ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Manfred Wille/Steffi Kaltenborn/Johannes Hoffmann (Hrsg.), Die Vertriebenen in der SBZ/DDR. Dokumente. II: Massentransfer, Wohnen, Arbeit, 1946-1949 (= Studien der Forschungsstelle Ostmitteleuropa an der Universität Dortmund, Bd. 19,2), Harrassowitz Verlag, Wiesbaden 1999, 502 S., brosch., 72 DM.


Der hier vorliegende zweite Band der Dokumentation schildert die Ankunft der aus den deutschen Ostgebieten und dem Sudetenland Vertriebenen in der Sowjetischen Besatzungszone Deutschlands, die Probleme, die sich für die Länder der SBZ bei der Unterbringung von mehr als vier Millionen Menschen ergaben, sowie die Arbeitsaufnahme der Heimatvertriebenen (in der SBZ/DDR auf sowjetische Weisung hin stark beschönigend als ,,Umsiedler" bezeichnet) in den Jahren 1946 - 1948. Als wichtigster Quellenfund ist der Bestand der ,,Deutschen Zentralverwaltung für Umsiedler", der sich heute im Bundesarchiv Berlin befindet, anzusehen. Diese Zentralverwaltung, die mit den Aufgaben und Befugnissen eines Ministeriums ausgestattet war, kann durchaus als eine dem später in Westdeutschland entstandenen ,,Bundesministerium für Vertriebene, Flüchtlinge und Kriegsgeschädigte" in gewisser Weise adäquate Einrichtung angesehen werden. Weiterhin dienten für diese Quellenedition Archivalien aus den Beständen der Bundesarchive in Berlin und Koblenz, des Sudetendeutschen Archivs in München, aus den Landesarchiven der neuen Bundesländer, aus ausgewählten Stadt- und Kreisarchiven sowie aus dem Gablonzer Archiv und Museum Neugablonz in Kaufbeuren-Neugablonz. Diesem Archiv kommt deswegen besondere Bedeutung zu, weil Facharbeiter und Handwerker aus der Gablonzer Glas- und Schmuckwarenindustrie überall in Deutschland begehrt waren und daher mit besseren Aufnahmebedingungen rechnen konnten, während sonst das Bestreben der Einheimischen meist dahin ging, die bestehenden Strukturen weitest gehend zu erhalten und möglichst wenig Flüchtlinge, Ausgebombte und Vertriebene aufzunehmen. Der Herausgeber Manfred Wille betont:"Da bei der Auswahl der Dokumente ein ausgewogenes Verhältnis zwischen den sowjetzonalen Ländern und Regionen berücksichtigt werden musste, waren inhaltliche Überschneidungen nicht ganz zu vermeiden." Der Rezensent hat allerdings den Eindruck, dass die südlichen neuen Bundesländer Thüringen und Sachsen bei der Dokumentenauswahl stärker gewichtet sind als die vormals preußischen Länder Sachsen-Anhalt, Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern, wenn man von den Dokumenten der Zentralbehörden und der Sowjetischen Militär-Administration absieht. Dies kann jedoch auch daran liegen, dass dort die Quellenlage archivalisch besser erschlossen ist. Anders als bei den Dokumenten der ehemaligen Staatssicherheit der DDR braucht der recherchierende Wissenschaftler oder Student nicht zu fürchten, dass wichtiges Aktenmaterial zur Vertreibung der Deutschen aus den Ostgebieten und dem Sudetenland in DDR-Archiven während der Wendezeit vernichtet worden sein könnte, aber die archivalische Aufarbeitung dieses Materials richtete sich natürlich auch in den ehemaligen Ländern bzw. Bezirken der DDR nach dem vorhandenen Mittel- und Personalbestand. Auch dürfte die archivalische Erschließung des Materials, das ja aus DDR-Sicht einer gewissen politischen Brisanz nicht entbehrte, für die Leiter einiger Haupt- und Staatsarchive nicht gerade ganz oben auf der Prioritätsliste gestanden haben.
Dabei stellen die hier vorgestellten Dokumente den sowjetzonalen deutschen Behörden, einschließlich der Kommunisten, eigentlich ein sehr positives Zeugnis aus. Es wird deutlich, dass diesen Behörden durchaus bekannt war, dass die Aussiedlung der deutschen Bevölkerung aus Polen, Ungarn und der Tschechoslowakei keineswegs in ,,ordnungsgemäßer und humaner Weise" erfolgte, wie das auf der Potsdamer Konferenz der Siegermächte des Zweiten Weltkrieges festgelegt wurde. Natürlich konnten sie nichts gegen Grausamkeiten und Übergriffe in Polen und der Tschechoslowakei unternehmen. Aber sie wiesen die sowjetischen Besatzungsbehörden immer darauf hin, wenn stark verlauste, ausgehungerte oder seuchenbehaftete Flüchtlingstransporte ankamen, in der Hoffnung, dass der Besatzungsmacht an gesunden und arbeitsfähigen Zuwanderern gelegen sein müsste und nicht an der Schaffung neuer Probleme in ihrem Besatzungsgebiet. Erst ab November 1945 wurden die deutschen Behörden von der SMAD regelmäßig über eintreffende Transporte informiert. Und erst von da an konnte die ZVU in Zusammenarbeit mit anderen deutschen Behörden, insbesondere der Zentralverwaltung für Arbeit und Sozialfürsorge, und der Besatzungsmacht die Aufnahme der Vertriebenen in der Weise planen, dass die Transporte in bestimmte Gebiete gelenkt, die Unterbringung der Ankommenden in Quarantänelagern und ihre Verpflegung in den ersten zehn Tagen gesichert wurden, für Kranke, Schwangere und Waisenkinder gesorgt werden konnte. Dies alles erfolgte unter den Bedingungen einer weit gehend zerstörten Infrastruktur, in einem zerbombten und ausgeplünderten Land, in dem es an Wohnraum, Lebensmitteln, Heizmaterial und medizinischer Betreuung fehlte und die in ihren Lebensgewohnheiten stark eingeschränkte einheimische Bevölkerung sich der Aufnahme der Heimatvertriebenen oft massiv widersetzte.
Das Werk ist unterteilt in die drei sachlich auch im Untertitel angeführten Hauptgruppen Massentransfer, Wohnen und Arbeit. Jedem dieser Kapitel ist eine kurze Einführung vorangestellt, die auch wichtige bibliographische Hinweise enthält. Zeitlich endet die Angabe von Quellen zumeist im Jahre 1948, jedoch sind einzelne Dokumente angeführt, die bis in die Gründungsphase der DDR im Jahre 1949 hineinreichen. Jedes Dokument, bzw. jeder Dokumentenauszug ist mit einer den Sachverhalt kurz kennzeichnenden Überschrift versehen, die wahrscheinlich der Verzeichnung im jeweiligen Findbuch entspricht. Am Ende jedes Dokuments findet man Archivsigel und Verzeichnung. Auf Seite 5 weist der Herausgeber jedoch ausdrücklich darauf hin, dass sich die Bestandssignaturen des wichtigsten Quellenfundes, nämlich des Bestandes der ,,Zentralverwaltung für deutsche Umsiedler" nach der Übernahme durch das Bundesarchiv Berlin verändert haben. Die im Wesentlichen chronologisch angeordneten Dokumente lassen erkennen, welch geradezu übermenschliche Arbeitsleistung in dieser Zeit vollbracht wurde, von der ZVU ebenso wie von den Verwaltungen für Arbeit und Sozialfürsorge, den Wohnungsbehörden und den Obleuten der Vertriebenen. Allerdings vermitteln sie auch einen Einblick in Kompetenzgerangel, einseitiges Ressortdenken und bürokratisches Herangehen an die Probleme. Diese negativen Begleiterscheinungen von Verwaltungsarbeit hat es unter allen politischen und ökonomischen Systemen gegeben, aber in Nachkriegszeiten haben sie besonders tragische Auswirkungen.
Die vorliegende Quellensammlung wird sicherlich manchen Historiker dazu ermutigen, sich mit der vor allem für den Bereich der SBZ/DDR bisher wenig erschlossenen Problematik der sozialen, wirtschaftlichen und politischen Integration der Heimatvertriebenen zu beschäftigen. Der Band enthält ein Ortsverzeichnis, ein Personenverzeichnis (das allerdings wenigstens auch die Vornamen der aufgeführten Personen enthalten sollte - der Leser kann sich ja schon glücklich schätzen, dass der weit verbreitete deutsche Nachname Müller hier nur zweimal auftaucht) und ein Abkürzungsverzeichnis. Er erfüllt damit die Mindeststandards eines wissenschaftlichen ,,Apparats". Eine Auswahlbibliographie zur Gesamtproblematik, eine Auflistung der Dokumente nach Sachgruppen, Regionen und Archiven hätte sicherlich hilfreich sein können. Wahrscheinlich hat der Wunsch, möglichst rasch eine wissenschaftliche Terra Incognita zugänglich zu machen, den Verzicht auf solche wünschenswerten Ergänzungen bewirkt. Da diese Dokumentation in erster Linie für einen wissenschaftlich orientierten Leserkreis bestimmt ist, hätte man für die deutsche Schreibweise russischer Eigennamen und Bezeichnungen statt der volkstümlichen Transkription nach Steinitz auch die an wissenschaftlichen Einrichtungen übliche Schreibweise wählen sollen. (Beispielsweise Saposnikov statt Schaposchnikow).
Trotz noch offener Wünsche bereichert diese Quellensammlung den Stand der wissenschaftlichen Forschung zur deutschen Nachkriegsgeschichte erheblich und wird hoffentlich zur weiteren Beschäftigung mit diesem Thema beitragen.


Johann Frömel, Nürnberg


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