Archiv für Sozialgeschichte
Rezension

Mark Allinson, Politics and popular opinion in East Germany 1945-68, Manchester University Press, Manchester, New York 2000. 178 S., geb., 45 £.

Der Titel der angezeigten Studie erweckt eine Neugier, die mit der Lektüre der Einleitung noch wächst, kündigt sie doch nicht weniger als eine Geschichte der Gesellschaft der DDR an. Versprochen werden neue Perspektiven auf das Verhältnis von Herrschaft und Gesellschaft sowie Aufklärung über die Frage von Stabilität und Instabilität der DDR. Insofern lässt die Dissertation von Mark Allinson also einen Beitrag zu einer aktuellen und kontrovers geführten Forschungsdiskussion erwarten.

Am Beispiel des Landes Thüringen bzw. ab 1952 des Bezirkes Erfurt soll das Wechselspiel von SED und staatlichen Organen einerseits und der Bevölkerung andererseits untersucht werden. Im Vordergrund stehen Fragen nach der Umsetzung der Vorgaben aus der Berliner Zentrale im Bezirksmaßstab, nach der Beteiligung und Reaktion von Funktionären und Bevölkerung und vor allem nach der Unterstützung oder Ablehnung der Maßnahmen in einzelnen Bevölkerungsgruppen. Anhand der Befunde möchte Allinson ein klareres Bild darüber gewinnen, inwieweit das SED-Regime von der Bevölkerung unterstützt, akzeptiert oder hingenommen wurde, und darüber, was unter SED-Herrschaft überhaupt zu verstehen sei. Er verzichtet auf eine geschlossene Darstellung der sozio-ökonomischen und politischen Entwicklung des ausgewählten Territoriums und konzentriert sich – nach knappen Abschnitten zur Entstehung der politischen Strukturen und zu einigen Spezifika Thüringens – vielmehr darauf, welchen Niederschlag herausragende Ereignisse der Geschichte der DDR in der Region gefunden haben. Das Spektrum reicht vom Tod Stalins und dem 17. Juni 1953 über die „Entstalinisierungsphase" mit dem Volksaufstand in Ungarn 1956, die Zwangskollektivierung der Landwirtschaft und den Mauerbau bis zur öffentlichen „Debatte" im Vorfeld der DDR-Verfassung von 1968 und dem Prager Frühling. Eingeschoben ist eine Darstellung des Verhältnisses von Staat und Kirche, insbesondere der Auseinandersetzungen um die „Junge Gemeinde" und die Jugendweihe, in der auch die Sonderentwicklung im katholischen Eichsfeld beleuchtet wird.

Um es vorwegzunehmen – die Studie kann die selbst gestellten hohen Ansprüche nicht einlösen. Ungeachtet der komplexen Thematik werden häufig und in unterschiedlichen Zusammenhängen verwendete Zentralbegriffe wie „Stabilität" weder präzisiert, noch wird ein begrifflicher Rahmen zu einem analytischen Konzept entfaltet. Zudem ignoriert Allinson die gesamte für das Thema einschlägige und noch nicht beendete Forschungskontroverse, in der etwa Ralph Jessen, Thomas Lindenberger, Sigrid Meuschel und Detlef Pollack bereits zu einer differenzierteren Sichtweise des Verhältnisses von Herrschaft und Gesellschaft beigetragen haben.

In ihren empirischen Teilen gelangt die Studie nicht zu einer kohärenten Darstellung der relevanten Handlungszusammenhänge etwa um den 17. Juni, sondern zeigt vor allem einzelne Facetten der Aktionen von SED und Staat. Der Schwerpunkt liegt auf der Darstellung der Reaktion von Teilen der Bevölkerung, wie sie sich in den auf Bezirksebene gesammelten und verfassten Berichten spiegelt. Hier werden die Grenzen des regionalgeschichtlichen Zugangs für die Fragestellungen der Studie deutlich. Das benutzte Material – häufig Informations- und Stimmungsberichte – ist auf der Bezirksebene bereits so stark aggregiert, dass sich Charakter und Inhalte kaum von den Dokumenten unterscheiden, die sich in den Archiven der Berliner Zentralen von Staat und Partei finden. Ein Zugriff auf die Mikroebene, also das konkrete Lebensumfeld als einem Ort, an dem gesellschaftliches Handeln im Unterschied zu den überwölbenden Ebenen möglicherweise lokalisierbar ist, und damit auf die konkreten Handlungskontexte, in denen die lokalen Repräsentanten des Regimes sowie Individuen und Gruppen als Akteure agierten, ist mit diesen Materialien kaum möglich. Hier wirft die Arbeit allenfalls Schlaglichter auf einzelne Beispiele, deren Repräsentativität aber offen bleiben muss. Dies wäre kein Einwand, wenn Allinson den Geltungsbereich seiner Aussagen nicht zumindest implizit auf die gesamte DDR ausdehnen und sogar deren Relevanz für die Entwicklung in anderen osteuropäischen Staaten reklamieren würde.

Die Arbeit macht allerdings deutlich, dass es SED und Staat gemessen an den proklamierten Zielen nur sehr begrenzt gelang, in den jeweiligen Zielgruppen die intendierten Verhaltensmuster verbindlich zu machen, dauerhafte und tragfähige Bindungen zum Parteiregime herzustellen und die ideologischen Postulate der Einheitspartei in der Bevölkerung zu verankern. Sie bietet viele Beispiele für unterschiedliche Formen abweichenden Verhaltens in den Apparaten von SED, Staat und Massenorganisationen und in der Einwohnerschaft. Insofern bestätigt sie die von der neueren Forschung immer konturierter gezeichneten Bilder einer keineswegs linearen und reibungslosen Umsetzung von Zielen und Maßnahmen des SED-Regimes. Die verdichtende Analyse dieser Phänomene kommt aber zu kurz. Exemplarisch werden zwar Handlungen und Äußerungen verschiedener Bevölkerungsgruppen dargestellt, letztendlich sucht der Autor aber immer wieder nach der Haltung „der" Bevölkerung zum Regime und vernachlässigt darüber – mit Ausnahme des Eichsfeldes – etwa lokale, milieu- oder generationenspezifische und berufsbedingte Differenzierungen.

Ein wenig sensibles Instrumentarium verwendet Allinson auch bei der Kategorisierung von abweichendem oder konformem Verhalten. Er hebt wiederholt hervor, das Leben großer Teile der Bevölkerung sei auch in krisenhaften Phasen „normal" verlaufen oder habe sich danach rasch wieder „normalisiert", und betont resümierend: „The GDR was quite a normal country" (S. 158), in dem der größte Teil der Bevölkerung ein „normales" Leben mit der Sorge um Familie, Arbeitssituation und Wohlstand führte. Damit ähnele die Nachkriegsentwicklung in der DDR etwa der in Bayern oder in Südtirol. Abgesehen davon, dass der Begriff der Normalität nicht näher expliziert wird und keine Trennschärfe besitzt, deuten diese Vergleiche darauf, dass Allinson Schwierigkeiten mit der Spezifik des Forschungsgegenstands hat. Es gelingt ihm nicht, überzeugend darzulegen, wie sich der Steuerungs- und Kontrollanspruch einer Diktatur, die – abgesehen von den Kirchen – gesellschaftliche Interessenformierung und -artikulation auf zentraler und intermediärer Ebene erfolgreich unterdrückte, im Lebensumfeld niederschlug und welche Interaktionen von Herrschaft und Herrschaftsadressaten dort zu finden sind.

Aus dem Befund, die Erfahrungen und Beschwernisse des Alltags hätten die Wahrnehmung der Menschen stärker geprägt als politische Großereignisse, ist zudem kaum auf eine allgemeine, durch den Wunsch nach einem ruhigen Leben motivierte Akzeptanz des Parteiregimes zu schließen. Dafür sind auch das weitgehende Fehlen von Opposition, die Mitgliedschaft großer Bevölkerungskreise in den Massenorganisationen oder das Wahlverhalten keine ausreichenden Indikatoren. Die These einer im Untersuchungszeitraum wachsenden Stabilität des SED-Regimes ist mit solchen Argumenten nur schwach untermauert; darüber hinaus blendet sie die krisenhaften Symptome Ende der sechziger Jahre aus. Diese Stabilisierungsthese steht zumindest in einem Spannungsverhältnis zu der Diagnose, dass es dem SED-Regime nicht gelungen sei, seine ideologischen Postulate in der Masse der Bevölkerung zu verbreiten und damit eine Form von Legitimität zu gewinnen. Mit dem Begriff einer auf Apathie von Einwohnern und Funktionären beruhenden „stable instability" (S. 164) der DDR kann die Studie das Problemfeld allenfalls bezeichnen, aber keine Sichtweisen der Gesellschaft im Staatssozialismus und ihres Verhältnisses zur Parteiherrschaft anbieten, die über den gegenwärtigen Forschungsstand hinausführen.

Peter Skyba, Dresden



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