Archiv für Sozialgeschichte
Rezension

Joseph Jurt/Gerd Krumeich/Thomas Würtenberger (Hrsg.), Wandel von Recht und Rechtsbewusstsein in Frankreich und Deutschland (= Studien des Frankreich-Zentrums der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, Bd.1), Berlin Verlag Arno Spitz, Berlin 1999, 268 S, kart., 62 DM.

Der vorliegende Sammelband darf als Pionierstudie gelten, denn der Wandel des Rechtsbewusstseins als Teil einer Mentalitätengeschichte ist ein neues, noch nicht systematisch erforschtes Feld. Dementsprechend unterschiedlich und facettenreich fallen die Reflexionen von Historikern, Juristen und Literaturwissenschaftlern aus.

Zu der schwierigen Frage, wie sich Veränderungen im Rechtsbewusstsein sozialer Gruppen und Veränderungen im positiven Recht gegenseitig beeinflussen mögen, tritt als Element zusätzlicher Komplexität der deutsch-französische Vergleich bzw. der Aspekt der deutsch-französischen Beziehungen hinzu. Freilich ist der Vergleich zwischen zwei nationalen Rechten ein klassischer Gegenstand der Rechtswissenschaft, häufig beschränkt auf das bloße Neben- und Gegeneinanderstellen der beiden Regelwerke, und ebenso klassisch ist die Frage nach dem Einfluss eines Rechtes, einer Kodifikation, auf das Recht eines anderen Staates. Eine solche traditionelle Studie ist der Beitrag von Antoine Pantélis zu den deutschen und französischen Einflüssen auf die Entwicklung des modernen griechischen Rechtes, der auch sehr schön den traditionellen „Nationalismus der Rechtsvergleichung" (S. 147, Anm. 4) demonstriert.

Aber schon Walter Pintens Beitrag über das Erbrecht in Deutschland und Frankreich zeigt, wie der Vergleich als heuristisches Instrument einen Zugang zum Rechtsbewusstsein öffnen kann. Indem er den Wandel des Erbrechts in den letzten 40 Jahren analysiert, vermag er eine allmähliche Annäherung deutschen, französischen und niederländischen Rechts nachzuweisen, die in Umrissen ein gemeinsames europäisches Erbrecht erkennen lässt. Der Bewusstseinswandel, der in allen drei Staaten offensichtlich stattgefunden und sich im Erbrecht niedergeschlagen hat, wird freilich nicht diskutiert. Rainer Franks faszinierende Studie zum Familienrecht in Deutschland und Frankreich dagegen lässt im Vergleich vor allem die extremen Unterschiede zwischen den beiden Rechtssystemen deutlich werden. Im Erstaunen über das fremde Recht und dem Gefühl der Selbstverständlichkeit des eigenen Rechtes wird ein nationales Rechtsbewusstsein fassbar. Sichtbar wird auch, dass positives Recht und Rechtsbewusstsein in einer Tradition wurzeln, deren überlieferte Werte durch die Kodifizierung im Familienrecht wiederum verstärkt auf das Rechtsbewusstsein wirken.

Familien- und Erbrecht, aber auch das in diesem Band nicht vertretene Arbeitsrecht stellen also reizvolle Forschungsfelder dar, weil sie das Rechtsbewusstsein breiter Bevölkerungsschichten spiegeln und prägen. Der Wandel im deutschen und französischen Verständnis des Rechtsstaates scheint sich hingegen auf den ersten Blick nur im Bewusstsein einer kleinen Gruppe von Politikern und Juristen abzuspielen. Welche Rolle der „Staat der Grundrechte und des Verfassungsrichters" im Bewusstsein der Bürger insgesamt spielt, erschließt sich erst aus dem Gebrauch, den sie von ihrem Recht machen, d.h. für Deutschland aus der verstärkten Inanspruchnahme der Verfassungsgerichte. Grewes Studie dagegen ist höchst aufschlussreich für das politische System der III., IV. und V. französischen Republik und das der Bundesrepublik, weil sie eine Gruppe von Entscheidungsträgern analysiert, deren Bewusstsein den Wandel des Rechts direkt beeinflussen konnte.

Das Rechtsbewusstsein einzelner sozialer Gruppen muss also ein zentraler Gegenstand der Forschung sein, ermöglicht es doch auch methodologische Überlegungen zur Definition von Rechtsbewusstsein, die Erik-Volkmar Heyens Beitrag zu deutsch-französischen Austauschprozessen in der Rechtswissenschaft besonders interessant machen. Nicht zufällig betont er das kognitive Element, die Kenntnis des geltenden Rechtes, als Bestandteil des Rechtsbewusstseins neben dem normativen Element, dem Wissen um das Recht, wie es sein sollte. Dabei sieht er wie alle in diesem Band vertretenen Rechtswissenschaftler das Rechtsbewusstsein in einer engen Verbindung zu einem existierenden positiven Recht.

Historiker dagegen fragen auch nach Recht im Sinne von Legitimität politischen Handelns, am deutlichsten Gerd Krumeich in seiner einleitenden Tour d’horizon. Die Fülle der Beispiele, von der Überzeugung Jeanne d’Arcs, die Engländer hätten kein Recht auf französisches Territorium, bis zum Glauben der Deutschen an ein Recht auf einen „Platz an der Sonne" findet leider wenig Echo in den folgenden Beiträgen. Christian Amalvis Studie zum „bon droit de la France" auf den Rhein ist die einzige, die nachzeichnet, wie propagandistische Schriften dazu beitragen, ein Bewusstsein von der Legitimität territorialer Ansprüche zu schaffen. Leider geht Amalvi auf die Rezeption dieser Schriften überhaupt nicht ein, sodass unklar bleibt, wie weit sie auf einen Erwartungshorizont, ein bereits angelegtes Rechtsbewusstsein zielten, wie weit also Rechtsbewusstsein „ideologisch manipulierbar" (Krumeich) ist.

Fruchtbarer ist hingegen der Beitrag von Freddy Raphaël und Geneviève Herberich-Marx, die das subjektive Rechtsbewusstsein einer Gruppe untersucht haben, die eine Legitimation für ihr eigenes Handeln sucht: Elsässer, die im Zweiten Weltkrieg in der Wehrmacht dienten. Der Bezug zu positiven Rechtsvorschriften fehlt hier fast völlig, umso stärker tritt das für die Mentalitätengeschichte zentrale Thema des Erinnerns und Vergessens hervor, Erinnern und Vergessen von erlittenem und verübten Unrecht. Die von Krumeich für das 19. und 20. Jahrhundert beobachtete Ausdifferenzierung von Rechtsbewusstsein wird im Konflikt der Elsässer mit dem nationalen Gedächtnis und seinem Anspruch auf Allgemeinverbindlichkeit deutlich.

Die Beziehung von Rechtsbewusstsein und positivem Recht wird für Historiker am interessantesten in revolutionären Situationen, wenn das geltende Recht an Legitimität verliert und das Bewusstsein eines möglichen neuen oder anderen, auch ausländischen Rechtes in Forderungen nach einem Wandel des Rechts selbst mündet. Diese neue, andere Recht kann natürlich auch in Gestalt eines in der Erinnerung bewahrten „guten alten" Rechtes erscheinen.

Allein das Wissen oder die Erfahrung, dass Recht wandelbar ist, besitzt ungeheure Bedeutung für das Rechtsbewusstsein. Irmtraud Götz von Olenhusen spricht in diesem Zusammenhang von der „soziale(n) Wirksamkeit einer ‚Idee‘ von Revolution", und Thomas Würtenberger schildert, wie sich in der öffentlichen Meinung in Deutschland und Frankreich zwischen 1750 und 1820 der Gedanke durchsetzte, dass die herrschende rechtliche und politische Ordnung sich dem Zeitgeist anpassen müsse. Würtenberger sucht also nicht den Zeitgeist selbst als Ausdruck eines kollektiven Rechtsbewusstseins zu rekonstruieren, sondern verfolgt die Überzeugung gebildeter Kreise, ein Zeitgeist existiere und müsse als Maßstab der Kritik und Reform des geltenden Rechts akzeptiert werden. Erst auf dieser Metaebene wird Rechtsbewusstsein in Deutschland und Frankreich fassbar und vergleichbar.

Die größten methodischen Probleme wirft der Begriff des Rechtsbewusstseins freilich auf, wenn man sich dem kollektiven Bewusstsein der „kleinen Leuten" zuwendet. Wegweisend ist hier der von Elisabeth Fehrenbach für die Länder des rheinischen Rechts verwendete, von Karl-Georg Faber geprägte Terminus der „rechtspolitischen Erlebnisgemeinschaft", d.h. der Versuch, aus dem täglichen Gebrauch des Rechts durch die Betroffenen deren Wissen, Rechtsgefühl und -empfinden, deren Erwartungen und Forderungen zu erschließen. In Götz von Olenhusens abschließendem und ausgezeichneten Beitrag über die Revolutionen von 1848/49 in Deutschland und Frankreich wird dieser Ansatz zu einem Forschungsprogramm erweitert, das dem Vorwurf Luhmanns, das Rechtsbewusstsein sei empirisch nicht zu fassen, zu begegnen vermag. Wichtigste Quelle für die Erforschung des Rechtsbewusstseins in der sozialen Praxis sind Gerichtsakten, die z.B. darüber Aufschluss geben, wieweit Abweichungen vom geltendem Recht sanktioniert wurden und wie sich die Angeklagten rechtfertigten, welches Recht sie für sich in Anspruch nahmen.

Dass die Beobachtung ihres Verhaltens im Umgang mit dem Recht den Zugang zum Rechtsbewusstsein der „Laien" eröffnet, die ihr Verständnis des Rechtes in der Regel nicht artikulieren, wurde bereits in Zusammenhang mit Grewes Beitrag angemerkt. Mit Händen zu greifen sind die unterschiedlichen Verhaltensmuster deutscher und französischer Bürger im Bereich des Umweltrechts, dessen Praxis Conrad Schröder und Guy Dietrich aus der Sicht der verantwortlichen Verwaltungsbeamten schildern. Während französische Bürger das Umweltrecht in Form von Jagdverboten, Artenschutzrichtlinien usw. als Bedrohung ihrer alten Rechte erleben, begreifen deutsche Bürger Immissionsschutzgesetze als Schutz ihres neuen Rechtes auf eine gesunde Umwelt. Die von Götz von Olenhusen entwickelten Überlegungen lassen sich also unmittelbar auf das Rechtsbewusstsein der Gegenwart anwenden und eröffnen noch längst nicht ausgeschöpfte Möglichkeiten eines deutsch-französischen Vergleichs.

Sabine Rudischhauser, Shanghai



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