Archiv für Sozialgeschichte
Rezension

Wlodzimierz Borodziej / Klaus Ziemer (Hrsg.), Deutsch-polnische Beziehungen 1939-1945-1949. Eine Einführung (= Einzelveröffentlichungen des Deutschen Historischen Instituts Warschau, Bd. 5), fibre Verlag, Osnabrück 2000, 348 S., kart., 48 DM.

Den Herausgebern dieses Sammelbandes kommt das große Verdienst zu, eine fundierte und verständliche Einführung in das für Deutsche wie Polen schwierigste historische Kapitel mit seinen weit reichenden Folgen für beide Gesellschaften zu bieten. Die ausführliche Einbeziehung des Holocaust macht deutlich, dass es dabei sehr wesentlich auch um ein deutsch-polnisch-jüdisches Beziehungsdreieck geht.

Nachdem Beate Kosmala zunächst die Vorgeschichte der deutschen Besatzung schildert (Der deutsche Überfall auf Polen. Vorgeschichte und Kampfhandlungen, S. 19-41), bietet der Beitrag von Hans-Jürgen Bömelburg und Bogdan Musial (Die deutsche Besatzungspolitik in Polen 1939-1934, S. 43-111) einen umfassenden Überblick über das Vorgehen der Deutschen in Polen. Die Vernichtung der polnischen Eliten und der Missbrauch der übrigen Bevölkerung als billige Arbeitskräfte war von Anfang an geplant, sodass sich der Charakter eines Vernichtungskrieges bereits 1939 abzeichnete (S. 55). An dessen Ende waren in Polen 5,5 bis 6 MiLlionen Tote und schwere materielle und kulturelle Verluste zu beklagen; zu Recht beschreiben die Verfasser aber auch die "moralisch-ethische Zerrüttung eines wesentlichen Teils der polnischen Gesellschaft" (S. 104) als Folge der Besatzungspolitik. Bereits in diesem Beitrag wird auch auf die Verfolgung und Ermordung der polnischen Juden eingegangen, obwohl Dieter Pohl (Der Völkermord an den Juden, S. 113-134) und Jan Gross ("Jeder lauscht ständig, ob die Deutschen nicht schon kommen". Die zentralpolnische Gesellschaft und der Völkermord, S. 215-233) diese Thematik in der Folge noch eigenständig behandeln.

Pohl gelingt in der gebotenen Kürze eine präzise Darstellung der Vorgänge im "Epizentrum" des Völkermords (S. 113). Er beschreibt die verschiedenen Etappen des Vernichtungsprozesses von der Gettoisierung bis zum millionenfachen Tod in den Gaskammern, befasst sich aber auch mit dem jüdischen Widerstand und beschreibt differenziert das polnische Verhalten gegenüber den verfolgten Juden, was leider für den Beitrag von Jan Gross nicht zutrifft. Nicht nur dessen Sprache, die auf ein kaum überarbeitetes Vortragsmanuskript schließen lässt, ist ärgerlich; auch die ausschließliche Konzentration auf die zweifellos vorhandene antisemitische Einstellung vieler Polen, die zu Gleichgültigkeit oder gar Zustimmung zu den Judenverfolgungen führte und sie in Einzelfällen auch zu Mittätern machte, zeichnet ein viel zu einseitiges Bild von "der" polnischen Gesellschaft. Fragwürdig ist bereits, dass Gross seine Aussagen nur auf ein einziges Tagebuch stützt und auf dieser Basis "Millionen von Polen" beschuldigt, angesichts des Holocaust versagt zu haben (S. 223). Vollends überzogen ist es schließlich, wenn Gross nach wenig überzeugenden Ausführungen zur Kollaboration, in die er auch die Judenräte einbezieht, zu dem Schluss kommt, ein polnisches "Lumpenproletariat", das bereits den Nazis als Helfer gedient habe, sei nach dem Krieg das "gesellschaftliche Rückgrat" der neuen kommunistischen Herrschaftsordnung geworden (S. 231- 232). Derartige Provokationen sind wenig hilfreich, wenn es um die hochsensible Problematik der polnisch-jüdischen Beziehungen nach 1939 geht.

Ein völlig gegensätzliches Bild der polnischen Gesellschaft unter der deutschen Besatzung zeichnet Tomasz Szarota (Resistenz und Selbstbehauptung der polnischen Nation, S. 135-162). Er stellt den polnischen Widerstand in einen europäischen Kontext und arbeitet seine Besonderheiten, wie z.B. einen umfassenden "bürgerlich-patriotischen Moralkodex" (S. 140) heraus. Szarota befasst sich zunächst mit dem zivilen Widerstand und nennt dabei auch das polnische Hilfskomitee für die verfolgten Juden ¯egota, dem er "Hochachtung" zollt (S. 147). In Hinblick auf den bewaffneten Kampf, dessen Höhepunkt der Warschauer Aufstand 1944 war, weist Szarota darauf hin, dass man heute in Polen die daran Beteiligten als Vorkämpfer der politischen Wende von 1989 sieht (S. 154).

Vergleicht man die Beiträge von Szarota und Gross, so wird deutlich, dass es noch immer mindestens zwei Geschichten des Zweiten Weltkriegs gibt - eine polnische und eine jüdische. Dagegen ist im deutsch-polnischen Zusammenhang inzwischen bereits eine deutliche Annäherung der Standpunkte zu beobachten. Dafür spricht u.a., dass sich ein polnischer Historiker, Piotr Madajczyk, in diesem Sammelband ausführlich mit der Situation der Deutschen in Polen nach 1945 befasst (Die polnische Politik gegenüber der deutschsprachigen Bevölkerung östlich von Oder und Neiße 1944-1950, S. 163-187). Dass diese dort nach den traumatischen Erfahrungen der Kriegszeit unerwünscht waren und Polen fortan ein Nationalstaat ohne Minderheiten sein sollte, war die Meinung einer breiten Mehrheit in Polen und wurde - wie auch die Zwangsumsiedlung der Deutschen nach Westen - durch die Potsdamer Beschlüsse im Sommer 1945 sanktioniert. Madajczyk konstatiert, dass die "Vertreibung" oft unter "menschenunwürdigen Bedingungen" verlief und führt dies vor allem auf die "weit verbreitete Abstumpfung gegenüber jeglichem Leid" zurück (164). Viel mehr erfahren wir über diesen Vorgang jedoch nicht, da sich der Verfasser auf die in Polen Verbliebenen konzentriert. Dafür greift Michael Esch in seinem Beitrag über "Bevölkerungsverschiebungen und Bevölkerungspolitik 1939-1950" (S. 189-231) die Zwangsmigrationen des Zweiten Weltkriegs und der unmittelbaren Nachkriegszeit erneut auf. Hier ist jedoch zu fragen, welche neuen Erkenntnisse ein Vergleich der nationalsozialistischen Menschentransfers und Deportationen in Polen, die für 3 Millionen jüdischer Menschen in den Vernichtungslagern endeten, und des polnischen Bestrebens, einen ethnisch homogenen Nationalstaat auch unter Einbeziehung von Gewalt zu schaffen, noch ergeben kann. Schließlich betont auch Esch zu Beginn und am Ende seines Beitrags die "grundlegend unterschiedliche Beurteilung des deutschen und polnischen Vorgehens" (S. 211, 189).

Die letzten drei Beiträge des Sammelbandes sind der Vergangenheitspolitik in Polen, der DDR und der Bundesrepublik 1945-1989 gewidmet. Eine Schlussfolgerung aus den Darstellungen von Edmund Dmitrów (Vergangenheitspolitik in Polen 1945-1989, S. 235-264), Jürgen Danyel (Vergangenheitspolitik in der SBZ/DDR 1945-1989, S. 265-295) und Jörg Hackmann (Vergangenheitspolitik in der Bundesrepublik Deutschland und das Verhältnis zu Polen, S. 297-327) ist die jeweils selektive Wahrnehmung des Kriegsgeschehens in den kollektiven Gedächtnissen und die Instrumentalisierung für politische Zwecke. Dmitrów beschreibt, wie sich die kommunistischen Machthaber in Polen die kriegsbedingte Deutschland-Problematik für eine Selbst-Stilisierung als Vertreter nationalpolnischer Interessen und gleichzeitig zur Ablenkung von der aufgezwungenen sowjetischen Vorherrschaft zu Nutze machten. Damit verbunden war die Tabuisierung sowjetischer Verbrechen wie in Katyñ und die Verdammung des bürgerlichen polnischen Untergrunds und insbesondere der "Heimatarmee" (AK). Genau dies jedoch führte zu einem erheblichen Bruch zwischen dem offiziellen Geschichtsbild und dem kollektiven Gedächtnis der polnischen Gesellschaft (S. 249). Hinsichtlich der bewussten Verwischung deutscher Spuren in den ehemaligen deutschen Ostgebieten hält Dmitrów freilich fest, dass diese "Amnesie" nicht zuletzt der Integration der dorthin Umgesiedelten diente (S. 259). Wie Dmitrów betont auch Hackmann, dass erst in den 1960er Jahren, insbesondere durch die Ostpolitik der Regierung Brandt, ein tief greifender Wandel in den Beziehungen zwischen der Volksrepublik Polen und der Bundesrepublik eintrat. Zuvor waren das westdeutsche Interesse an Polen und die Bereitschaft zu einem Schuldbekenntnis gegenüber dem polnischen Volk höchst gering (S. 312); im Vordergrund standen stattdessen die Interessen der Vertriebenen. Fraglich ist jedoch, ob die Arbeiten Margarete und Alexander Mitscherlichs und anderer, die sich mit dem Phänomen der Verdrängung und Fragen der psychischen Disposition der Deutschen in der Zeit des Nationalsozialismus befassten, die "Frage nach den historischen Ursachen" der Verbrechen in den Hintergrund drängten, wie Hackmann behauptet (S. 314). Vielmehr ist doch die Nicht-Befassung mit psychologischen Themenkomplexen bis heute ein wesentliches Defizit vieler historiographischer Arbeiten zum Zweiten Weltkrieg.

Anders als die Bundesrepublik war die DDR laut Jürgen Danyel seit Ende der 1940er Jahre zumindest eine Zeit lang um gute Beziehungen zum polnischen Nachbarn bemüht, was auch mit einem frühen Eingeständnis deutscher Schuld verbunden war (S. 273-274). Doch stellt Danyel für die DDR gleichfalls eine zunehmende "Schlussstrichmentalität" (S. 279) fest. Wie Dmitrów für Polen, so beschreibt Danyel auch für die DDR die Kluft zwischen dem Welt- und Feindbild der Staats- und Parteiführung und der Befindlichkeit der Bevölkerung, die die offizielle, von einem zunehmend erstarrten, da von oben verordneten Antifaschismus geprägte Erinnerung an die Nazi-Verbrechen zu einer "weitgehend abstrakten und entdifferenzierten Geste" (S. 290) werden ließ.

Nicht zuletzt auch dank der ausführlichen, zum Teil kommentierten Literaturhinweise der einzelnen Beiträge (sie fehlen nur bei Jan Gross) ist dieser Sammelband allen zu empfehlen, die eine gut lesbare und dennoch höchst solide Einführung in die deutsch-polnische Beziehungsgeschichte seit Ausbruch des Zweiten Weltkriegs suchen.

Gertrud Pickhan, Dresden



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