Archiv für Sozialgeschichte
Rezension

Karin Gröwer, Wilde Ehen im 19. Jahrhundert. Die Unterschichten zwischen städtischer Bevölkerungspolitik und polizeilicher Repression. Hamburg – Bremen – Lübeck. Berlin, Dietrich Reimer Verlag, Berlin, Hamburg 1999 (= Lebensformen. Veröffentlichungen des Instituts für Volkskunde der Universität Hamburg, Band 13), 560 S., brosch., 78 DM.

Bei dem vorliegenden Buch handelt es sich um eine umfangreiche volkskundliche Dissertation der Universität Hamburg. Gröwer beschäftigt sich in den ersten vier Kapiteln ausführlich mit den Beschränkungen, aufgrund derer Teile der ärmeren Stadtbevölkerung von der Eheschließung ausgeschlossen wurden und fragt, weshalb diese dennoch eine familiale Lebensform wählten, welchen Diskriminierungen sie ausgesetzt waren und wie ihre alltägliche Lebenssituation aussah (S. 12). Untersucht werden diese Fragen anhand archivalischer Quellen für die drei norddeutschen Hansestädte und Stadtstaaten Hamburg, Bremen und Lübeck. Alle drei hatten einen dezidiert städtischen Charakter, wenn sie auch (noch) nicht industriell geprägt waren. Im Zentrum der Untersuchung steht die „soziale Unterschicht", zu der Gröwer alle diejenigen zählt, deren Lebensgrundlage unter oder knapp über dem Existenzminimum lag, d.h. die Masse der unzünftigen Handwerker, Gesellen, einfachen Soldaten, Lohnarbeiter, Arbeitsleute, TagelöhnerInnen, Verwitweten, Armen. Sie konzentriert sich auf die Zeit zwischen 1814/15 und der Gründung des Deutschen Reiches 1871, mithin die Zeit zwischen Beginn und Ende der staatlichen Ehebeschränkungspolitik in den drei Städten, die, so eine These Gröwers, für den Umfang der wilden Ehen im 19. Jahrhundert zentral verantwortlich gewesen ist (S. 13).

Zwar geht Gröwer davon aus, dass die wilden Ehen in den ärmeren Bevölkerungsschichten stets eine mögliche Lebensform gewesen seien, da die „obrigkeitlich genehmigten, öffentlich-kirchlich geschlossenen und registrierten" Ehen noch nicht durchgängig in allen Bevölkerungsgruppen verankert gewesen seien. Hinzu komme dann im 19. Jahrhundert der Zugriff des Staates auf die Voraussetzungen der Eheschließung durch Militärdienst und Armenrecht, was zu einer Zunahme der wilden Ehen geführt habe (S. 27 f.). Zugleich will die Autorin die von Blasius und Schlumbohm für Preußen entwickelte These überprüfen, das Vorgehen der Obrigkeit gegen wilde Ehen sei „in erster Linie als Ausdruck einer staatlichen Disziplinierungspolitik durch die bürgerlichen Moralvorstellungen und Ehenormen in den Unterschichten durchgesetzt worden" (S. 20).

Gröwer untersucht zunächst die soziale und ökonomische Situation der ärmeren Bevölkerungsschichten in den genannten Städten. Während in Lübeck und Bremen die Situation zwar auch nicht gut war, beide Städte jedoch relativ stabile ökonomische Verhältnisse und recht günstige Wohnbedingungen aufwiesen sowie eine Armenversorgung, die nicht nur die in ernsthafte Notlagen geratenen Stadtbewohner unterstützte, sondern auch versuchte, den Arbeitsfähigen Arbeit zu beschaffen, war die Lage in Hamburg bereits sehr kritisch. Ökonomische Schwankungen, Bevölkerungswachstum, steigende Lebenshaltungskosten und elende Wohnbedingungen schufen Lebensbedingungen, die zu einem starken Anstieg der Zahl der Armen führte. Obwohl eine restriktive Armenversorgung alle Arbeitsfähigen von Leistungen ausschloss, wurden 1832 bereits zwischen 10 und 15 Prozent der Bevölkerung dauerhaft von der Armenanstalt unterstützt (S. 87). Gröwer legt großes Gewicht auf die Einbettung der politischen Diskussion in den Kontext der verschiedenen stadtpolitischen Ebenen: Verwaltungsdiskussion, Armenpolitik, Polizeireform etc. Das ist einerseits sinnvoll, macht aber andererseits die Argumentation sehr breit und die Lektüre anstrengend.

Im dritten und vierten Kapitel untersucht sie anhand der Quellen die Politik der Ehehindernisse und den Kampf gegen die wilden Ehen - jeweils getrennt für jeden der drei Stadtstaaten. Die Argumentation ist dabei sehr breit angelegt und die LeserIn infolgedessen häufig in der Gefahr, den "roten Faden" zu verlieren. Dem begegnet Gröwer zwar mit guten Zusammenfassungen am Ende jeden Kapitels, allerdings stellen sich dadurch wieder erhebliche Redundanzen ein.

Das fünfte Kapitel ist dann zweifellos der Kern der Arbeit, und im Grunde ist es bedauerlich, dass es von den ausufernden ersten Kapiteln so stark überwuchert wird. Hier nun verlässt Gröwer die normative Ebene und breitet ihre fundierten Kenntnisse über die Lebenssituation der Betroffenen aus. Ihr gelingt es, aus den Akten der Polizeibehörden und Armenkommissionen ein lebendiges Bild der Lebensverhältnisse, Ängste, Nöte und auch Freuden und Sehnsüchte der armen Stadtbevölkerung zu zeichnen. Dazu tragen vor allem ausführliche Zitate aus den Quellen bei. Anhand des reichen Hamburger Aktenbestandes schätzt Gröwer den Anteil der wilden Ehen an der Gesamtzahl der Lebensgemeinschaften auf zehn Prozent, wobei diese sich in bestimmten Wohnvierteln, zum Teil auch Straßenzügen ballten. Sie vermutet, dass in den Hauptwohngebieten der Unterschicht ca. jede fünfte Lebensgemeinschaft eine wilde Ehe gewesen ist.

Aus den Quellen geht klar hervor, dass es sich bei den wilden Ehen in der Regel um längerfristige Beziehungen handelte, die sich außer durch den fehlenden kirchlichen Segen kaum von den legalen Unterschichtsehen abhoben. Gröwer kann zeigen, dass Frauen und Männer diese Lebensform aus unterschiedlichen Motiven wählten, wobei unterstellt werden kann, dass diese kaum von denen abwichen, die für eine legale Eheschließung sprachen. Frauen aus der Unterschicht waren selten in der Lage, mit ihrer Hände Arbeit für den eigenen Unterhalt geschweige den ihrer potentiellen Kinder zu sorgen. Das Zusammenleben mit einem Mann versprach ihnen und ihren Kindern relative finanzielle Sicherheit (S. 375 f.). Männer hingegen suchten und fanden durch diese Arrangements die Versorgung durch ein weibliches Wesen, auf die ein Mann anerkanntermaßen angewiesen war, einschließlich der Befriedigung „behaglicher Sehnsüchte"(S. 383f.). Für beide Geschlechter bot das Zusammenleben mithin Vorzüge, die ihnen das Leben und Überleben in diesen ungesicherten Zeiten erträglicher machte.

Aber auch die Kinder, die gemeinsamen ebenso wie die bereits in die wilde Ehe eingebrachten, profitierten von dem Zusammenleben. Zwar waren die gemeinsamen Kinder unehelicher Geburt und damit von Anfang an mit einer Hypothek belastet, falls es nicht gelang, die Behörden zu täuschen. Ihre Sozialisationsbedingungen unterschieden sich aber faktisch nicht von denen der Kinder aus legalen Verbindungen der Unterschicht. Ebenso wie dort wollten diese Eltern zusammenbleiben und für ihre Kinder sorgen, nur dass es ihnen nicht gelang bzw. es aussichtslos war, die Verbindung zu legalisieren (S. 403). Die in der Literatur immer wieder betonten schlechteren Überlebenschancen und Aufwachsbedingungen unehelicher Kinder treffen deshalb auf die Kinder aus diesen Verbindungen nicht zu.

Bemerkenswert sind die komplexen familialen Konstellationen, die durch die wilden Ehen entstanden. Da sie häufig Zweitverbindungen waren, d.h. von verwitweten, geschiedenen, getrennt lebenden Personen eingegangen wurden, gab es "ihre" Kinder, "seine" Kinder, "gemeinsame" Kinder (vgl. S. 408f. und Tab. 42, S. 409). Die Parallelen zu den modernen Stief- und Fortsetzungsfamilien sowie Auswirkungen auf Verwandtschaftskonzepte werden von Gröwer leider nicht gesehen und thematisiert.

Zur erstaunlichen Stabilität der wilden Ehen trug auch die Einbindung in ein breites Netz sozialer Beziehungen bei, zu denen Verwandte, Nachbarn und Freunde zählten. In ihrem sozialen Umfeld wurden wilde Ehen jedenfalls nicht ernsthaft diskriminiert. Denunziationen bei der Obrigkeit kamen zwar vor, beruhten in der Regel jedoch nicht auf einer moralischen Missbilligung dieser Beziehungen, sondern waren ein probates Mittel, jemanden im Rahmen einer Auseinandersetzung zu schaden (S. 453). Die detaillierte Aktenanalyse Gröwers zeigt aber auch, dass Kinder aus ungetrauten Beziehungen eher als andere dazu neigten, selbst ein derartiges Zusammenleben zu akzeptieren. Das Leben in einer wilden Ehe war in ihren Erfahrungsschatz eingegangen und wurde praktiziert, wenn die Verhältnisse nichts anderes zuließen. Damit bestätigen Gröwers Ergebnisse die über die „soziale Vererbung" von Illegitimität aber auch von Scheidung.

Wenn Gröwer auch zeigen konnte, dass die Verfolgungspraxis in den drei Stadtstaaten nicht der Realität der fixierten Normen entsprach, so hatten diejenigen, die in das Blickfeld der Obrigkeit gerieten – und nur über sie liegen archivalische Zeugnisse vor – wenig zu lachen. Das Register der Maßnahmen reichte von Trennung, Verfolgung, Ausweisung ( bei Ortsfremden), Überwachung bis zur Zerstörung der Familie.

Eine gute und präzise Zusammenfassung rundet das Kapitel ab. Auch das Resümee des Buches ist insgesamt beeindruckend knapp und gut lesbar. Bei der Lektüre sind mir allerdings zufällig zwei ärgerliche Fehler bei den Literaturangaben aufgefallen, die hoffentlich die einzigen sind. Im Literaturverzeichnis wird als Publikation von U. Frevert genannt: "Verhältnisse und Verhinderungen...". Tatsächlich ist das Buch von U. Gerhard, die dadurch überhaupt nicht im Literaturverzeichnis auftaucht. In Anm. 601 wird Kraus das Buch "Proletarische Familien" zugeschrieben. Die Autorin ist aber Rosenbaum.

Alles in allem bleibt nach der Lektüre ein zwiespältiger Eindruck. Das Buch ist m.E. ungleichgewichtig, weil die Analyse stadtstaatlicher Politiken zu breit geraten ist und – im Vergleich dazu – die Analyse der Lebenswirklichkeit der wilden Ehen zu kurz kommt. So entstand der Eindruck, dass Gröwer eigentlich zwei Bücher geschrieben hat: eines über die politische Ebene des Problems der wilden Ehen, eines über die wilden Ehen selbst. Eine in sich geschlossene Arbeit hätte ausgiebige Kürzungen in den ersten vier Kapiteln erfordert. Es ist schade, dass die Gutachter Gröwer dazu nicht ermuntert haben.

Heidi Rosenbaum, Göttingen



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