Archiv für Sozialgeschichte
Rezension

Stefan Scheil, Logik der Mächte. Europas Problem mit der Globalisierung der Politik. Überlegungen zur Vorgeschichte des Zweiten Weltkrieges, Verlag Duncker & Humblot, Berlin 1999, 241 S., geb., 68 DM.

Die immer erneute Infragestellung und gegebenenfalls auch die Revision von Forschungsergebnissen gehören zu den wesentlichen Aufgaben der Geschichtswissenschaft. Insofern ist es bedauerlich, dass der Begriff des „Revisionismus" in der öffentlichen Diskussion wie auch unter Historikern in Deutschland seit langem und mit scheinbarer Eindeutigkeit zur Kennzeichnung von (oft pseudo-)wissenschaftlichen Positionen verwendet wird, die eine Relativierung, Verharmlosung oder gar Verleugnung des deutschen Anteils an den beiden Weltkriegen und der von Deutschen begangenen staatlich sanktionierten Verbrechen im 20. Jahrhundert implizieren. In diesem Sinne ist das hier zu besprechende Buch tatsächlich „revisionistisch". Doch ist es nicht vom „Kampf des Urteils gegen das Vorurteil" (Eberhard Jäckel) geprägt und trägt deshalb nicht zu einer konstruktiven Revision unserer Kenntnisse der internationalen Beziehungen in der Zwischenkriegszeit bei. Es präsentiert sich schlicht als ein Konglomerat aus altbekannten Vorurteilen und unwürdigen Manipulationen bei der Auswahl von Quellenzitaten.

Scheil beginnt unter Berufung auf Karl R. Popper mit der gewiss erwägenswerten Frage, ob der Historiker die weltweite Durchsetzung der liberalen Demokratie als so etwas wie das Endziel der Geschichte begreifen dürfe, und verwirft diesen Gedanken mit gutem Grund als historizistisch. Anschließend unterwirft Scheil die einschlägigen Interpretationen von Ludwig Dehio, Paul Kennedy und Henry Kissinger zur Geschichte des europäischen Staatensystems einer kritischen Betrachtung, um seinen eigenen Essay als „eine Darstellung, die dem (bisher) letzten Versuch Europas, eine stabile Ordnung ohne Einfluss außereuropäischer Mächte zustande zu bringen, besser gerecht wird", anzukündigen (S. 27). Sein Fazit zum Ende der Zwischenkriegszeit nimmt er vorweg: „Die innereuropäischen Querelen (...) entluden sich in einem Krieg". Zu dieser Sichtweise, die Logik von Machtpolitik als gleichsam neutrales Movens der Weltgeschichte habe als Selbstläufer den Zweiten Weltkrieg verursacht, passt die ständige Rede vom „Kriegsausbruch" 1939, einer Krankheit offenbar, die nach einer gewissen Inkubationszeit eruptionsartig hervortrat.

Wo aber doch Menschen durch ihr Handeln zu dieser Entwicklung beitrugen, da waren es für Scheil erst an letzter Stelle Deutsche – wenn überhaupt. Dann schon eher die britischen Regierungen oder einfach „Großbritannien", das ja schon während des Ersten Weltkrieges „damit beschäftigt war", das Deutsche Reich „in den Staub zu drücken" (S. 32). Allgemein diagnostiziert Scheil „die britische Marotte, sich weltweit in anderer Leute Angelegenheiten einzumischen" (S. 55). Das verleugnet bereits sprachlich jeglichen Anspruch auf wissenschaftliche Standards. Als eigentlicher globaler Kriegstreiber erscheinen bei Scheil jedoch die Vereinigten Staaten, deren Außenpolitik seit je durch die Methode gekennzeichnet gewesen sei, irgendwo in der Welt Zwischenfälle zu provozieren, um von den daraus folgenden Kriegen zu profitieren (S. 165 f.) – in Friedenszeiten könnten die USA schließlich nur „ihre finanz- und handelspolitischen Herrschaftsinstrumente" (S. 88) anwenden. Franklin Delano Roosevelt ist für Scheil das Paradebeispiel „demokratisch-imperialistischer Politik", er habe sein Land seit seinem Amtsantritt zielbewusst auf den nächsten Krieg zugesteuert, indem er Drohkulissen aufgebaut und Feindbilder propagiert habe (S. 135 ff., 169). Dritter im Bunde der Kriegstreiber sei Polen gewesen, das während der gesamten Zwischenkriegszeit einzig auf die Errichtung eines mittelosteuropäischen Imperiums von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer versessen und zu diesem Zweck für jeden Angriffskrieg gegen Deutschland bereit gewesen sei. Polen trage im Grunde selbst die Schuld daran, dass es vom Deutschen Reich überfallen wurde – nicht weniger als die britische Regierung, die es durch ihre Garantie der polnischen Unabhängigkeit und den zweiseitigen Bündnisvertrag noch ermutigt habe, nicht in Verhandlungen mit dem Deutschen Reich einzutreten.

Genug davon. Wie aber stellt sich Scheil Deutschlands Rolle in der Vorgeschichte des Zweiten Weltkrieges vor – Italien und Japan kommen in diesen Überlegungen zur „Globalisierung der Politik" ohnehin nur am Rande vor. Die deutsche Außenpolitik zwischen 1933 und 1945 ist für Scheil in Übereinstimmung mit dem „common sense" der Forschung „letztlich Hitlers Außenpolitik". Und die Ziele des Führers der Nationalsozialisten, die er in seiner eigenen Lebenszeit zu verwirklichen dachte, seien äußerst begrenzt gewesen: Sie finden sich in der Niederschrift Friedrich Hoßbachs über die Besprechung am 5. November 1937. Die in „Mein Kampf" und anderen Äußerungen Hitlers beschriebenen Fixpunkte nationalsozialistischer Außenpolitik gelten Scheil dagegen als für spätere Jahrhunderte berechnete Visionen für Deutschlands langen Weg zur Weltherrschaft. Für die deutsche Außenpolitik der Dreißigerjahre waren sie ohne Belang. An sich habe Hitler der „Etablierung einer Gewaltherrschaft über Europa (...) eine klare Absage" erteilt und gar nicht an eine „maßlose Unterdrückungs- und Ausrottungspolitik" im Osten gedacht, eigentlich sei er „der russischen Mentalität" wohlgesonnen gewesen (S. 122 f.).

So war für Scheil der Führer und Reichskanzler zu Beginn des Jahres 1939 saturiert; er habe „von einem stabilen Arrangement in Osteuropa" geträumt (S. 164)! Der deutsche Einmarsch in Prag am 15. März habe demgemäß „unter keinem Gesichtspunkt ein außergewöhnliches Ereignis" dargestellt (S.179). Einen Grund für Hitlers Befehl zur Vorbereitung des Angriffs auf Polen sucht man bei Scheil vergeblich. Sämtliche relevanten Dokumente werden unterschlagen. Von Hitlers im Mai 1939 verkündetem „Entschluss, bei erster passender Gelegenheit Polen anzugreifen", erfährt der Leser ebenso wenig wie von der Tatsache, dass Danzig gar nicht das Objekt war, um das es ging. Scheil insinuiert vielmehr, Polen habe nichts von Deutschland zu befürchten gehabt, hätte es sich nur in Verhandlungen mit der deutschen Regierung um Grenzkorrekturen und den Status der Freien Stadt Danzig begeben und Zugeständnisse gemacht. Die Weigerung der Polen habe letztlich zum „Kriegsausbruch" geführt. Sodann: „Zügig entwickelte sich der Krieg zum Weltkrieg – und er besaß eine Eigendynamik, die jede ‚Entfesselung’ durch Hitler überflüssig machte" (S. 222). Ebenso wie der Weg in den Krieg lief für Scheil die Auseinandersetzung selbst geradezu mechanisch ab, ohne Zutun und Verantwortung handelnder Personen zumindest auf deutscher Seite.

Das alles erübrigt jeden weiteren Kommentar. Anleihen bei dem intellektuell weitaus anregenderen A.J.P. Taylor sind ebenso unverkennbar wie eine Anlehnung an Manfred Rauh, für dessen „Geschichte des Zweiten Weltkriegs" auf der letzten Seite des Bandes passend geworben wird. Was mag Duncker & Humblot, der traditionsreiche und bislang renommierte Verlag „für die Wissenschaft", mit der Konzentration auf solche Machwerke bezwecken, die zunächst einmal einfach nur schlecht sind (Scheils Bibliographie ist sowohl in ihrer souveränen Missachtung einschlägiger Forschungsbeiträge als auch formal miserabel, weil in ihr nicht einmal die in den Anmerkungen in Kurzform zitierten Titel wiederzufinden sind)? Will man sich in der Gesellschaft von Herbig und ähnlichen Unternehmen wiederfinden?

Was Autoren wie Scheil dazu treibt, die deutsche Vergangenheit zu entstellen, ist eine andere Frage. Beifall aus der rechten antidemokratischen Szene kann hier kein ungewollter Nebeneffekt, er muss beabsichtigt sein bei dem x-ten Versuch, Deutschland von seiner Schuld am Zweiten Weltkrieg zu befreien. Noch frappierender vielleicht ist der durchgängige Anti-Amerikanismus, der Scheils Buch als Leitmotiv zugrunde liegt. In dem Feindbild des US-Imperialismus, der die Welt beherrschen und unterwerfen will, treffen sich rechts-nationalistische mit links-sozialistischen Ressentiments und Bedrohungsszenarien. Beiden Denkmustern gemeinsam ist, dass Demokratie als Wert an sich keine Rolle spielt – so wie bei Scheil auch das Recht oder die Verbindlichkeit von Verträgen in den internationalen Beziehungen als Kriterien der Urteilsbildung keine Berücksichtigung finden.

Rainer Behring, Dresden



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