Archiv für Sozialgeschichte
Rezension

Herbert Diercks(Hrsg.), Verschleppt nach Deutschland! Jugendliche Häftlinge des KZ Neuengamme aus der Sowjetunion erinnern sich (hrsg. im Auftrag des Freundeskreises KZ-Gedenkstätte Neuengamme e.V. und der KZ-Gedenkstätte Neuengamme), Edition Temmen, Bremen 2000, 208 S., geb., 39,90 DM.

Die Gedenkstätten der ehemaligen Konzentrationslager erfüllen zwei wesentliche Aufgaben: Forschung und Aufklärung. Die Lebenserinnerungen ehemaliger Häftlinge haben dabei für beide Bereiche seit jeher einen herausragenden Stellenwert. Denn zum einen sind bei vielen Konzentrationslagern die wichtigsten Akten systematisch vernichtet worden. Zum anderen wurde früh erkannt, dass die Selbstzeugnisse der ehemaligen Häftlinge für die pädagogische Arbeit unverzichtbar sind. Nachdem man sich dabei zunächst auf die Erforschung des Schicksals der jüdischen Häftlinge konzentrierte, gibt es inzwischen Arbeiten zu allen Häftlingsgruppen, in letzter Zeit vermehrt zu Bürgern der ehemaligen Sowjetunion, die als „Ostarbeiter" oder Kriegsgefangene nach Deutschland verschleppt worden waren. Bis noch vor etwa zehn Jahren in der Geschichtsschreibung der Konzentrationslager unterrepräsentiert, sind inzwischen eine Reihe von Initiativen auf verschiedenen Ebenen entstanden, die sich dieser Häftlingsgruppe widmen und Kontakte knüpfen.

Die KZ-Gedenkstätte Neuengamme hat zusammen mit dem Freundeskreis der Gedenkstätte seit Anfang der neunziger Jahre Interviews und schriftliche Berichte ehemaliger Häftlinge aus den Nachfolgestaaten der Sowjetunion, vor allem der Ukraine, gesammelt. Aus diesem Material entstand das vorliegende Buch, das auch in russischer Sprache erschienen ist, um „diese Opfer des Naziregimes zu würdigen, ihnen ein 'Denkmal zu setzen'" (S. 9), das heißt, es werden weniger wissenschaftliche als pädagogische Zielsetzungen verfolgt. Zu diesem Zweck sind Ausschnitte aus Briefen, schriftlichen Berichten und Interviews zusammengestellt und thematisch geordnet worden, wobei jeder Abschnitt vom Herausgeber, dem Archivar der Gedenkstätte Neuengamme, kurz eingeleitet wird. Den Schwerpunkt bilden dabei die Kapitel über die Haft im KZ Neuengamme und seinen Außenlagern, aber auch die Zeit davor und danach wird behandelt. So werden die Spezifika des Schicksals jugendlicher, vorwiegend männlicher KZ-Häftlinge aus der UdSSR deutlich, auch wenn es sich „keinesfalls um repräsentative Erinnerungen sowjetischer Häftlinge" (S. 10) handelt. Sozialisiert in den Anfangsjahren des Stalinismus, wurden sie durch den Krieg und die deutsche Besatzungsherrschaft aus ihrer gerade beginnenden beruflichen Orientierung gerissen. Über diese Kindheits- und frühe Jugendphase der späteren KZ-Häftlinge hätte man sich allerdings noch ausführlichere Berichte gewünscht. Es wäre von großem Interesse, wie Stalinisierung, Entkulakisierung, Industrialisierung und die große Hungersnot von 1932/33 heute rückblickend geschildert werden. Ausführlicher wird die Besatzungszeit ab 1941 behandelt, vermutlich auch, weil die Erzählungen von dieser Zeit an ausführlicher und farbiger werden. Freudige Begrüßung der Deutschen und gute Behandlung prägen die Erinnerungen an diese Zeit ebenso wie Gedanken an Folter und Willkürmaßnahmen.

Mit der „Deportation nach Deutschland" (S. 18) begann ein neuer Lebensabschnitt, der bei vielen Verschleppten das gesamte spätere Leben beeinflusste. Einige wenige hatten den Versprechungen der Deutschen geglaubt und sich freiwillig gemeldet, die Masse aber musste mit zunehmend brutaleren Methoden gezwungen werden. In Deutschland wurden sie dann in allen Wirtschaftszweigen eingesetzt, wobei es den in der Landwirtschaft Beschäftigten regelmäßig besser erging, als denjenigen in der Großindustrie, wo lagermäßige Unterbringung, Sklavenarbeit und Bestrafungsaktionen an der Tagesordnung waren.

In das KZ Neuengamme gerieten die meisten aus nichtigen oder vorgeschobenen Gründen, denn der ausufernde SS-Wirtschaftsapparat erforderte immer neue Arbeitskräfte. Die Häftlinge wurden in verschiedenen „Kommandos" eingesetzt, die sich in den Arbeitsbedingungen deutlich unterschieden. Während die Arbeit an der Begradigung und Vertiefung der Elbe oder in den Tongruben kaum ein Überleben zuließ, bot etwa das „Kaninchenstallkomando", bei dem Angorakaninchen versorgt werden mussten, Gelegenheit zur Erholung. Ein Kapitel ist dem „Alltag im Stammlager" gewidmet, denn auch unter KZ-Bedingungen gab es eine Alltagsroutine, die ein Mindestmaß an Berechenbarkeit und Sicherheit bot, von den Kapos oder Wachmannschaften aber jederzeit durchbrochen werden konnte.

Exemplarische Berichte aus einigen Außenlagern bieten Einblicke in die verschiedenen Tätigkeiten, zu denen die KZ-Häftlinge eingesetzt wurden. Das Spektrum reichte vom Bomben- und Trümmerräumen über die Errichtung von und Arbeit in Industriebetrieben bis zum Bau von Verteidigungsanlagen. Ausführlich geschildert werden auch die „Todesmärsche", die nach den Räumungen der Außenlager durchgeführt wurden sowie die Räumung des Stammlagers mit der anschließenden Unterbringung auf Schiffen in der Lübecker Bucht. Der Angriff auf diese Schiffe durch britische Kampfflieger, bei dem über 7.000 Menschen ums Leben kamen, gehört sicher zu den tragischsten Kapiteln der Geschichte des KZ Neuengamme.

Die letzten beiden Kapitel widmen sich der Befreiung und dem späteren Leben in der Sowjetunion. Dabei wird korrekt angemerkt, dass die Masse der ehemaligen Häftlinge freiwillig nach Hause zurückkehrte, zumeist aus Sorge um die Familie und die Freunde. In vielen Darstellungen wird dagegen die Repatriierung immer noch als Zwangshandlung dargestellt, die sie nur für Sondergruppen, etwa Angehörige der Wlassow-Armee, war. In der Heimat hatten viele unter ständigem Misstrauen an ihrer Arbeitsstelle, aber auch in ihrem persönlichen Umfeld zu leiden. Der Eintritt in die Partei und damit die Chance zu einem bedeutenden beruflichen Aufstieg blieb ihnen zeitlebens verwehrt.

Im Anhang finden sich eine Kurzbiographie von jeder Person, die im Buch mit einem Bericht vertreten ist, ein Glossar, das vor allem Begriffe der Lagersprache erläutert und eine kurze Literaturliste zur Geschichte des KZ Neuengamme.

Wie eingangs erwähnt, handelt es sich mehr um ein pädagogisches als wissenschaftliches Buch, und in diesem Rahmen sind auch einige Kritikpunkte zu sehen, die eher als Anregungen bei einer eventuellen Neuauflage zu verstehen sind. Nützlich wären eine Lagerskizze, eine Karte der Außenlager sowie ein Orts- und Arbeitgeberregister. Bei den Kurzbiographien hätte man sich noch die Angabe des Geburtsortes gewünscht. Hier sind übrigens auch zwei Personen vorgestellt, von denen das Buch keinen Bericht enthält (Dospechow und Goschko). Im Übrigen wäre auch die Aufteilung der Berichte zu überdenken, denn innerhalb der einzelnen Kapitel sind die Erzählungen noch einmal thematisch geordnet. Dies hat zur Folge, dass einige Personen in einem Kapitel mit mehreren kurzen Auszügen vertreten sind, bisweilen sogar direkt aufeinander folgend. Längere Berichte wären meines Erachtens hier eindrucksvoller, auch wenn dadurch die Unterthemen verteilt auftreten würden.

Ein eindrucksvolles Buch, das die Charakteristika des Verfolgungsschicksals der Opfer aus der ehemaligen Sowjetunion deutlich macht, deren Leben in vielen Fällen bis heute durch die Tatsache ihrer Verschleppung nach Deutschland geprägt wird. Sehr zu empfehlen als Nachttischlektüre für Manager, die immer noch zögern, dem Entschädigungsfonds beizutreten.

Jens Binner, Ilsede



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