Archiv für Sozialgeschichte
Rezension

Wilfried Loth/Jürgen Osterhammel (Hrsg.), Internationale Geschichte. Themen - Ergebnisse - Aussichten, R. Oldenbourg Verlag, München 2000, 415 S., geb. 128 DM.

Internationale Fragen um Krieg und Frieden, um Grenzen und Integration gewinnen seit 1989/90 gerade für Deutschland neues Gewicht und stärkere Bedeutung. Die Geschichte der internationalen Beziehungen hat vor dem Hintergrund der Überprüfung und Erweiterung unserer nationalen Erfahrungshorizonte im letzten Jahrzehnt innerhalb der deutschen Geschichtswissenschaft eine neue Belebung erfahren. Damit verstummten auch alte Vorbehalte gegen die Disziplin aus den Kreisen der Sozialgeschichte und einer älter gewordenen "Neuen Linken", die in den siebziger Jahren noch im Hegemonie-Streit um die Frage einer "modernen Politikgeschichte" hitzige Debatten auslösten. Heute ist wohl insgesamt eher ein Fehlen internationaler Dimensionen und Themen in der deutschen Geschichtswissenschaft zu beklagen. Das gilt sowohl für die öffentlich wie im Fach selbst sträflich vernachlässigte internationale Geschichte. Die Themen dieses Sammelbandes können jedoch für eine Internationalisierung der Disziplin vielfache Anregungen bieten.

In dem zehnten Band der Reihe "Internationale Geschichte", der aus einer von Wilfried Loth in Essen organisierten Konferenz hervorgegangen ist, geht es um den Stand der internationalen Geschichte in Deutschland. Er will deren Debatten zur Diskussion stellen und keine neuen Paradigmen aufstellen. Die Herausgeber der Reihe um Wilfried Loth orientieren sich "an einem umfassenden Verständnis von internationaler Geschichte" des 19. und 20. Jahrhunderts. Es gehört ausdrücklich zu ihrem Programm, aufzugreifen, "was die systematischen Sozialwissenschaften zur Erklärung der internationalen Beziehungen bereitstellen", und "mit empirisch dichten Untersuchungen zur Präzisierung theoretischer Einsichten" beizutragen. Dabei wollen sie thematisch auch über die Geschichte der internationalen Politik wie der internationalen Beziehungen hinausgehen.

Mit dem vorliegenden Band soll der Erneuerungsprozess einer in den Gegenständen erweiterten, methodisch verfeinerten und sich öffnenden Disziplin in dreierlei Hinsicht gefördert werden. Dem entspricht die Dreiteilung des Bandes. Im ersten Teil geht es um eine Bilanz der disziplingeschichtlichen Entwicklung. Der deutschen Tradition und ihrer Kritik (Gerhard Th. Mollin) werden die nationalen Teildisziplinen aus den drei westlichen Ländern gegenübergestellt. Dabei wurden mit Frankreich (Georges-Henri Soutou), Großbritannien (Kathleen Burk) und den USA (Michael. H. Hunt) solche Nationen berücksichtigt, die ein besonders intensives wissenschaftliches Gespräch mit deutschen Kollegen pflegen.

Im zweiten Teil werden in Deutschland anerkannte und institutionell verankerte Themenfelder und Deutungsaspekte vorgestellt. Dies gilt sicher für das Thema des internationalen Staatensystems (Anselm Doering-Manteuffel), für die Rolle des Militärs (G. Th. Mollin) und die Friedensforschung (Jost Dülffer), für die europäischen Expansionsbewegungen des 19. Jahrhunderts (Boris Barth) und für die Prägung durch das Völkerrecht (Ingo J. Hueck). Weniger etabliert im Bereich der deutschen Geschichtswissenschaft sind Forschungsfelder, die nach den gesellschaftlichen Dimensionen und Wirkungen in der Gestaltung der Außenpolitik fragen (Eckart Conze), die sich auf selektive Prozesse der Wahrnehmungen und Perzeptionen richten (Gottfried Niedhart) oder Mentalitäten, Weltbilder und langfristige historische Prägungen erforschen (Robert Frank). Besonders deutlich wird die Umstrittenheit im Fach am Beispiel der gerade in Deutschland bis auf Außenseiter lange Zeit tabuisierten Rolle der Geographie und Raumbeziehungen (Jürgen Osterhammel). Den stärksten sozialwissenschaftlichen Einfluss zeigt schließlich der Beitrag von Ursula Lehmkuhl über die Formen der Kommunikation in den außenpolitischen Entscheidungsprozessen.

Drittens werden unter "Perspektiven" drei Themenfelder behandelt, die neue Bereiche der internationalen Geschichte erschließen wollen. In zwei Beiträgen geht es um den Sonderfall der (europäischen) Integration von Staaten und Gesellschaften in internationale Organisationen (Wolfgang Schumann/Ragnar Müller) und um das damit auftauchende Problem der regionalen, nationalen und europäischen Identität(en) (Wilfried Loth). Als zweites Beispiel behandelt Franz-Josef Brüggemeier die internationale Umweltgeschichte und drittens thematisiert abschließend Jürgen Osterhammel die Probleme, die sich im historischen Prozess der Globalisierung für die Pluralität der Kulturen ergeben.

Aus der Fachgeschichte in Deutschland rühren die Prioritäten des Sammelbandes und noch stärker seine Defizite. Die fehlenden Gegenstände bilden eine lange Liste: von den Wirtschaftsbeziehungen, der Migration und der Historischen Soziologie außenpolitischer Eliten bis zu den Themen Westernisierung, Vergleichende (europäische) Geschichte, Kulturbeziehungen und Kulturtransfer, Gender, Emotionen, außerwestliche Kulturen und Perspektiven, Frühe Neuzeit usw.).

Der Band ist in erster Linie von deutschen Historikern für ein deutsches Publikum gemacht. Daher beginnt er klassisch und sinnvoll mit Leopold von Ranke und mit einem Vergleich zur Lage bei den westlichen Großmächten und Partnern Frankreich, Großbritannien und den USA. Mollin zielt sowohl auf eine präzise und unpolemische Darstellung der Positionen Rankes und der ihm verpflichteten Historiker wie auf eine Entdeckung anderer Entwicklungen neben Rankes Schule in Deutschland, die vor allem aus der Aufklärungshistorie des 18. Jahrhunderts stammen (Arnold H. L. Heeren). Dabei differenziert Mollin erheblich das auf "Ranke" fokussierte Bild der deutschen Historiographie-Geschichte. Ranke habe nie eine Hegemonie über das ganze Fach erlangt. Zugleich weist Mollin aber auch deutlich die theologische Kategorie der "Macht" bei Ranke als untauglich für eine zeitgemäße internationale Geschichte zurück.

In den USA war die lange Krise des Selbstvertrauens der "Diplomatiegeschichte" besonders ausgeprägt (M. H. Hunt). Dies hing mit den erheblichen sozialen und politischen inneramerikanischen Umwälzungen seit den sechziger Jahren zusammen. Hunt kann deutlich machen, welche fruchtbaren Folgen gerade die Konflikte für die Disziplin hatten. Charakteristisch ist eine ständige Ausdehnung ihrer Fragestellungen und andererseits eine Infragestellung der Autonomie des Staates. Vor allem hat die Selbstbefragung eine Bereicherung der anderen Felder der Geschichtsschreibung um internationale und vergleichende Dimensionen zur Folge. Hieraus können die deutschen Historiker internationaler Beziehungen nur ihre Lehren ziehen, um Blockbildungen oder politische Überfrachtungen ihrer Disziplin zu vermeiden.

Mit den Forderungen eines immer wieder erneuerten Perspektivenwechsels führt Hunt sicher einen der großen Vorteile an, den gerade der Historiker der internationalen Geschichte in das gesamte Fach und andere Human- und Sozialwissenschaften einbringen kann. Er sollte sich nicht nur in den Korridoren der Macht aufhalten und dabei auf die Bedürfnisse des Staates und der Zuliefererfunktion internationaler Institutionen beschränken. Schließlich gibt es mittlerweile auch außerhalb der Außenministerien und staatlichen Institutionen zunehmend Bedarf an internationaler Kompetenz.

Am Schluss des Bandes demonstriert Jürgen Osterhammel, wie man über die gängigen und modischen Konfrontationen von (ökonomischer) "Globalisierung" und "Pluralität der Kulturen" hinauskommt. Mit den griffigen Formeln von "Welt- und Zivilgesellschaft" oder "Universal- bzw. Weltgeschichte" kann er wenig anfangen, solange sie das Stadium des Programmatischen noch nicht verlassen haben.

Osterhammel richtet aus der Sicht der internationalen Geschichte einige zugespitzte, aber leider begründete Bemerkungen in Richtung einer immer noch an ein nationalgeschichtliches Paradigma gebundenen Gesellschaftsgeschichte. Die Kulturgeschichte karikiert er "in ihrer neuen Gestalt als anthropologisch informierte Rettung verborgenen Sinns". Solche Sinnkonstruktionen sind denn auch keine Sache des kritisch und rational reflektierenden und international geschulten Historikers der internationalen Geschichte. Da greift der vorher in Genf und heute in Konstanz lehrende Jürgen Osterhammel lieber zum Mittel der Ironie, wenn er die Lage der Geschichtswissenschaft in Deutschland beschreibt.

Osterhammel gibt praktische Anregungen für eine internationale Geschichte, die auch dem Sozialhistoriker Grund zum Nachdenken liefern. Deren Möglichkeiten sieht er in der Verbindung verschiedener Ansätze und Interessenrichtungen. Vor allem zwei Fragerichtungen sind aus seiner Sicht zusammenzuführen, um ein zweidimensionales Bild vom internationalen System zu ergeben: einmal die Geschichte von Politik und von "Konfliktformationen" im internationalen System und zum anderen die Geschichte der Beziehungen zwischen "Nord" und Süd". Vereinfacht ausgedrückt brauchen wir dringend eine Annäherung der Geschichte der Nord-Nord-Beziehungen und der Nord-Süd-Beziehungen.

Diese bewusst zwei Dimensionen berücksichtigende internationale Geschichte müsste nach Osterhammel in dritter Perspektive um eine Geschichte der transnationalen Vernetzungs- und Integrationsprozesse in Politik, Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur ergänzt werden. Schließlich gehört viertens dazu eine Geschichte des "weltpolitischen Denkens", der Ideologien, Perzeptionen und international domestizierender Ordnungssysteme. In einem solchen mehrdimensionalen Bild gewinnen Kulturfragen eine eigene Bedeutung.

Anhand der Nord-Süd-Beziehungen lässt sich gut beobachten, wie politische Schwäche und wirtschaftliche Verletzlichkeit durch kulturelle Selbstbehauptung kompensiert werden. Kultur kann so schließlich zu einem wesentlichen Faktor in Konflikten werden. Dabei spielen aber außer im Konfliktfeld auch die Möglichkeiten multipler persönlicher Identitäten und kollektiver "Hybridität" im Überlappungsbereich von Kulturen und Zivilisationen zunehmend eine wichtige Rolle. Osterhammel verdeutlicht schließlich am Beispiel der drei Themenbereiche von Diplomatiegeschichte, von Rasse/Ethnizitaet/Rassismus und von Kulturtransfer, wie fruchtbar sich eine solche Annäherung dieser Forschungsfelder und neue Fächernachbarschaften auswirken können.

Osterhammel weist nachdrücklich auf die neuen Chancen hin, die sich für den Historiker internationaler Geschichte mit dem Lernen von Fächern wie den "International Relations", der Anthropologie, der Soziologie, Sozialpsychologie und Religionswissenschaft wie der verschiedenen asien- und afrikawissenschaftlichen Disziplinen verbinden lassen. Diese Disziplinen bringen zudem oft einen internationalen Diskussionsvorsprung mit ein.

Das Fach - ob nun als Internationale Geschichte, als Geschichte der internationalen Beziehungen oder der internationalen Politik oder als neue Diplomatiegeschichte bezeichnet - steht in Deutschland in der methodischen Erneuerung und in der thematischen Erweiterung. Diese wurden nicht zuletzt auch durch sozial-, kultur- und strukturgeschichtliche Anstöße, durch internationale Anregungen und durch die Diskussionen des Fachs „International Relations" mitbelebt. Das ist das Fazit des vorliegendes Bandes.

Die Historiker internationaler Beziehungen müssen "Grenzgänger" sein. Das gilt von Hause aus für ihre Gegenstände, die Methodenvielfalt und ihre Forschungstätigkeit im Ausland. Mögen nun die Erfahrungen, Themen und Perspektiven der internationalen Geschichte auch die Sozial- und Kulturgeschichte in Deutschland befruchten und beleben. Das internationale Grenzgängertum könnte somit zum Markenzeichen einer neuen Geschichtswissenschaft in Deutschland werden.


Guido Müller, Ludwigsburg



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