Archiv für Sozialgeschichte
Rezension


Zwei neue Studien analysieren die Bedeutung bürgerschaftlichen Engagements in der Endphase der DDR. Der ausgewiesene Oppositionsexperte Patrik von zur Mühlen untersucht in seiner neuen Arbeit die Entstehung einer „kritischen oder zumindest nicht-gleichgeschalteten [...] Öffentlichkeit in der DDR der achtziger Jahre mit ihren charakteristischen Netzwerken und Kommunikationsformen" (S. 12). Diese sich seitdem herausbildende „Gegen-Öffentlichkeit" habe, so seine zentrale These, große Bedeutung für die Dynamik der Oppositionsbewegung in den späten achtziger Jahren besessen und sei eine der Ursachen für das abrupte Ende der SED-Herrschaft gewesen.

Im ersten von insgesamt acht Kapiteln geht es um „Herrschaftssystem und Öffentlichkeitsstrukturen", wobei die besondere Aufmerksamkeit den Kirchen gilt, die Mühlen als „Großnische" analysiert. Es gelingt ihm nachdrücklich, die komplizierten Ursachen und Folgeprobleme einer fehlenden Öffentlichkeit im Staatssozialismus nachzuzeichnen und in ihrer politischen Wirkung zu gewichten. Im Anschluss daran wird die Entwicklung vom „individuellen Dissens zum kollektiven Widerspruch" thematisiert. Unter diesem Aspekt untersucht von zur Mühlen die Friedens- und die Umweltbewegung sowie die sozialen Bewegungen, deren Politisierung er auf die Jahre 1978 bis 1982 datiert. Spätestens seit dieser Zeit habe die Friedensbewegung Themen von gesamtgesellschaftlicher Bedeutung angesprochen.

Anders als die Friedensbewegung habe die Umweltbewegung systemimmanent argumentieren können. Ihre Vertreter hätten daher nicht so einfach als Staatsfeinde abgestempelt werden können. Mit insgesamt 350 aktiven Mitgliedern hätten die Friedens- und Umweltkreise in der DDR allerdings keine beeindruckende Größe besessen. Von zur Mühlen betont aber, dass in einer Diktatur schon kleine Gruppen oder Einzelpersonen ein „politischer Faktor" sein können, weil allein ihre Existenz den absoluten Führungsanspruch der Partei in Frage stelle (S. 71).

Die SED reagierte auf diese Basisgruppen von Anfang an mit Misstrauen und versuchte, die Gruppen von innen her zu paralysieren und ihre öffentliche Präsenz zu verhindern. Während SED und MfS gegenüber der Umweltbewegung auch eine Entpolitisierung angestrebt hätten, seien gegenüber der Friedensbewegung vor allem Zersetzung und Unterdrückung zum Einsatz gekommen. In allen Reaktionen habe sich die Furcht vor der Entstehung einer eigenständigen öffentlichen Sphäre außerhalb der SED-Kontrolle gezeigt. Dabei hätten nicht so sehr Anzahl und Umfang der Friedensgruppen Sorgen bereitet, „sondern die von ihnen geschaffenen Strukturen" (S. 91).

Um die „Institutionalisierung des öffentlichen Widerspruchs" geht es im dritten Kapitel, in dem die Entwicklung von der Monothematik zum erweiterten Partizipationsanspruch sowie die Bedeutung der zunehmenden kommunikativen und organisatorischen Vernetzung der Basisgruppen untersucht wird. Kontakte seien auch zu gleichgesinnten Gruppen in der Bundesrepublik und im Ausland aufgenommen worden. In diesen Vernetzungsprozessen sieht von zur Mühlen die Keimzelle einer sich entwickelnden „kritischen Öffentlichkeit" (S. 103). Seit Mitte der achtziger Jahre hätten die Gruppen ein immer breiteres Themenspektrum angesprochen, wobei die Schwerpunkte auf Menschen- und Bürgerrechten, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und gesellschaftlichen Problemen gelegen hätten.

Obwohl es seit Mitte der achtziger Jahre bei einigen Gruppen Tendenzen zum Verlassen des Schutzdaches Kirche gegeben habe, sei der kirchliche Raum bis zuletzt der wichtigste Ort geblieben, in dem nicht-konforme „Medien" so etwas wie eine „nicht reglementierte Öffentlichkeit" hätten herstellen können. Diese Gruppen hätten Freiräume ertrotzt, „deren Einschränkung dem MfS entweder nicht möglich oder nicht sinnvoll erschien" (S. 117).

Im vierten Kapitel wird der Weg von der Partikular- zur Generalkritik untersucht. Hier skizziert von zur Mühlen ebenso kenntnisreich wie knapp und übersichtlich die Geschichte der Menschenrechtsbewegung in der DDR, als deren markantestes Beispiel er die „Initiative für Frieden und Menschenrechte" (IFM) heraushebt; sie habe als einzige Gruppe ihren Themenkanon auf die Gesamtgesellschaft ausgedehnt.

Das Kapitel „Außenseiter und Verweigerer" erinnert daran, dass nicht nur die oppositionellen Gruppen einen Anteil an der Vorgeschichte der Wende hatten, sondern auch scheinbar unpolitische Kreise, die weder der Opposition noch dem Widerstand zuzurechnen seien. Unter diesem Aspekt befasst er sich mit den Anfängen einer ostdeutschen Frauenbewegung, alternativen, literarischen und künstlerischen Szenen, jugendlichen Randgruppen, Rechtsradikalen (weil „jede Beschränkung auf Oppositionsgruppen oder gar nur auf demokratische Kräfte [...] die Fragestellung unzulässig einengen" würde, S. 179) und mit den „Ausreisern". Diese vornehmlich unpolitischen Gruppierungen und Szenen werden kurz vorgestellt und ihr jeweiliger Anteil an der Vorgeschichte der Wende diskutiert.

Das sechste Kapitel ist der „Erosion" des SED-Regimes gewidmet, die der Autor überzeugend als Ergebnis mehrerer parallel verlaufender Entwicklungen wertet. Hier werden das öffentliche Räsonnement gegen das System, der Autoritätsverlust der SED (von „innerparteilichem Widerstand" zu sprechen, findet der Autor überzogen, S. 198), die Erosionsprozesse in den bürgerlichen Blockparteien sowie „Wahrnehmungs- und Reaktionsdefizite" der SED-Führung thematisiert. Nach der Wende habe sich herausgestellt, dass der Kenntnisstand des Politbüros über die Aktivitäten alternativer, dissidenter und oppositioneller Gruppen „erstaunlich gering war." Hier spricht von zur Mühlen ein „lernpathologisches Realitätsbild" bei der SED-Führung an, in deren Denken ein möglicher Untergang ihrer Herrschaft nicht vorgekommen sei (S. 213f).

Im Abschnitt über die Entstehung einer öffentlichen Protestkultur wird der immer wieder gestellten Frage nachgegangen, wie der oppositionelle Funke von den relativ kleinen Gruppen ohne nennenswerte Anhängerschaft im Spätsommer/Herbst 1989 auf breite Massen überspringen konnte, während im Zentrum des letzten Kapitels der „Durchbruch zur offenen Gesellschaft" steht. Die Wende ist für den Autor nicht Resultat eines linearen Prozesses, sondern Ergebnis eines „teilweise zufälligen Zusammenwirkens höchst disparater Faktoren". Dabei sei der Anteil der Basisgruppen an den Veränderungen von 1989 „grundlegend zu unterscheiden von den teilweise langfristigen Ursachen des Umbruchs und den kurzfristigen Entwicklungen im Spätsommer 1989" (S. 251). Von zur Mühlen sieht in den spektakulären Botschaftsbesetzungen vom Sommer 1989 den Auslöser zur Massenmobilisierung. Die Bürgerbewegungen werden aber als die Wegbereiter des Umbruchs identifiziert; eine abschließende Würdigung ihrer Aktivitäten müsse jedoch zwischen den zeitlichen Abläufen unterscheiden: Für die Zeit zwischen dem Ende der siebziger Jahre und 1989 sei ihre große Leistung darin zu sehen, dass sie die Erstarrung, Kontaktarmut und Sprachlosigkeit in wichtigen Fragen zu überwinden geholfen hätten (S. 276). Die Bewertung ihres Anteils am Umbruch selbst sei aber schwieriger, weil es die „Ausreiser" gewesen seien, die im Spätsommer 1989 die entscheidende Mobilisierung der Bevölkerung ausgelöst hätten, während die Bürgerbewegungen sich selbst marginalisiert hätten.

Diese thematisch überzeugende und gut lesbare Studie über den Zusammenhang zwischen der seit Ende der siebziger Jahre sukzessive wiederhergestellten (kritischen) Öffentlichkeit in der DDR und dem Zusammenbruch der SED-Herrschaft eignet sich vorzüglich als Einführung in die Thematik. Besonders hervorzuheben sind die systematisierenden Abschnitte, etwa das erste Kapitel über „Herrschaftssystem und Öffentlichkeitsstrukturen". Auch Nicht-Sozialwissenschaftler haben hier die Chance, das Problem einer allenfalls partikularen Öffentlichkeit in einer „durchherrschten" Gesellschaft wie der ostdeutschen zu begreifen.

Auch Karsten Timmer untersucht in seiner von Detlef Pollack betreuten Dissertation den Auf- und Umbruch in der DDR im Zeitraum zwischen dem September und dem Dezember 1989. Dabei beschränkt er sich aber nicht ausschließlich auf diese kurze Spanne, sondern holt oft weiter aus - etwa bei der Analyse der Folgen des 1971 von Honecker angekündigten Programms einer „Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik".

Während an Studien zum Zusammenbruch der DDR auf der Herrschaftsebene kein Mangel sei, müsse die „Dynamik der Proteste, die den Zusammenbruch des SED-Staates erst erzwangen", als „weithin ungeklärt" gelten (S. 13). Zur Schließung dieser Forschungslücke möchte Timmer seinen Beitrag leisten. Dabei kommt es ihm darauf an, soziales Handeln im Auf- und Umbruch von 1989 aus der Perspektive der Akteure zu erklären, ohne sich diese zu eigen zu machen. Dazu untersucht er die Zusammenhänge zwischen den Demonstrationen und den oppositionellen Gruppen, den Friedensgebeten und den im Dezember 1989 eingerichteten Runden Tischen, den Leipziger Protesten und den Aktionen in anderen Städten, den „Visionen der Protestierenden und der Realität, die sie durch ihr Engagement schufen". Timmers grundlegende Hypothese lautet, dass der landesweite Protest zwischen September und Dezember 1989 der „zentrale und treibende Faktor des Umbruchs in der DDR war" (S. 13).

Timmer nennt jene Bedingungen, die seiner Meinung nach eine Untersuchung über die Dynamik der Protestwelle erfüllen müsse: Die Proteste müssten als kollektives Phänomen verstanden und es müsse die gesamte DDR in den Blick genommen werden. Zudem müssten die Teile der Protestbewegung als Element eines Gesamtphänomens begriffen werden. Timmer orientiert sich an der Bewegungsforschung und definiert in Anlehnung an den Hamburger Politikwissenschaftler Joachim Raschke den Protest als „soziale Bewegung", verstanden als ein „durch kollektive Identität abgestütztes Handlungssystem mobilisierter Netzwerke von Gruppen und Organisationen, welche sozialen Wandel mittels öffentlicher Proteste herbeiführen, verhindern oder rückgängig machen wollen" (S. 17-26).

Gegenstand des ersten Kapitels ist die „kognitive Konstituierung" der Bürgerbewegung. Hier interessiert Timmer, warum sich der Protest gerade im September 1989 entfaltete und warum er gewaltfrei blieb. Im Anschluss wird die Relevanz der von Václav Havel, Adam Michnik und György Konrád entwickelten Konzepte einer Zivilgesellschaft für die ostdeutsche Bürgerbewegung untersucht. Timmer geht davon aus, dass auch in der ostdeutschen Opposition seit Mitte der achtziger Jahre zivilgesellschaftliche Orientierungen eine wichtige Rolle spielten.

Timmer verneint die häufig vertretene These, wonach die DDR-Opposition „im Grunde sozialistisch orientiert und darüber hinaus bis in den Herbst 1989 hinein unfähig gewesen [sei], sich aus ihren sozialistischen Denkmustern zu befreien." Die in den Quellen häufig zu findenden positiven Bezüge zum Sozialismus interpretiert er als „unbewussten Schutzmechanismus", dessen die Bürgerbewegung sich bedient habe, um sich vor Kriminalisierung und Tabuisierung zu schützen. Nicht der Sozialismus, sondern die DDR als Staat mit einer veränderten Gesellschaftsordnung habe erhalten werden sollen. (S. 71-74)

Wie die Idee von der zivilen Gesellschaft massenwirksam werden konnte, ist Gegenstand des zweiten Kapitels. Während die Bedingungen im Sommer 1989 noch „hochgradig bewegungsfeindlich" gewesen seien (S. 80), habe die Ausreisewelle über Ungarn eine Massenmobilisierung ausgelöst. Das dritte Kapitel geht der „sozialen Formierung" der Bürgerbewegung, das vierte ihrer Entfaltung nach. Hier befasst sich Timmer eingehend mit den Montagsdemonstrationen. Die berühmte Leipziger Demonstration vom 9. Oktober 1989 mit 70.000 Teilnehmern wertet er als schwere Niederlage der SED. Jener Tag habe die Bedingungen und Möglichkeiten des Protests „radikal" verändert: Die zahlreichen lokalen Protestbewegungen hätten sich zu einem landesweiten Handlungszusammenhang verbunden. Auch hätten die westlichen Journalisten nunmehr ihre Sprachregelung verändert und nicht länger von Protesten in verschiedenen ostdeutschen Städten, sondern von der Protestbewegung in der DDR gesprochen. Seither sei die Trennlinie nicht mehr zwischen der Volksbewegung und den oppositionellen Gruppen, sondern zwischen der Bewegung und der SED verlaufen (S. 201).

Im fünften Kapitel untersucht Timmer den „Kampf um die Öffentlichkeit" zwischen dem 18. Oktober, der Absetzung Honeckers und dem 9. November, dem Tag der Maueröffnung. Diese Mobilisierungswelle habe zu einer „nachhaltigen Liberalisierung des politischen Systems" geführt (S. 276). Den Führungswechsel von Honecker zu Krenz wertet er als „katastrophalen strategischen Fehler", weil das Regime mit diesem Schritt seine „Aura der Unbesiegbarkeit" verloren habe (S. 229, 231). Anstatt seine Herrschaft mit vorsichtigen Zugeständnissen zu retten, habe Krenz das genaue Gegenteil bewirkt: Er habe einen Prozess ausgelöst, in dem jedes Zugeständnis neue Forderungen auf der Seite der Bewegungen bewirkt habe. Aus der Perspektive vieler Beteiligter sei mit dem 4. November der „point of no return" erreicht gewesen.

Die Öffnung der Mauer, der Auftakt zur „Wende in der Wende", leitete eine neue Phase ein, die Gegenstand des sechsten Kapitels ist. Der Autor schließt sich hier keiner der üblichen Deutungen an. Weder sei der 9. November der Beginn des Niedergangs der Bürgerbewegung gewesen, noch der Abschluss ihrer Erfolgsgeschichte. Auch die Perspektive einer deutschen Einheit habe sich nicht unmittelbar aus dem Mauerfall ergeben; „irreführend" sei zudem, die Forderung nach Einheit als eine „automatische Folge der massenhaften Westbesuche" zu werten, wie dies bei Konrad Jarausch geschehe (S. 323). Einheitsforderungen seien erstmals für die Leipziger Montagsdemonstration vom 19. November nachweisbar. Erst die eskalierende Krisenstimmung habe eine Änderung herbeigeführt, und am 27. November seien die Oppositionsredner erstmals auf eine aggressive und feindliche Stimmung in der Menge gestoßen. Von der Veröffentlichung des Kohlschen 10-Punkte-Programms am 28. November, das die deutsche Einheit von einem „utopischen, provokanten Ziel" in eine Möglichkeit verwandelt habe, sei die Bürgerbewegung völlig überrascht worden. Ende November sei ihr so eine Diskussion über die Zukunft der DDR aufgezwungen worden, obwohl es aus ihrer Sicht wichtiger gewesen wäre, die Demokratisierung fortzuführen. Von einer einheitlichen Ablehnung der deutschen Einheit könne aber bei den oppositionellen Gruppen keine Rede sein. Timmer zeigt hier mit viel Gespür, wie die Bewegung, die sich eine staatliche Einheit allenfalls als Langzeitprojekt vorstellen konnte, in einen immer größeren Gegensatz zu jenen geriet, die für eine schnelle Einheit plädierten. Man habe gegen die Einheit argumentiert, ohne eine Alternative aufzeigen zu können. Als besonders fatal schätzt Timmer dabei die Auswirkungen des Aufrufs „Für unser Land" vom 26. November ein.

Das letzte Kapitel gilt dem „Ende der Bewegung", das der Autor mit dem 7. Dezember auf den Tag datiert, als in Berlin erstmals der Zentrale Runde Tisch zusammentrat. Unter dem Eindruck des angeblich drohenden Abgleitens in Chaos und Anarchie „gerieten die oppositionellen Gruppen in die paradoxe Situation, die von ihnen initiierte und getragene Mobilisierung des Protests beenden zu müssen" (S. 362f). Aus Jägern wurden Gejagte.

Karsten Timmer hat eine gut geschriebene, spannend zu lesende sowie methodisch überzeugende Arbeit vorgelegt, die auf einer breiten Quellen- und Literaturbasis beruht, die - und dies sollte in unserem medial definierten Zeitalter trotz seiner Zeitaufwendigkeit öfter geschehen - sogar die für den Auf- und Umbruch relevanten Fernsehsendungen und -nachrichten systematisch ausgewertet.

Die Arbeiten von zur Mühlens und Timmers ermöglichen neue und überzeugende Zugänge zur Vorgeschichte des Herbsts 1989 und führen oft weg von liebgewordenen Mythen. Beiden Studien ist ein großer Kreis von Lesern zu wünschen.

Beate Ihme-Tuchel, Berlin



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