Archiv für Sozialgeschichte
Rezension

Christof Dipper/Lutz Klinkhammer/Alexander Nützenadel (Hrsg.), Europäische Sozialgeschichte. Festschrift für Wolfgang Schieder (= Historische Forschungen, Bd. 68), Verlag Duncker & Humblot, Berlin 2000, 558 S., geb., 148 DM.

Wolfgang Schieder ist im vergangenen Jahr 65 Jahre alt geworden. Die Herausgeber der Festschrift haben versucht, die 33 Beiträge als Überblick über den Stand der Sozialgeschichte zu gruppieren. Die Aufsätze älterer und jüngerer, deutscher und ausländischer Fachvertreter greifen aber, wie bei solchen Anlässen üblich, verschiedenste Themen, Epochen, Regionen und Methoden auf. So ergibt sich eine Bilanz der Leistungskraft der Disziplin nur kaleidoskopisch als Summeneffekt im Leser. Durch die Konkretheit und Vielfältigkeit der Einzelbeiträge ist das aber nicht ohne Reiz.

Wolfgang Schieder, eine der zentralen Figuren der Sozialgeschichte der letzten Jahrzehnte, Schüler Werner Conzes, lange an der Universität Trier, lehrte zuletzt an der Universität Köln. Er hat in seiner eigenen Laufbahn wichtige Entwicklungen der Sozialgeschichte geprägt und mitvollzogen. Vom Studium der Arbeiterbewegung mit genauer Kenntnis von Sozialismus und Kommunismus ist er zu Analysen faschistischer Strukturen geschritten und damit zur ganzen Bandbreite der großen Bewegungen des 20. Jahrhunderts. Der internationale Vergleich war mit diesen Themen angelegt. Schieder hat sich vor allem der italienischen Geschichte zugewandt; sie verband ihn mit dem Deutschen Historischen Institut in Rom, und zuletzt leitete er die Forschungsstelle „Neuere Geschichte Italiens„ an der Kölner Universität. Doch auch seine regionalgeschichtlichen Studien – napoleonische Zeit und Säkularisation im Raum Saar-Mosel-Rhein – sind bedeutsam. Seine Arbeiten über Religion und Volksfrömmigkeit in der Neuzeit sind kennzeichnend für eine kulturelle Phänomene einbeziehende frühe Öffnung der Sozialgeschichte. Empirische Studien hat Schieder immer mit theoretischen und begriffsgeschichtlichen Reflexionen begleitet; zusammen mit Volker Sellin gab er 1986/87 vier Bände zum Stand der Sozialgeschichte heraus. Zahlreiche Schüler verweisen auf seinen Einfluss als Hochschullehrer.

Die Festschrift greift in ihrer Gliederung zentrale Aspekte des akademischen Werks Schieders und damit zugleich der Entwicklung der Sozialgeschichte insgesamt auf. Sie ordnet die Aufsätze in die Abschnitte Politische Bewegungen und Regime, Revolutionen und Umbrüche, Klassen und Professionen, Mentalitäten und Kulturen, Diskurse und Identitäten sowie schließlich Methodik und Historiographie der Sozialgeschichte. Anhand einiger Beiträge soll im Folgenden die Festschrift und ihr Aussagewert für die Sozialgeschichte charakterisiert werden.

Klaus von Beyme informiert aus begriffsgeschichtlicher Perspektive über die Debatte zu Stalinismus und Totalitarismus. Alexander Nützenadel geht der Selbstzuschreibung des italienischen Faschismus als „Revolution„ nach, wobei allerdings ein Vergleich zu deutschen Vorgängen weitgehend ausbleibt. Die deutsche Seite wird vielmehr dem Beitrag von Hans Mommsen überlassen, der dem Nationalsozialismus eine Selbststilisierung innerhalb der Reihe der europäischen Revolutionen entschieden verweigert. Zum weiten internationalen Vergleich dringt dann Armin Heinen vor, der die Erscheinungsformen des europäischen Faschismus als historisches Phänomen zusammenschauend zu erklären versucht.

Die Beiträge zur Untersuchung von Umbrüchen konzentrieren sich auf die Revolution 1848/49. Die Debatte um liberale Verfassungsideen wird dann von Helmut Berding mit der Frage nach sozial-humanitären Erweiterungen in den Verfassungen von Bund und Ländern in Westdeutschland fortgeführt. Sozialisierungsabsichten und Mitbestimmungsregelungen erweiterten nun die gesellschaftliche Zielsetzung von Verfassungsinhalten.

Rainer Hudemann fragt nach in Deutschland und Frankreich unterschiedlichen Beziehungen der Arbeitsmarktparteien zueinander – eines der klassischen Themen der Sozialgeschichte, die aber, wie Hudemann zu Recht betont, nach wie vor das Lebensschicksal von Menschen stark bestimmen. Überzeugend wird seine Analyse aber vor allem dadurch, dass die aus den Verbandsstrukturen und sozialen Absicherungsweisen entstandenen, untergründig auf das Verhalten der Akteure einwirkenden Bilder und Wahrnehmungsmuster mitbehandelt werden.

Die moderne Sozialgeschichte hat längst ihre thematischen und methodischen Grenzen geöffnet, sodass kaum ein Bereich modernen menschlichen Lebens ununtersucht bleibt. Innerhalb der Konsumgeschichte verdeutlicht Hans-Peter Ullmanns Blick auf Warenhäuser im wilhelminischen Deutschland, welche Disziplinen inzwischen ihre Methodik und ihr Wissen in die Sozialgeschichte eingebracht haben: Nicht nur die selbstverständliche Trias aus Wirtschafts-, Politik- und Sozialgeschichte im engeren Sinn, sondern die Geschichte von Architektur, Kommunikation, Kunstgeschichte und die Psychologie hinter der neuen bunten Warenwelt werden ganz zusammengebracht. Allerdings macht gerade dieser Artikel deutlich, dass auch eine solcherart erweiterte Sozialgeschichte nur mit Schaden für die Erkenntnis auf eine eigene Positionierung, hier in der ja auch schon historischen Debatte um Pro und Kontra des Konsums, verzichtet.

Sport als Religion des 20. Jahrhunderts untersucht Moshe Zimmermann. Der Artikel liest sich als Beispiel dafür, wie selbstverständlich und fruchtbringend Perspektiven und Ansätze spezifischer Forschungsstränge inzwischen hin- und herübergetragen werden, hier von der Geschichte der Religionen zur Sportgeschichte zunächst amerikanischer Prägung. Die gegenseitigen Anregungen innerhalb der sich weit definierenden Sozialgeschichte erscheinen keineswegs erschöpft zu sein, Überraschungen sind immer noch zu erwarten. Dennoch lässt sich Zimmermanns Artikel auch als Mahnung lesen, diesen Bogen nicht zu überspannen und die Ergebnisse in ihrer Tragweite immer kritisch zu prüfen. Gar zu glatt erscheint denn Religion und Sport hier in eins gesetzt, wird etwa übersehen, dass Sport sich der Leistung verschrieb, während Religion den Umgang mit aktivem und passivem Leistungsversagen nie ausschloss.

Hartmut Lehmann fordert mit seiner Frage nach „Säkularisierung und Gewalt in der modernen Welt„ Historiker zur Zusammenschau von Phänomen der Religion und der Gewalt auf, statt diese je getrennt Soziologen und Politikwissenschaftlern zu überlassen. In kurzen Thesen spricht Lehmann von einer „Neuverzauberung„ des 20. Jahrhunderts, vom Vorherrschen irrationaler Heilshoffnungen – weite Folgerungen für eine immer noch im Ruf der Nüchternheit stehende Sozialgeschichte. Überzeugend bringt Walter Rummel in seinem Beitrag zur Hexenverfolgung die Sozialgeschichte mit der Kommunikations- und Geschlechtergeschichte für den ländlichen Mikroraum der frühen Neuzeit zusammen. Eine empirisch exakt arbeitende und perspektivisch weit gefasste Sozialgeschichte nähert sich sehr gut vergangenen dörflichen Lebenswirklichkeiten an und liefert damit korrigierende Ergebnisse zu heutigen, publikumswirksam über die Medien verbreiteten Mythenbildungen um die Opfer der Hexenverfolgungen.

Der Politikwissenschaftler Claus D. Kernig gibt schließlich der in der Festschrift unter das Attribut „europäisch„ gestellten Sozialgeschichte gar einen globalen Rahmen. Sind Kernigs gesellschaftsreformerische Ideen auch wenig realistisch, gibt er doch interessante Denkanstöße: Am Beispiel der europäischen Industrialisierungsgeschichte verweist er darauf, dass die Muster sozialgeschichtlicher Analyseansätze die Ausrichtung politischer Handlungsweisen beeinflussten. Zu Recht plädiert er daher für Verantwortungsübernahme durch die Sozialhistoriker, also potenzielle gesellschaftspolitische Folgerungen ihrer Arbeit wahrzunehmen und aktiv zu gestalten. Vor allem sollten jenseits des europäischen Raumes liegende gesellschaftliche Problemkonstellationen auch dahingehend analysiert werden, welche Fragen an die europäische Vergangenheit sich von dort her stellen. Das hat Max Weber innerhalb der sozialgeschichtlichen Tradition früh vorgemacht.

Sicher ist die Sozialgeschichte im Umbruch. Um ihre Zukunft als perspektivisch offene und interdisziplinäre Fachrichtung, die – wie die Beiträge belegen – sowieso existiert, scheint es insgesamt nicht schlecht bestellt zu sein. Zumal die im doppelten Sinn harten sozialen Fakten gesellschaftlichen Lebens keineswegs im Rückzug begriffen zu sein scheinen, sondern sich in immer neuen Formen, sozialen Ungleichheiten und gesellschaftlichen Problemstellungen manifestieren. Dauerhaft und gar nicht virtuell bilden sie die nuggets im Wirbel kultureller Deutungen.

Josef Boyer, Bielefeld



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