Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online
Klaus J. Bade, Europa in Bewegung. Migration vom späten 18. Jahrhundert bis zu Gegenwart, C. H. Beck Verlag, München 2000, 480 S., geb., 58,90 DM.
Das »Angstthema« Migration beherrscht in regelmäßigen Abständen den deutschen Blätterwald und die Debatten der Politiker und Politikerinnen. Die Diskussionen sind stark emotionalisiert - oft genug bleiben fundierte und sachliche Kenntnisse auf der Strecke - , historische Entwicklungen von Wanderungsprozessen werden systematisch ausgeblendet. Deshalb sind die regelmäßigen Initiativen Klaus Bades, in die Auseinandersetzungen einzugreifen, sie zu versachlichen und mit historischen Kenntnissen zu versehen, sehr zu begrüßen. Sein 1993 veröffentlichter Sammelband »Deutsche im Ausland - Fremde in Deutschland« erschien in mehreren Auflagen, ein deutliches Anzeichen dafür, dass eine relativ breite Öffentlichkeit eine sachorientierte Auseinandersetzung mit dem Thema Migration sucht. Bades neues Buch »Europa in Bewegung« verspricht nun einen epochen-, formen- und länderübergreifenden Überblick und weitet damit den Blickwinkel auf den europäischen Raum aus.
Bade beginnt seine Darstellung mit frühen Formen der Wanderung, die den Übergang von der Agrar- zur Industriegesellschaft begleiteten. Diese oft temporären Formen der Wanderarbeit entlang traditioneller Routen in lohnintensive Gebiete (wie z.B. die Hollandgängerei) wurden im Verlauf des 19. Jahrhunderts zunehmend durch transatlantische Migrationen abgelöst bzw. komplettiert. Transnationale und transkontinentale Wanderungen stehen im Fokus des zweiten Teils: Neben dem Massenexodus in die Neue Welt werden hier auch Bereiche behandelt, die in der Migrationsforschung bisher eher vernachlässigt wurden, wie z. B. der frühe Technologietransfer, Kolonisationskonzepte und Bevölkerungspolitik der imperialistischen Mächte. Flucht, Vertreibung und Zwangsarbeit während der beiden Weltkriege und in der Zwischenkriegszeit sind die zentralen Themen des dritten Teils. Diese Periode läutete gleichzeitig das Ende liberaler Einwanderungspolitik ein, da staatliche Interventionen und Restriktionen die freie Bewegung großer Bevölkerungsmassen zunehmend behinderten bzw. unmöglich machten. Der vierte Teil widmet sich der Wanderungspolitik in Zeiten des Kalten Krieges, der spezifische Privilegierungen bestimmter Flüchtlingsgruppen und Wanderungsbewegungen hervorbrachte. Das Buch endet mit einer Skizzierung der heutigen Situation in Europa, in der Flüchtlingsströme und Zuwanderungen aus Osteuropa und der Dritten Welt zunehmend gesamteuropäischen Abschottungsbemühungen gegenüberstehen.
Bade legt seinen Schwerpunkt auf die Strukturen des Wanderungsgeschehens, arbeitet die großen Entwicklungslinien der Migrationsgeschichte heraus und setzt sich dabei kritisch mit einflussreichen Forschungskonzepten wie z.B. dem Modell der Push- und Pull-Faktoren auseinander. Gleichzeitig bleibt seine Darstellung anschaulich und verständlich, insbesondere wenn er im historischen Teil seines Buches aus der Fülle der vorliegenden Monographien exemplarisch Einzelstudien zur Charakterisierung bestimmter Entwicklungsverläufe einführt, so z.B. das Töddensystem als Form des frühen Wanderhandels.
In gewohnter Weise nimmt Bade zu den aktuellen Problemen der Zuwanderung explizit politisch Stellung, indem er die wachsende europäische Abschottung und Abwehr als »historischen Skandal« (S. 452) wertet, da die europäischen Staaten Bemühungen vermissen lassen, die Fluchtursachen in den Ausgangsgebieten zu beseitigen. In seinem Kapitel über Asyl- und Fluchtwanderungen zeichnet er z.B. die Debatten über das Asylrecht und dessen wachsende Beschneidung durch gesetzgeberische Maßnahmen nach. Die europaweite Skandalisierung des Zustroms von Asylbewerbern und die kollektive Missbrauchsunterstellung, nach der es sich im Wesentlichen nicht um politische, sondern um Wirtschaftsflüchtlinge handele, ließ und lässt die individuellen Motive der Migranten in der Hintergrund treten. Bade hebt dagegen das Wechselverhältnis zwischen Zuwanderungsrestriktionen und Migrantenverhalten hervor: Wenn Asylantrag oder Illegalität (nach Ablauf des Touristenvisums) die einzigen Möglichkeiten des Zugangs darstellen, so nimmt es nicht Wunder, dass diese von den Migranten - unabhängig von der individuellen Motivlage - genutzt werden. Sie sind bei Strafe der Abweisung gezwungen, den herrschenden Kriterien eines »echten Flüchtlings« zu entsprechen. Eurorassistische Konnotationen, eine weit verbreitete Angst vor dem Fremden und wahltaktische Überlegungen der Parteien vervollständigen die komplexe Gemengelage, die die derzeitige Migrationssitutuation und -politik auszeichnet.
Bades Buch gibt einen exzellenten Überblick über zwei Jahrhunderte Wanderungsgeschehen und liefert einen wichtigen Beitrag zum Verständnis sowohl der historischen Entwicklung als auch der aktuellen Situation. Ihm ist eine große Leserschaft zu wünschen.
Karen Schniedewind, Bremen