sondern die proletarischen Moralstandards hegemonial wurden.
Die umgekehrte Bewegung stellt Bajohr für die Geburtenkontrolle fest. Hier folgte die Arbeiterschaft dem Bürgertum, in dem die Kinderzahl pro Familie bereits vor 1914 gesunken war. Eine aktive Rolle der Arbeiterorganisationen in diesem Prozess konnte Bajohr nicht feststellen. Die "massive mentale Verhaltensänderung" (S. 152) während des Untersuchungszeitraums ging von der Facharbeiterschaft aus und setzte sich bald im gesamten Proletariat durch. "Kinderreiche Familien und nichteheliche Mütter wurden abschätziger bewertet als früher" (S. 152). Wesentlicher Grund war die bei hoher Kinderzahl kaum zu umgehende relative Verarmung. Der Gebrauch von Verhütungsmitteln nahm aber erst Ende der zwanziger Jahre deutlich zu. Zuvor erfolgte Geburtenkontrolle vornehmlich über Enthaltsamkeit, Coitus interruptus oder Abtreibung.
Unverändert blieb die Tabuisierung der Sexualität im Familiengespräch. Für den Teil der Arbeiterjugendlichen, der in den politischen Organisationen aktiv war, ergab sich immerhin nach 1919 eine neue Situation durch die Aufklärungsvorträge in den Gruppenabenden. Der große Rest aber musste wie früher durch zufällige und oft irreführende Quellen versuchen, sich aufzuklären.
Überraschend für den Autor (und auch den Rezensenten) ist die Erkenntnis, dass der Ort, an dem sich vorrangig künftige Partnerschaften herausbildeten, selbst bei den organisierten Jugendlichen nicht die Vereine und Parteien der Arbeiterbewegung waren, sondern Tanzveranstaltungen, wer auch immer sie durchführte. Zur Eheschließung kam es nicht selten dann, wenn die Frau schwanger geworden war. Entgegen zeitgenössischer Meinung waren diese Partnerschaften aber nicht weniger dauerhaft als solche, die ohne diesen Druck eingegangen wurden. Bajohr erklärt dies damit, dass es in der Regel nicht "Muss überhaupt" sondern "Muss jetzt"-Ehen waren, also die Schwangerschaft die eh beabsichtigte Heirat nur vorzog.
An einem Punkt vermag der Rezensent dem Autor nicht zu folgen. Bajohr tendiert dazu, in Übereinstimmung mit zahlreichen zeitgenössischen und späteren Werken, vorehelichen Geschlechtsverkehr von Arbeiterjugendlichen mit sexueller Freiheit gleichzusetzen (S. 66 u. 154). Dies kann unter bestimmten Bedingungen zutreffen. Für die untersuchte soziale Gruppe gilt dies aber nicht. Was fehlte, war der offene und bewusste Umgang mit Sexualität. Weder führte diese scheinbare sexuelle Freiheit zu einem ungezwungenen und öffentlichen Diskurs über Sexualität noch zu mehr Selbstbestimmung von Männern und Frauen über ihr persönliches Schicksal. Die "Freiheit" degradierte die Frauen zu Gebärmaschinen, und Sexualität wurde eher erlitten als genossen. Bajohr selbst schreibt in den Schlussbemerkungen, dass die "Schambarrieren" in den proletarischen Familien im gesamten Untersuchungszeitraum so hoch waren, "dass auch 'normale' Zärtlichkeiten zwischen den Ehepartnern als auch zwischen diesen und den Kindern eher Ausnahmeerscheinungen bildeten." (S. 152)
Zum Schluss noch ein Hinweis: S. 38 bleibt bei Bajohr die Identität von "Bracke" offen, der vor der Arbeiterjugend Vorträge zur Sexualaufklärung hielt. Es handelt sich, so kann ich ergänzen, um Prof. Helmut von Bracken, seit 1928 Psychologe an der TH Braunschweig.


Bernd Rother, Berlin


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