Archiv für Sozialgeschichte
Rezension

Helga Grebing (Hrsg.), Geschichte der sozialen Ideen in Deutschland. Sozialismus – Katholische Soziallehre – Protestantische Sozialethik. Ein Handbuch (= Veröffentlichungen des Instituts für soziale Bewegungen, Schriftenreihe A, Bd.13)., Klartext Verlag, Essen 2000, 1160 S., geb., 148 DM.

Dieses Handbuch ist die umfassende Neubearbeitung des gleichnamigen Werkes, das zuerst 1969, auch damals schon herausgegeben von Helga Grebing, im Rahmen des „Deutschen Handbuchs der Politik" erschienen war. Konzeption und Aufteilung des Bandes sind im Wesentlichen unverändert geblieben: Drei große Strömungen bzw. organisierte Bewegungen werden vorgestellt, die ihren Ausgang in der „sozialen Frage" des frühen und mittleren 19. Jahrhunderts fanden und sich aus dieser Grundkonstellation heraus jeweils spezifischen Idealen der sozialen Gerechtigkeit und Solidarität verschrieben. Im Mittelpunkt stehen die verschiedenen Strömungen des Sozialismus, die von Walter Euchner (vom Frühsozialismus bis 1933) und der Herausgeberin (von 1933 bis in die Gegenwart) diskutiert werden; diese beiden Teile beanspruchen mit 600 Seiten bereits mehr als die Hälfte des Umfangs. Die katholische Soziallehre haben Franz-Josef Stegmann (schon in der Erstausgabe der Autor dieses Teils) und Peter Langhorst übernommen; die Darstellung der sozialen Ideen im deutschen Protestantismus liegt in den Händen jüngerer Autoren, nämlich der Bochumer Theologen Traugott Jähnichen und Norbert Friedrich. Verschiedene Register und Verzeichnisse runden den Band ab.

Im Gegensatz zur ersten Ausgabe hat die Herausgeberin diesmal auf einen Einleitungsbeitrag verzichtet; zur Konzeption des Bandes und zu dem durchaus erklärungsbedürftigen Begriff der „sozialen Ideen" erfährt man deshalb nur etwas im Vorwort und in einem „Nachwort der Autoren". Soziale Ideen werden als „Wertorientierungen, Deutungsmuster, handlungsrelevante Vorstellungshorizonte, auch Denkstile" beschrieben, und ihre Erforschung ist damit Teil der „kulturalistische(n) Neuorientierung der Sozialgeschichtsschreibung". Dem könnte man zustimmen, doch ist in den einzelnen Beiträgen von dieser Neuorientierung so gut wie nichts zu spüren. Die Texte von 1969 sind vielmehr auch dort, wo neue Autoren eingetreten sind, eher aufpoliert und fortgeschrieben als im Grundsatz neu ausgerichtet worden. Seit den späten sechziger Jahren hat sich der Forschungsstand und das Spezialwissen zuerst in der Sozialgeschichte, jetzt zunehmend auch in der Ideen- und Intellektuellengeschichte aber so rasant vermehrt, dass auf dieser Grundlage eine Neuausrichtung des Handbuchs sinnvoll und spannend, aber eben auch bitter nötig gewesen wäre.

Die Folgen dieses Versäumnisses zeigen sich schon in den Kapiteln über den Sozialismus. Einem mit Recht so hoch geachteten Politikwissenschaftler wie Walter Euchner wird man mangelnde Kompetenz und Souveränität in der Behandlung der verschiedenen sozialistischen Theorieströmungen nicht vorwerfen können. Aber der gesamte historische Kontext dieser Theoriegeschichte – in der Arbeiter- und Arbeiterbewegungsgeschichte, aber auch in der allgemeinen Geschichte des 19. Jahrhunderts – stellt sich inzwischen fundamental anders dar. Nur auf ganz wenigen Anfangsseiten zum Beispiel fasst Euchner die Ergebnisse der Forschung zu den handwerklichen Ursprüngen und Traditionen der Arbeiterbewegung mit spitzen Fingern an, dann wechselt er in den Duktus einer Geschichte einzelner Personen und ihrer Werke, als sei nichts geschehen. Das Problem liegt aber nicht nur in der inhaltlichen Forschungsrezeption, die z.B. eine ganz andere Sichtweise auf Überlappungen mit dem frühen bürgerlichen Denken ermöglicht hätte. In einer zeitgemäßen Ideengeschichte des Sozialismus dürfte zudem nicht die herkömmliche Sequenz von Weitling über Marx und Engels bis Kautsky, sondern müssten Erfahrungshorizonte und Diskursmilieus eine zentrale Rolle spielen; Vereinsbildung, kulturelle Praxis oder auch nur die vielfältige Presselandschaft könnten als Quellengrundlage herangezogen werden.

Dieses Manko gilt auch für die anderen Kapitel; generell muss man leider feststellen, dass der Forschungsstand in einem ganz breiten Sinne über weite Strecken ausgeblendet wird. Ähnlich wie für die Arbeitertradition und das neue Bild des 19. Jahrhunderts gilt das auch für das 20. Jahrhundert, dessen Bild sich durch die vielfältige Herausarbeitung personeller und ideologischer Kontinuitäten zwischen Weimarer Republik, „Drittem Reich" und früher Bundesrepublik gewandelt hat – zumal aus der Perspektive von Ideen-, Intellektuellen- und Wissenschaftsgeschichte. In den Kapiteln über die katholische Soziallehre und den sozialen Protestantismus schlagen diese Schwächen besonders gravierend zu Buche. Interdisziplinäre Zusammenarbeit ist löblich, aber vielleicht sind die Theologen überfordert gewesen, den komplexen geschichtswissenschaftlichen Forschungsstand wenigstens in Grundzügen zu rezipieren und in ihrer Darstellung zu berücksichtigen. Über den „Ordoliberalismus" des „Freiburger Kreises" muss man mehr sagen können als hilflos darauf zu verweisen, er sei als eine der geistigen Wurzeln der Sozialen Marktwirtschaft bezeichnet worden (S. 1034). Schon die Fußnoten zeigen, dass sich Jähnichen und Friedrich zu eng auf die Literatur der kirchlichen Zeitgeschichte stützen. Ähnlich ist der Eindruck des Kapitels über die katholische Soziallehre; auch hier überwiegt viel zu sehr eine Binnensicht, und damit schleichen sich sehr schnell Fehlurteile ein. Noch einmal ein Beispiel aus der Mitte des 20. Jahrhunderts: Auf einer einzigen Seite (S. 769) suggerieren die Autoren zunächst, der deutsche Katholizismus sei völlig immun gegenüber dem Nationalsozialismus gewesen; dann wird die Gründung der Unionsparteien nach 1945 ganz verzerrt dargestellt: im Rückgriff auf die überholte Vorstellung von einer „Stunde Null", ohne Kenntnis der Kontinuität von Milieustrukturen, und in dem offenbaren Glauben, in der CDU seien katholische und protestantische Elemente etwa gleichgewichtig vertreten gewesen. Kritische Fragen fallen unter den Tisch. So werden Gustav Gundlach und Oswald von Nell-Breuning als Kritiker des Neoliberalismus in den fünfziger Jahren erwähnt, aber verschwiegen, dass diese Kritik sich wie schon in den zwanziger und dreißiger Jahren maßgeblich auf ständische Ordnungsmodelle und auf Konzepte vom „starken Staat" gründete, die mit einer pluralistischen und parlamentarischen Demokratie schwer vereinbar waren. Dass diese problematischen Kontinuitäten im deutschen sozialen Katholizismus erst in den 60er Jahren von einer jüngeren Generation beiseite geräumt wurden, davon ist ebenfalls nicht die Rede.

Diese Einäugigkeit verweist auf ein gravierenderes Grundproblem in der Konzeption des Handbuchs: auf die Überzeugung der Herausgeberin und der Autoren nämlich, in den drei von ihnen behandelten Strömungen, und ausschließlich in ihnen, seien „soziale Ideen" in einem moralisch-normativen Sinne repräsentiert. Warum fehlen Liberalismus, Konservatismus oder andere für das 19. und 20. Jahrhundert zentrale ideenpolitische Strömungen? Vom Konservatismus ist überhaupt nicht die Rede; der Liberalismus wird mit der Bemerkung abgefertigt, „dass soziale Ideen in einem grundsätzlichen Sinn nicht liberale sein können, da sie sich gegen die Unterstellung einer durch Markt und Wettbewerb gekennzeichneten natürlichen Ordnung wenden müssen" (Vorwort, S. 10). Darin schimmert eine gefährliche Verwechslung von Wissenschaft und Politik auf, einmal abgesehen davon, dass eine solche Sichtweise des Liberalismus historisch-empirisch unzutreffend ist – von der „klassenlosen Bürgergesellschaft" des Vormärz bis zu Richard Rorty oder den Kommunitaristen in unseren Tagen. Mit diesem Handbuch ist deshalb eine große Chance vertan worden.

Paul Nolte, Bielefeld



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