Archiv für Sozialgeschichte
Rezension
Julie A. Cassiday, The Enemy on Trial. Early Soviet Courts on Stage and Screen, Northern Illinois University Press, DeKalb 2000, X + 260 S., geb., 38 $.
Theater und Justiz sind Verwandte. Im Strafprozess wird nicht allein Recht gesprochen und gefunden. In ihm wird das Recht des Staates demonstriert, zur Schau gestellt und vermittelt. Die Theatralisierung des Rechts ist ein Mittel, um Bürger und Untertanen über den Inhalt des Rechts und seine moralischen Grundlagen aufzuklären. Foucault hätte von hegemonialen Diskursen gesprochen, die in solchen Aufführungen alle übrigen Auffassungen von Normalität zum Schweigen bringen. Das gilt für Staaten mit totalitären Herrschaftsansprüchen umso mehr, weil hier Feinde benannt, entdeckt und entlarvt werden müssen. Eine theatralische Vermittlung des Rechts ist unter solchen Umständen unverzichtbar. Hier sei nun am Rande erwähnt, dass annähernd 1/6 aller zwischen 1933 und 1940 in der Sowjetunion gedrehten und von der Zensur genehmigten Filme von der Demaskierung und Aburteilung böswilliger Volksfeinde handelten. Theater und Film der frühen Sowjetunion standen im Dienst der Feinderkennung. Von der dunklen Seite der sowjetischen Unterhaltungsindustrie war im Kreis der Historiker noch nicht die Rede. Daraus bezieht die Untersuchung Cassidays über Gerichtsprozesse im sowjetischen Theater und Film ihre Berechtigung.
Die Bolschewiki schöpften aus dem Erbe des Zarenreiches. Am Anfang stand das Verlangen des Symbolisten Ivanov, die Barriere zwischen der Bühne und dem Leben aufzuheben, das Publikum in das Theater einzubeziehen. Der Theaterkritiker und Jurist Evreinov sah in der Bühne ein Medium gesellschaftlicher Therapie. 1921 empfahl er den Machthabern, Polizisten und Untersuchungsrichtern eine Theaterausbildung zu vermitteln. Der einflussreiche bolschewistische Volksbildungskommissar Lunaèarskij fand, Theater und Kino seien Instrumente zur Aufklärung und Erziehung dunkler Massen. Darin folgte er den Vorstellungen des französischen Schriftstellers Romain Rolland vom pädagogischen Volkstheater. Im Gerichtsprozess zeigten sich aber auch die Gegensätze von Gut und Böse, die Konflikte verfeindeter Welten, in deren Bann die Bolschewiki standen. Dieses Drama verlangte nach öffentlicher Inszenierung. Welche Wirkungen von solchen Inszenierungen ausgehen konnten, - das hatten die Bolschewiki vor den Gerichten des zarischen Russland selbst erfahren, als sie die Möglichkeiten des Prozessrechts zur Förderung der revolutionären Sache ausschöpften. Den imaginierten Feinden der sowjetischen Ordnung aber wurden solche Rechte nicht zugestanden.
Zu Beginn der zwanziger Jahre hatten die neuen Machthaber nur mäßigen Erfolg mit ihrem Bemühen, Gerichtsprozesse wirksam zu inszenieren. Der Prozess gegen die Sozialrevolutionäre im Jahr 1922 verfehlte seine Wirkung, weil sich keiner der Angeklagten bereit fand, zu gestehen und Reue zu üben. Hier präsentierten sich mutige Widersacher, die ihre Auffassung vom Weltgeschehen jener der Machthaber entgegenstellten. Vom rhetorischen Aufstand der Angeklagten durfte deshalb auch nichts an die Öffentlichkeit dringen.
Zur Verbreitung der sowjetischen Botschaft im Film fehlte es zu Beginn der zwanziger Jahre noch an finanziellen Ressourcen und künstlerischer Kreativität. Was die Untertanen zu sehen bekamen, entsprach dem Geschmack von Intellektuellen. Sie zogen es deshalb vor, sich jene zahlreichen Hollywood-Filme anzusehen, die zu dieser Zeit in der Sowjetunion gezeigt wurden. So blieb das Theater vorerst das konkurrenzlose Medium bolschewistischer Propaganda. Bis zur Mitte der zwanziger Jahre beherrschten fiktive Gerichtsprozesse (agitsudy) die Bühne des sozialistischen Theaters. Sie verbanden den sozialistischen Erziehungsauftrag mit den Schandritualen des russischen Dorfes und zielten auf die Überwindung des inneren Feindes. Hier sollten durch die öffentliche Diskreditierung scheinbar rückständiger Sitten, von Unwissenheit und religiöser Verblendung geprägte Menschen aufgeklärt und im Sinne des zentralen Erziehungsprogramms bekehrt werden. Geistliche, ehemalige Gutsbesitzer, weiße Generäle, selbst Zar und Gott wurden von den Revolutionären auf die Anklagebank gesetzt. Es kam auch vor, dass die Propagandisten gegen abstrakte Kollektive wie die Religion oder den Imperialismus und gegen Verhaltensweisen Anklage erhoben. Die Gerichtsprozesse folgten der Dramaturgie des Melodrams. Sie präsentierte dem Zuschauer eine Geschichte menschlicher Verfehlungen und das Geständnis des Beschuldigten. Ihm folgten die öffentliche Reue und Reintegration des Delinquenten in die Gesellschaft. So erlernten die Untertanen, welches Verhalten das Regime von ihnen erwartete und welche Lebensweisen es kriminalisierte. Und weil diese Lehren im Gewand moralischer Eindeutigkeit auftraten, weil sich die Zuschauer in ihnen selbst wieder erkannten und die Beschuldigten am Ende in den Schoß der Gemeinschaft zurückkehren konnten, stießen sie auch auf Resonanz. Letztlich war das Gerichtstheater eine der wenigen Möglichkeiten des Regimes, Einfluss auf eine Gesellschaft von Analphabeten zu nehmen.
Zum Reiz solcher Inszenierungen gehörte es, dass sie die Zuschauer in das Geschehen einbezogen und an der Urteilsfindung beteiligten. Jenes Element aber schien den Bolschewiki zu missfallen. Fiktive Gerichtsprozesse, die auf der Bühne zur Inszenierung kamen, entzogen sich zentraler Steuerung und Kontrolle. Mitte der zwanziger Jahre gewann der Film als Medium der Theatralisierung des Rechts an Bedeutung. Er ermöglichte es dem Regime, Regie über die Produktion von Wahrheit zu führen. Lunaèarskij selbst sah im Film ein Instrument, mit dem die Revolution in das Bewusstsein der Volksmassen gebracht und dieses verändert wurde. Nicht zufällig rückte der Film zu einem Zeitpunkt in das Zentrum des Interesses, als die Bolschewiki damit begannen, den äußeren Feind zu entdecken. Dieser Feind musste bestraft und aus der Gemeinschaft ausgeschlossen werden. Seine Vernichtung konnte nicht dem freien Spiel der Kräfte überlassen bleiben.
Was das bedeutete, führten die Bolschewiki der Öffentlichkeit erstmals im Frühsommer 1928 vor, als sie in Moskau mehrere Ingenieure aus den Kohlegruben des Donbass als Saboteure und Volksfeinde vor Gericht brachten. Der sogenannte achty-Prozess symbolisierte den Siegeszug des manichäischen Gerichtsdramas, wie es sich in der inszenierten Feindvernichtung in den dreißiger Jahren überall in der Sowjetunion zutrug. Die angeklagten Volksfeinde gestanden und bereuten ihre Untaten nicht nur. Sie stilisierten sich dabei selbst zu Feinden und folgten in ihren Geständnissen den Regieanweisungen des staatlichen Anklägers. Zwar verlangte das Skript den Volksfeinden Reue ab, aber es ließ ihnen keinen anderen Ausweg mehr, als ihrer eigenen Vernichtung zuzustimmen. Und das konnte auch gar nicht anders sein. Denn mit dem Beginn der Kulturrevolution erhielt der Feind unveräußerliche Attribute, die ihn als unheilbar Kranken auswiesen. Volksfeinde mussten in der verordneten Sprache als Schädlinge, als Insekten, Bakterien und menschlicher Abfall präsentiert werden, der den Organismus der sozialistischen Gesellschaft mit seinem Gift infizierte. Es blieb dem Gericht und seiner cineastischen Inszenierung vorbehalten, dem Publikum die Ausweglosigkeit jenes Daseins zu vermitteln, dem der Feind angehörte. Die Untertanen erfuhren so auch, dass sie nicht zur Gruppe der Volksfeinde gehörten, sich aber durch unbedachten Kontakt mit fremden Elementen infizieren konnten. Seit 1928, im Anschluss an den achty-Prozess, förderte das Regime die Produktion von Filmen, die sich in der Entlarvung verborgener Feinde gefielen. Theaterstücke und Filme, die mit den Mitteln von Ironie und Parodie um die Sache des Sozialismus warben, wurden von der Zensur verboten. Dieses Schicksal ereilten am Ende auch die Inszenierungen Majakovskijs, die es an eindeutigen moralischen Botschaften fehlen ließen.
Der Gerichtsfilm lag für die Bolschewiki nicht im Abseits. Im Gegenteil: der erste Tonfilm, der in sowjetischen Kinos zu sehen war, handelte vom Prozess gegen die sogenannte Industriepartei". Und dies geschah ungeachtet aller Schwierigkeiten, die es mit der Herstellung von Tonfilmen in der frühen Sowjetunion gab. Was in diesem Dokumentarfilm gezeigt wurde, unterlag sorgfältiger Bearbeitung. Man sah Richter und Angeklagte hinter Barrieren, auf hohen Stühlen sitzen. Von den Zuschauern im Gerichtssaal war kaum mehr als eine gesichtslose Masse zu erkennen, die sich kollektiv über die Untaten der Volksfeinde empörte. Die Kamera präsentierte die Angeklagten als verachtungswürdige und entmenschte Kreaturen. Untertitel und gestellte Demonstrationsszenen gaben dem Kinobesucher einen Leitfaden für das Verständnis des Gesehenen zur Hand. Dieses Muster wiederholte sich auch in den Spielfilmen der dreißiger Jahre. Sie zeigten Feinde, die sich als Freunde und Vertraute tarnten, die Gutgläubigkeit aufrichtiger Kommunisten ausnutzten, am Ende aber stets entlarvt, überführt und vernichtet wurden. Partijnyi bilet" (Der Parteiausweis) von I. Pyrev, Velikij gradanin" (Ein großer Bürger) von F. Ermler oder Die Furcht"(Strach) von A. Afinogenov gehörten zu diesem Genre. "Partijniyj bilet" erzählte die Geschichte eines Volksfeindes, der sich als Ehemann einer Kommunistin tarnte. Stalin selbst förderte die Verbreitung dieses schlimmen Machwerks. Er fand, der Film sei ein eindrucksvolles Abbild der sowjetischen Realität.
Was in den Gerichtsprozessen der frühen Sowjetunion zur Verhandlung kam, war von großer Wirkung. Mehr als 100.000 Menschen wurden während des achty-Prozesses als Zuschauer in den Gerichtssaal vorgeladen, mehrere Millionen Menschen lasen die Prozessreportagen in den Zeitungen und sahen die Inszenierungen in den Wochenschauen. Wie solche Filme auf das Publikum wirkten, welchen Einfluss sie auf das Alltagsleben ausübten, wie sie schließlich das Verhältnis zwischen Herrschern und Untertanen beeinflussten, - darauf weiß auch Cassiday keine Antwort zu geben. Ihr Hinweis auf die Erinnerungen John Scotts, der die dreißiger Jahre in Magnitogorsk verbrachte und das Alltagsleben von Arbeitern auf den Großbaustellen des Kommunismus beobachtete, ist zur Beantwortung dieser Frage kaum ausreichend. Scott hatte behauptet, die Arbeiter seien von der simplen Machart der Propagandafilme fasziniert gewesen. Wahrscheinlich ließen sich aber ebenso viele Beispiele für das Gegenteil anführen. Denn wer, außer den Bolschewiki, sah schon eine Welt, die nur aus Feinden und Verschwörungen bestand?
Diese Einwände setzten den Wert des Buches nicht herab. Was vom Stalinismus zu halten ist, wird man künftig nicht mehr ohne die Lektüre dieser gewichtigen Untersuchung bedenken können.
Jörg Baberowski, Tübingen