Archiv für Sozialgeschichte
Rezension

Christine von Oertzen, Teilzeitarbeit und die Lust am Zuverdienen. Geschlechterpolitik und gesellschaftlicher Wandel in Westdeutschland 1948- 1969 (= Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, Bd. 132), Verlag Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1999, 411 S., kart., 78 DM.

Mit ihrer methodisch und theoretisch instruktiven Studie, einer bei Karin Hausen und Jürgen Kocka entstandenen Dissertation, leistet von Oertzen einen wichtigen Beitrag zu aktuellen Ansätzen der Zeitgeschichtsforschung, die sich auf eine zentrale Phase dynamisierten sozialen Wandels in beiden deutschen Staaten beziehen. [ Axel Schildt/Detlef Siegfried/ Karl Christian Lammers (Hrsg.), Dynamische Zeiten: Die 60er Jahre in den beiden deutschen Gesellschaften, Hamburg 2000; ebenso das Forschungsvorhaben „Belastung und Bewältigung. Liberalisierungs- und Integrationsprozesse in Westdeutschland, 1945 bis 1990" am Lehrstuhl für Neuere und Neueste Geschichte von Prof. Dr. U. Herbert in Freiburg, in dem die 1960er Jahre als säkulare Umbruchsperiode begriffen werden. ] Die Untersuchung ist Teil eines deutsch-deutschen Vergleichs, dessen Pendant für die DDR von Almut Rietschel bearbeitet wird.

Aus der Perspektive der gender-studies macht die Autorin die Einführung der Teilzeitarbeit, die ein „tiefgreifendes Umdenken" über Erwerbsarbeit verheirateter Frauen implizierte, für die Frage fruchtbar, inwieweit in den 1960er Jahren in der Bundesrepublik ein entscheidender Umbruch auf politischer, rechtlicher und gesellschaftlicher Ebene stattgefunden hat und wie dieser historiographisch zu fassen ist. In diesem Zusammenhang bezweifelt sie die eingefahrene Vorstellung von den starren 1950er Jahren und widerlegt sie in Bezug auf den von ihr untersuchten Bereich. Anhand der Geschichte der Teilzeitarbeit will sie zeigen, dass der Weg zur pluralen Konsum- und Wohlstandsgesellschaft sich seit Ende der 1950er Jahre in einem komplexen Wechselspiel von öffentlichen Debatten, Rechtsentwicklung und -praxis, sozial- und arbeitsmarktpolitischen Veränderungen und sich verändernden sozialen Praktiken vollzog.

Die Autorin lehnt die Prämissen der bisherigen Forschung ab, in der eine westdeutsche „Restauration" einem ostdeutschen „Neuanfang" schematisch gegenübergestellt wird. Vielmehr geht sie davon aus, dass das Konzept der geschlechtsspezifischen Aufteilung der Haus- und Familienarbeit und der außerhäuslichen Erwerbsarbeit nach dem Zweiten Weltkrieg weder in der Bundesrepublik noch in der DDR angetastet wurde. Die Debatten um Teilzeitarbeit, die in beiden deutschen Staaten reine „Frauensache" war, versteht sie als einen Versuch, Familien- und Erwerbsarbeit kompatibel zu machen. Die Einführung von Teilzeitarbeit im Kontext von Hochkonjunktur, Arbeitskräftemangel und einer zunehmenden Verrechtlichung der Arbeitswelt bewertet sie als geschlechter- und arbeitsmarktpolitische Innovation mit entscheidenden Konsequenzen: Sie war das Ergebnis einer „grundsätzlichen und auf allen Ebenen der Gesellschaft ausgehandelten Verständigung über Bestand und Zukunft von Geschlechterhierarchie und Arbeitsteilung."

An diese strukturelle Übereinstimmung knüpft Christine von Oertzen ihre Leitfrage: Unter welchen veränderten wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Konstellationen wurden geschlechterspezifische Hierarchien neu definiert und festgeschrieben?

Dieser Frage geht die Autorin in fünf Schritten nach, in denen sie die Einführung der Teilzeitarbeit auf verschiedenen Ebenen analysiert. Im ersten Schritt widmet sie sich den öffentlichen Debatten: Nach heftigen Auseinandersetzungen ab Mitte der 1950er Jahre wurde die „Lust am Zuverdienen" Anfang der 1960er Jahre gesellschaftlich, politisch und auch von Seiten der Kirchen akzeptiert. Maßgeblich war in diesem Zusammenhang, dass die SPD und die evangelische Kirche den konservativen Parteien und der katholischen Kirche die Definitionsmacht über Familienpolitik und weibliche Erwerbsarbeit abringen konnten. Sie traten für eine positivere Bewertung der Erwerbstätigkeit von Ehefrauen ein und setzen sich damit durch.

Im zweiten Schritt untersucht sie die rechtliche Verankerung von Teilzeitarbeit. Während bis Mitte der 1950er Jahre die Deutungsspielräume in den Gesetzen genutzt wurden, die teilzeitarbeitenden Frauen aus Versicherungsleistungen auszuschließen, prägte danach die veränderte gesellschaftliche Bewertung die Rechtsprechung. Die schrittweise soziale Absicherung von Teilzeitarbeit erfolgte ohne Reformen, sie fand allein im Rahmen der vorhandenen gesetzlichen Ermessenspielräume statt und war durch die veränderte Arbeitsmarktlage motiviert. Im Folgenden wird die praktische Umsetzung untersucht: Im Rahmen einer statistischen Analyse zur quantitativen Ausweitung der Teilzeitarbeit wird deutlich, dass teilzeitarbeitende Frauen in der Industrie für unqualifizierte Arbeiten eingesetzt und schlechter bezahlt wurden als ihre vollbeschäftigten Kolleginnen. In Büro- und Verwaltungsberufen wurde Teilzeitarbeit im Zuge schneller Technologisierung und Rationalisierung zum Inbegriff der „modernen Berufsarbeit". Ein typisches Beispiel war die Hollerithlocherin, eine ungelernte Kraft in der Buchhaltung, die Buchungsdaten in das Lochkartensystem der Computer einspeiste. In einem weiteren Schritt werden die Aushandlungsprozesse innerhalb der Familien, die Motive und Strategien der erwerbstätigen Frauen behandelt. In den Interviews machten die Frauen ein starkes Eigeninteresse an Teilzeitarbeit geltend. Die Aussicht auf den eigenen Verdienst war ausschlaggebend, aber auch der Wunsch nach Eigenständigkeit, Freude an der Arbeit, Ehrgeiz und eine eigene Alterssicherung waren wichtige Motive. Dies konnte zu harten Konflikten mit den Ehemännern führen. Sie akzeptierten die Erwerbstätigkeit ihrer Ehefrauen oft nur unter der Bedingung, dass der Haushalt in gleicher Weise weitergeführt wurde und setzen Letztere damit unter erheblichen Druck.

Abschließend werden die Ergebnisse der west- mit denen der ostdeutschen Studie verglichen. Die Einführung der Teilzeitarbeit in den beiden deutschen Staaten folgte unterschiedlichen Logiken: Während sie in der Bundesrepublik ein Zugeständnis an „familiengebundene Hausfrauen" war, für die ein full-time-job nicht in Frage kam, war sie in der DDR ein Lockmittel für verheiratete Frauen, die man langfristig für volle Stellen gewinnen wollte. Die Umsetzung dieser Ziele gestaltete sich im Westen ungleich konfliktreicher, was auf unterschiedliche gesellschaftliche Steuerungsmechanismen und Entscheidungsprozesse zurückzuführen ist. In Westdeutschland hatte die Rechtsprechung als Instanz zur Regelung dieser Konflikte eine zentrale Rolle; in den Gerichtsurteilen spiegelte sich der komplexe und schwierige Prozess gesellschaftlicher Auseinandersetzung um die Teilzeitarbeit. Entlang der rechtlichen Konfliktlinien zeichnet Christine von Oertzen „die Genese des gesellschaftlichen Wandels" in der Bundesrepublik nach: Das Wirtschaftswachstum war maßgeblich für die gesellschaftliche Bewertung der Erwerbsarbeit von Ehefrauen, weil der Arbeitskräftemangel die Befürworter der Teilzeitarbeit stärkte und ihre Positionen zu Mehrheitsmeinungen wurden. Verheirateten Frauen und Müttern wurde erstmals ein Recht auf Erwerbsarbeit zugebilligt, indem sie als „schutzwürdig" erachtet und in das System der sozialen Sicherung einbezogen wurden.

In ihrem Fazit steht Christine von Oertzen einer „Demokratisierung gesellschaftlicher Teilhabe" in Bezug auf Teilzeitarbeit skeptisch gegenüber, da trotz des „Abschieds vom Ideal der Nurhausfrau" die Verpflichtung der Ehefrauen zur Familienarbeit weiterhin Vorrang vor ihrer Erwerbstätigkeit hatte und somit das männliche Haupternährer-Modell fortbestand. Ihre Skepsis ist zu teilen, zumal eine „Demokratisierung" im Sinne einer Durchsetzung von Gerechtigkeit, gleichen Rechten und gleichen Chancen für Frauen und Männer in Bezug auf weibliche Erwerbstätigkeit auch die Anpassung der Löhne [ In der Industrie waren die Löhne der Frauen um 45,7 % niedriger, die der Angestellten um 43,7 % niedriger als entsprechende Löhne der männlichen Kollegen. (Vgl. Hanna Schissler : „Normalization" as Project: Some Thoughts on Gender Relations in West Germany during the 1950s, in: dies . (Hrsg.), The Miracle Years. A Cultural History of West Germany, 1949-1968, Princeton/Oxford 2001, S. 359- 375, hier: S. 366).] , die Möglichkeit für Frauen, in qualifizierte Berufe zu gelangen und die Steigerung ihrer Aufstiegschancen umfasst. Diesbezüglich ist der „Quantensprung", den die Autorin anhand der Einführung von Teilzeitarbeit für die westdeutsche Gesellschaft verzeichnet, doch eher der Start eines langen (An-) Laufs.

Sybille Buske, Freiburg



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