Archiv für Sozialgeschichte
Rezension

Gebel, Ralf, „Heim ins Reich!". Konrad Henlein und der Reichsgau Sudetenland (1938-1945), (= Veröffentlichungen des Collegium Carolinum, Band 83), R. Oldenbourg Verlag, München 1999, 424 S., geb., 98 DM.

Zimmermann, Volker, Die Sudetendeutschen im NS-Staat. Politik und Stimmung der Bevölkerung im Reichsgau Sudetenland, (= Veröffentlichungen der Deutsch-Tschechischen und Deutsch-Slowakischen Historikerkommission, Band 9; Veröffentlichungen des Instituts für Kultur und Geschichte der Deutschen im Östlichen Europa, Band 16), Klartext Verlag, Essen 1999, 515 S., geb., 48 DM.

Die Geschichte des Sudetenlands in der Zeitspanne zwischen der Annexion durch das nationalsozialistische Deutschland und dem Ende des Zweiten Weltkriegs hat bislang in der Forschung wenig Beachtung gefunden. Die Zeitzeugen haben sich nach 1945 meist apologetisch geäußert; der Zugang zu den tschechischen Archiven war bis zur „Samtenen Revolution" so gut wie unmöglich. Aus mehreren Gründen ist dies bedauerlich: Die sieben Jahre nach 1938 waren, zum einen, ein überaus wichtiger Abschnitt der deutsch-tschechischen „Konfliktgemeinschaft". Am Beispiel des Sudetenlands im NS-Staat lässt sich, zum anderen, ein zentrales Problem der nationalsozialistischen Polykratie verdeutlichen. Hier waren unter dem Betondeckel des Einheitsstaats die Spannungen zwischen der Zentrale und den regionalen Kräften besonders virulent. Last but not least: Die jüngste Forschung hat den deutschen Besatzungsregimen in Ostmittel- und Osteuropa intensive Aufmerksamkeit gewidmet. Die Annexion des Sudetenlandes war, nach dem „Anschluss Österreichs", zu diesen das zweite Präludium.

Die Dissertationen von Gebel und Zimmermann tragen Wesentliches zur Füllung dieser Forschungslücke bei. Beide Autoren räumen der Vorgeschichte der konfliktreichen Beziehungen zwischen Tschechen und Deutschen in der ersten Tschechoslowakischen Republik breiten Raum ein. Zentrales Thema ist die Entstehung der Sudetendeutschen Partei (SdP) in den erbitterten Flügelkämpfen zwischen den beiden Fraktionen des „Aufbruchs" und des „Kameradschaftsbunds". Die Grenzen zwischen den Lagern waren fließend; dem Nationalsozialismus standen beide nahe, Differenzen waren eher in Taktik und Strategie als im Grundsätzlichen zu verzeichnen. Bestand die sudetendeutsche Bevölkerung, entgegen anderslautenden Legenden, auch nicht durchweg aus „hundertprozentigen" Nationalsozialisten, so war doch die große Mehrheit der Deutschen in der Tschechoslowakei durch Weltwirtschaftskrise und Massenarbeitslosigkeit aufs schwerste in Mitleidenschaft gezogen und deshalb fasziniert von der erfolgreichen Arbeitsmarktpolitik des „Dritten Reichs" (der Zusammenhang mit der Aufrüstung blieb ausgeblendet). Nicht nur die desolate Lage der Sudetendeutschen macht ihre geradezu aberwitzigen Erlösungshoffnungen verständlich; auch die in mancher Hinsicht wenig sensible Nationalitätenpolitik der ersten Republik trug zur Popularität der Parole „Heim ins Reich" bei. Der Anschluss wurde ungeachtet der Verhaftungs- und Pogromwelle bereits beim Einmarsch der deutschen Truppen von der überwältigenden Mehrheit der Sudetendeutschen überschwänglich begrüßt; sie nahmen die Trennung von den Tschechen und die nationalsozialistische Diktatur zumindest billigend in Kauf.

Der „Mustergau" Sudetenland war Experimentierfeld der vom Reichsinnenministerium initiierten Verwaltungsreform. Hier waren die Grenzen der staatlich-administrativen Einheiten mit denen der Parteigliederungen deckungsgleich, Reichsstatthalter und Gauleiter waren dem „Führer" unmittelbar unterstellt. Konrad Henlein nahm in Personalunion beide Ämter wahr; er verkörperte die Einheit von Partei und Staat. Auf der Ebene der Kreisleiter und Landräte war ungeachtet dessen das übliche chaotische Kompetenzgerangel zu verzeichnen. Zur Normalität der Polykratie zählen die nach der Eingliederung in die NSDAP fortdauernden internen Zwistigkeiten der Sudetendeutschen Partei, war dies doch lediglich der Streit zweier dem Nationalsozialismus weltanschaulich verbundener Fraktionen. Allerdings war dieser Konflikt nun mit den Auseinandersetzungen um die Stellung des Sudetengaus im nationalsozialistischen Herrschaftsgefüge verwoben: Hintergrund waren Henleins Pläne, sozusagen in Verlängerung der sudetendeutschen Autonomiebestrebungen vor 1938 „seinen" Gau zu einer politischen Einheit sui generis im Reich zu machen. Die Handlungsspielräume sudetenspezifischer Interessenpolitik, speziell auch die Henleins im Dilemma zwischen den Belangen der Region und denen der Zentralgewalt waren jedoch begrenzt. Zudem verfügte Henlein nicht über die im totalitären Staat überlebensnotwendigen guten Kontakte zum Polizeiapparat, zu SS und SD, insbesondere zu Heydrich. Letztlich blieb ihm deshalb nur die Unterwerfung.

Der „Sudetenführer" überlebte politisch, weil er sich nach seiner Niederlage fügsam zeigte; zudem war er als Integrationsfigur des „Sudetendeutschtums" nach wie vor unverzichtbar. Ungeachtet der rabiaten Gleichschaltung von Politik, Wirtschaft und Gesellschaft unterstand das Sudetenland nach 1938 keineswegs reichsdeutscher Kolonialverwaltung. Wurde die SdP auch nicht als „Schwesterpartei" anerkannt, sondern in die NSDAP eingegliedert, so war die Gauleitung doch, zumindest anfangs, fest in der Hand sudetendeutscher Funktionäre. Waren die Klagen über die Arroganz der Reichsdeutschen und deren mangelndes Verständnis für die Mentalität der Einheimischen – die sich ihre Verdienste an der vordersten Front des „Volkstumskampfs" mit einer gewissen Penetranz zugute hielten - auch Legion und fanden sich im höheren Verwaltungsdienst auch viele Zuwanderer aus dem Reich, so war die Position der Einheimischen doch keineswegs unbedeutend.

Dass ungeachtet dessen nach der „Heimholung" bald eine große Ernüchterung der neuen „Volksgenossen" eintrat, hatte viel mit der Nichteinlösung der weit reichenden Versprechungen des NS-Regimes zu tun. Die Masse der Bevölkerung litt unter steigenden Preisen bei gleichbleibend niedrigen Löhnen und einer durch Zuzüge aus dem Reich verursachten gravierenden Wohnungsnot. Die tschechische Wirtschaft der Grenzgebiete fiel den Raubzügen der reichsdeutschen Großindustrie bzw. der Großbanken anheim; den sudetendeutschen Unternehmern blieben die Brosamen. Die Sanierung der veralteten und überschuldeten Leichtindustrie der Sudetengebiete fand nicht statt; im Zeichen der Kriegswirtschaft wurde vielmehr der Strukturwandel in Richtung Produktionsgüterindustrie forciert. Deren Arbeitskräftebedarf ließ den Zustrom von Tschechen ins Grenzland anschwellen, sodass ausgerechnet durch die Belange des „Endsiegs" die weit ausgreifenden „Germanisierungspläne" der sudetendeutschen Volkstumspolitiker konterkariert wurden.

Weitaus schlimmer als die Lage der Sudetendeutschen war die der tschechischen Bevölkerung in den Grenzgebieten. Vergleichsweise glimpflich nahmen sich die Pläne der alten SdP-Kader aus, die den „Volkstumskampf" der Zwischenkriegszeit als „Grenzlandkampf" für das Deutsche Reich fortzusetzen gedachten. Als SS und SD das Heft in die Hand nahmen und - im Trend kumulativer Radikalisierung des Regimes - die sudetendeutschen Volkstumsideologen ausschalteten, wurde die „Tschechenpolitik" ausgesprochen rassistisch. Nur aus Rücksicht auf die Belange der Rüstung verlief die „Umvolkung" der hierfür als geeignet befundenen Personen halbherzig. Von Anfang an systematisch betrieben wurde hingegen die Zerstörung der kulturellen Eigenständigkeit der tschechischen Minderheit in den Grenzgebieten und die Zerschlagung ihres Schulwesens.

Überraschend weit reicht - jenseits vieler Unterschiede im Detail – die Übereinstimmung der beiden Monographien im Grundsatz. Dies heißt nicht, dass das Rad zweimal erfunden worden wäre; beide Autoren verfügen durchaus über eine eigenständige Problemperzeption und eine individuelle „Handschrift". Kernanliegen Gebels ist der politische Prozess: die Konflikte in der SdP und die Zusammenhänge zwischen diesen und der Autonomieproblematik; en passant mitgeliefert wird die wissenschaftliche Gesamtbiographie Henleins. Zimmermanns Stärke ist das großflächige Tableau kollektiver Einstellungen, Erwartungen und Verhaltensmuster. Dies impliziert keinen schroffen Gegensatz zwischen politischer Ereignisgeschichte hie, Struktur- und Mentalitätsgeschichte da; lediglich die „Mischungsverhältnisse" sind unterschiedlich. Beide Arbeiten sind überaus reichhaltig archivalisch unterfüttert, argumentieren abgewogen und sind flüssig zu lesen. In summma: ein „Doppelgipfel" auf einem zentralen Forschungsfeld der neueren deutschen Bohemistik, gleichzeitig ein substantieller Beitrag zur Herrschafts- und Gesellschaftsgeschichte des Nationalsozialismus.

Christoph Boyer, Dresden



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