Archiv für Sozialgeschichte
Rezension

Roger Engelmann/Clemens Vollnhals(Hrsg.), Justiz im Dienste der Parteiherrschaft. Rechtspraxis und Staatssicherheit in der DDR, (= Analysen und Dokumente, Bd.16;Wissenschaftliche Reihe des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik), Christoph Links Verlag, Berlin 1999, 574 S., geb., 48 DM.

Der vorliegende Sammelband geht auf eine wissenschaftliche Fachtagung des Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen in Berlin vom zurück, an der über 100 Wissenschaftler verschiedener Fachrichtungen sowie Vertreter aus Justiz und Massenmedien teilnahmen, darunter auch Karl Wilhelm Fricke, der schon zu einer Zeit über das MfS forschte, als eine empirische Materialsammlung mit erheblichen Schwierigkeiten verbunden und die Forschung über diese Materie mitunter auch politisch unerwünscht war. Gegenwärtig ist die wissenschaftliche Ausgangslage wesentlich besser. Daher stellt das Werk eine Reihe von breitgefächerten und empirisch gesicherten Forschungsergebnissen vor, die sich zeitlich von der Tätigkeit der Sowjetischen Militärtribunale bis in die späte Phase der Honecker-Ära erstrecken. Neben den Überblicksdarstellungen zum Verhältnis von Staatssicherheit und politischer Strafjustiz der DDR gibt es zahlreiche Spezialbeiträge zu bestimmten bisher wenig erforschten Themen wie Opposition und Widerstand in den fünfziger Jahren, zur Rolle des MfS bei der Strafverfolgung und Vereitelung der Strafverfolgung von NS-Verbrechern, zu Untersuchungshaft und Strafvollzug in der DDR sowie zur schwierigen Stellung der Strafverteidiger.
Der Band ist sachlich und zeitlich gegliedert in die Themenkomplexe „Recht und Justiz„, „Sowjetische Besatzungszone und Ära Ulbricht„, „Entwicklungen der Ära Honecker„ und „spezielle Aspekte„. Ein Anhang mit umfangreicher Auswahlbibliographie, Abkürzungsverzeichnis, Personenregister und biographischen Angaben zu den Autoren ist ein wertvolles Hilfsmittel nicht nur für den Fachhistoriker, sondern auch für den interessierten Laien.

Als zentraler Beitrag kann der an erster Stelle stehende Text von Klaus Marxen angesehen werden, der das „Rechtsverständnis„ des Staatssicherheitsdienstes untersucht. Er leistet damit einen Beitrag zur Kennzeichnung der DDR als Unrechtsstaat, in dem das geschriebene Recht nicht der vertraglichen Regelung der Beziehung zwischen Staat und Staatsbürger durch gegenseitige Pflichten und Rechte, sondern der ausschließlichen Durchsetzung des Machtanspruchs der herrschenden Partei war. Er macht deutlich, dass in der DDR Gesetze unter dem Vorbehalt der Nützlichkeit ihrer politischen Anwendung standen, dass dies für alle Gesetze galt und demzufolge jedes Gesetz mit einem politischen Geltungsvorbehalt versehen war.

Der Beitrag des Mitherausgebers Roger Engelmann über die Untersuchungsmethoden und Praktiken des Staatssicherheitsdienstes in den fünfziger Jahren gibt einen Überblick über das mitunter gespannte Verhältnis zwischen politischer Justiz und Staatssicherheit in der Ulbricht-Ära. Die Frage, wer gegenüber wem Kontrollrechte auszuüben habe, war ein Anlass ständiger Auseinandersetzungen zwischen den politischen Staatsanwaltschaften und den Untersuchungsbehörden der Staatssicherheit. Nach einer bis 1963 wechselvollen Geschichte konsolidierte sich jedoch das mit Recht von Engelmann als „Staatssicherheitsjustiz„ gekennzeichnete System politischer Strafverfolgung, das die Unterdrückung widerständigen und oppositionellen Verhaltens mit strafrechtlichen Mitteln zu gewährleisten hatte. Die Trennung in zwei große zeitliche Teilabschnitte („Unter dem Primat der Machtfrage„1950-1955),„Zwischen Tauwetter und Frost„(1956-1963) spiegeln den zeitlichen Ablauf dieser Auseinandersetzung wider. Insbesondere der neugeschaffene Tatbestand des „Staatsverrats„ wird analysiert, und es wird festgestellt, dass die Strafrechtspraxis in hohem Maße „relativ lockere Zusammenkünfte sogenannter revisionistischer Parteiintellektueller„ betraf (S.158). Der „Eisenberger Kreis„, der sich an demokratischen und rechtsstaatlichen Grundsätzen orientierte, findet daher angesichts dieser Blickverengung keine Erwähnung, obwohl es sich um die größte Gruppierung gehandelt haben dürfte, die in der fraglichen Zeit nach den §§13 und 24 des STEG verurteilt wurde.

Zum Ergebnis des Tauziehens zwischen MfS und politischer Justiz schreibt der Autor: „Politische Tauwetter stärkten zeitweise die justitielle gegenüber der geheimpolizeilichen Logik und Struktur; die unvermeidlich hereinbrechenden Eiszeiten kehrten diesen Prozess wieder um.„ (S.133)

Als Fazit lässt sich wohl sagen, dass die Untersuchungsrichter des Staatssicherheitsdienstes ein weitgehendes Vorschlagsrecht bezüglich der Strafmaße hatten, während den Staatsanwälten und Richtern nur ein geringes Maß an Flexibilität bei der Beantragung bzw. Festlegung der Strafmaße verblieb.

Eine Rezension ermöglicht nicht die Auswertung sämtlicher Beiträge. Besonders hervorzuheben ist jedoch der Beitrag von Karl Wilhelm Fricke „DDR-Juristen im Konflikt zwischen Gehorsam, Verweigerung und Widerstand„, der deutlich macht, dass es in der DDR auch Juristen gab, die versuchten, Unrecht zu verhindern oder zu mildern, die die DDR verließen, um sich nicht an Unrechtshandlungen beteiligen zu müssen, offen gegen das Unrecht opponierten oder sich sogar zum Widerstand gegen das Regime entschlossen. Fricke geht in diesem Zusammenhang auch auf den Protest des Staatssekretärs im Justizministerium der DDR, Helmut Brandt, gegen die Waldheimer Prozesse ein (S. 207 f.) und berichtet über die Tätigkeit des „Untersuchungsausschusses Freiheitlicher Juristen (UfJ)„, der bereits im Oktober 1949 die Bevölkerung der DDR aufgefordert hatte, Unrechtshandlungen nach West-Berlin zu melden (S. 209). Nicht ohne innere Bewegung liest man zudem das Bewerbungsschreiben des Rechtsanwalts Dr. Walter Linse für den Untersuchungsausschuss: „In voller Kenntnis und Würdigung der persönlichen Gefahren ist es mein Wunsch und fester Wille, mich diesem Kampf unter vollem Einsatz zur Verfügung zu stellen„. Dr. Linse wurde 1953 aus West-Berlin entführt und im Dezember 1953 in Moskau erschossen.

Die Beiträge über die Honecker-Ära reichen von der Entwicklung des politischen Strafrechts im ersten Jahrzehnt der Amtszeit Honeckers bis zur Rolle der DDR-Justiz im Umbruch 1989/90. Sie sind, was das Quellenmaterial anbelangt, gut bis sehr gut belegt. Dazu hat sicherlich auch beigetragen, dass einige der Autoren Mitarbeiter der Dienststelle des Bundesbeauftragten sind. Wer dieses Buch zur Hand nimmt, erhält nicht nur einen Tagungsbericht. Das Werk kann als umfassendes Kompendium zur Geschichte der DDR-Justiz und auch des MfS genutzt werden.

Die Diskussion über die Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit und den Charakter des SED-Staats wird mit Sicherheit noch geraume Zeit andauern. Wer sich intensiver mit dieser Materie befasst, sollte dieses Buch zur Hand nehmen.

Johann Frömel, Nürnberg



© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | März 2001