Archiv für Sozialgeschichte
Rezension

Dietrich Beyrau (Hrsg.), Blick zurück ohne Zorn. Polen und Deutsche in Geschichte und Gegenwart, Attempo Verlag, Tübingen 1999, 191 S., brosch., 48 DM.

Dieser Sammelband geht auf eine Vorlesungsreihe zurück, die an der Universität Tübingen in Zusammenarbeit mit dem damaligen Südwestfunk abgehalten wurde und insgesamt acht Beiträge deutscher und polnischer Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen aus den Bereichen Geschichte, Literatur und Politik umfasst. Der zeitliche Horizont reicht von der deutschen Klassik und dem Vormärz bis in die Gegenwart. Wie D. Beyrau als Herausgeber eingangs hervorhebt, machte erst die politische Wende 1989 ein weitgehend tabufreies Herangehen an die schwierigen Kapitel der deutsch-polnischen Beziehungsgeschichte möglich, die seit dem 18. Jahrhundert wesentlich durch das machtpolitische Ungleichgewicht zwischen Deutschland und Polen geprägt war, jedoch auch lange Phasen der Koexistenz und Kontakte aufwies (S. 7-9).

Mit der Ausnahmeerscheinung einer deutschen "Polenbegeisterung" im Vormärz beschäftigt sich Dieter Langewiesche (Humanitäre Massenbewegung und politisches Bekenntnis. Polenbegeisterung in Süddeutschland, S. 11-37) und fragt nach deren Motiven, Trägern und Niedergang. Auf der politischen Ebene wurden die enthusiastischen Solidaritätsbekundungen für die widerständigen und letztlich unterlegenen Polen von den südwestdeutschen Liberalen dominiert, die im polnischen Schicksal freilich vor allem das eigene, deutsche sahen (S. 13, 23). Zu einer Massenbewegung konnte die Polenbegeisterung aber nur durch die Beteiligung breiter Bevölkerungskreise werden, die eher von einem unpolitischen Bekenntnis zur "Menschlichkeit" getrieben waren. Nur so waren auch die beachtlichen weiblichen Aktivitäten im Rahmen der Polenbegeisterung möglich (S. 23, 31). Der nationale Gedanke, der laut Langewiesche das Bindeglied zwischen Liberalen und der breiten Masse bildete, führte im Folgenden recht bald zur alleinigen Konzentration auf die deutschen Interessen und damit auch zu einem immer stärker werdenden deutsch-polnischen Antagonismus.

Dem Wandel im deutschen Polenbild im 19. und 20. Jahrhundert., abhängig von politischen Konjunkturen, geht Rudolf Jaworski nach (Zwischen Polenliebe und Polenschelte, S. 55-70). Während seit Ende des 18. Jahrhunderts. zunächst noch die Ambivalenz von polnischer Freiheitsliebe und Fanatismus in deutschen Augen vorherrschend war, führte das Stereotyp der "polnischen Wirtschaft" zunehmend zu einer überheblichen Herabsetzung des östlichen Nachbarn, die sich bis 1900 zu einem "negativ besetzten Vorstellungskomplex"(S. 60) verengte, in dem auch deutsche Männerphantasien von der schönen, aber unberechenbaren Polin und die Rede von einer "biologischen Gefahr", bedingt durch eine höhere Geburtenrate in Polen, eine Rolle spielten. Doch betont Jaworski, dass es vor allem das Beamtentum in den preußischen Ostprovinzen war, das für die Konstruktion des negativen Polen-Bilds verantwortlich war, während z.B. Kaufleute und Gutsbesitzer davon frei waren. Hier ist jedoch zu fragen, ob nicht auch das Polen-Bild dieser Kreise durch ein kompensatorisches Überlegenheitsgefühl geprägt war. Die deutsche Polenfeindlichkeit der Weimarer Zeit fand ihre Fortsetzung in der nationalsozialistischen Kriegspropaganda, die Polen und andere osteuropäische Völker zu "Untermenschen" erklärte. Nach 1945 war es, wie Jaworski hervorhebt, zunächst die DDR, die gegenüber Polen "ernstgemeinte Versuche der Völkerverständigung" (S. 66) unternahm, während in Westdeutschland zunächst der Einfluss der Vertriebenenverbände und damit die Vorstellung von einem zivilisatorisch auf niedrigerer Stufe stehenden Polen dominierten. Erst die Ostpolitik Willy Brandts machte Polen wieder zu einem "interessanten Nachbarland" (S. 66-67), dem in der Zeit der Solidarnosc und des Kriegsrechts sogar erneut Sympathie entgegengebracht wurde, was aber nur in der BRD zu beobachten war; für die DDR geht Jaworski - vielleicht zu pauschal - von einer "breiten Ablehnung" der Solidarnosc aus (S. 67). Beachtung verdient auch sein Hinweis, dass das deutsche Verhältnis zu Russland jeweils von entscheidender Bedeutung für die Ausprägung des Polenbilds war - ob 1848 beim Abflauen der Polensympathien oder nach 1985 bedingt durch den Hoffnungsträger Gorbacev (S. 67, 69).

Mit dem Zweiten Weltkrieg als traurigem Tiefpunkt in den deutsch-polnischen Beziehungen befasst sich Dietrich Beyrau (Experimentierfeld der Moderne: Vernichtung, Vertreibung und Umsiedlung, S. 71-101). Sein Versuch, dieses schwierige Kapitel zusammenzufassen, vermag nicht vollständig zu überzeugen. Er schildert zunächst die nationalsozialistischen Maßnahmen in den eingegliederten Gebieten und im Generalgouvernement, wobei aber die Darstellung der Verfolgung, Gettoisierung und Ermordung der polnischen Juden seltsam sprunghaft wirkt. Beyraus Diktum über den polnischen Widerstand, er sei "ebenso sehr mit sich selbst" wie mit dem Kampf gegen die deutschen Besatzer beschäftigt gewesen (S. 84, 87), ist arg verkürzt, und auch der Hinweis, dass man sich in Polen nach 1945 bei den massenhaften Zwangsumsiedlungen der ukrainischen Bevölkerung in das Oder-Neiße-Gebiet von der Vorgabe Himmlers als "Meister der Völkerverschiebung" habe leiten lassen und auch gegenüber den Deutschen "analoge Techniken" wie die Nationalsozialisten anwandte (S. 89-91), trifft nicht den Kern dieser Problematik, wenngleich eine durch die Kriegserfahrungen bedingte Brutalisierung der polnischen Bevölkerung außer Frage steht.

In die Gegenwart der umfassenden Transformation nach 1989 führen die Beiträge von Melanie Tatur (Solidarnosc: Mythos als Realität, S. 141-163) und Klaus Ziemer (Freuden und Schmerzen der Transformation, S. 165-187). Tatur erklärt das polnische Durchhaltevermögen im schwierigen Systemwandel der neunziger Jahre mit dem Mythos der Solidarnosc, die zwar durch das Kriegsrecht 1981 als Bewegung zerschlagen wurde, jedoch zuvor die nach Tatur für die sozialistische Gesellschaft des Ostblocks kennzeichnende Fragmentierung der Interessen und den Rückzug ins Private durchbrochen hatte, was für den späteren Erfolg des polnischen "Runden Tisches" von entscheidender Bedeutung war. Auch Ziemer schreibt den Erfolg der polnischen Opposition 1989 vor allem dem zuvor in der Solidarnosc gelungenen Bündnis von Arbeitern und Intellektuellen zu. Neben den Postkommunisten ist die "Wahlaktion Solidarnosc" gegenwärtig erneut die stärkste politische Kraft in Polen, wo es nach Ziemer trotz erheblicher wirtschaftlicher Probleme und vieler Transformations-Verlierer immer weniger "Nostalgie nach der Volksrepublik" (S. 177) gibt.

Abschließend sei auch auf die deutsch-polnischen Beiträge über Literatur hingewiesen, von denen die Ausführungen von Hubert Orlowski über "Lost Paradise? Verlorene Welten in Literatur und Erinnerung" (S. 103-124) und Heinrich Olschowsky (Riss im Loch. Polnische Literatur im Tauwetter, S. 125-140) besondere Beachtung verdienen. Orlowski arbeitet vor allem die Unterschiede im literarischen Kanon des deutschen und des polnischen "Verlustsyndroms" heraus. Während die Beschäftigung mit dem verlorenen polnischen Grenzland im Osten ("kresy") ebenso wie mit ehemals deutschen, nunmehr polnischen Städten wie Danzig/Gdansk oder Breslau/Wroclaw in Polen einen "postmodernen Regionalismus" schuf, der gerade die multiethnische Vergangenheit dieser Gebiete betont, sieht Orlowski die deutsche Ostpreußen-Literatur in der Tradition des "antizivilisatorischen und kulturpessimistischen Strangs der deutschen Geistesgeschichte" (S. 118). Olschowsky geht ins Jahr 1956 zurück und fragt nach der Rolle der polnischen Intellektuellen im Prozess der geistigen Entstalinisierung. Den Vorwurf des Opportunismus entkräftigt er mit dem Hinweis auf die Vorreiter-Rolle von bildenden Künstlern und Literaten wie Adam Wazyk, dessen "Gedicht für Erwachsene", das auch von Brecht übersetzt wurde, bereits 1955 den Umbruch und das "Ende der Angst" (S. 128) in der polnischen Gesellschaft einleitete.

Als Resümee ist festzuhalten, dass das Lesepublikum dieses Sammelbandes viel Interessantes über deutsche und polnische Mentalitäten erfährt. Ausführungen über die "lange Tradition der Kontakte und Koexistenz in den weniger sprachmächtigen Bevölkerungsgruppen", die der Herausgeber in der Einleitung anführt (S. 9), sucht man jedoch vergeblich.

Gertrud Pickhan, Dresden



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