Archiv für Sozialgeschichte
Rezension

Gisela Bock, Frauen in der europäischen Geschichte. Vom Mittelalter bis zur Gegenwart (= Europa bauen), C. H. Beck Verlag, München 2000, 400 S., geb., 49,80 DM.

Der europäische Integrationsprozess verändert nicht nur die Politik, politische Kultur oder die Geldwährung der beteiligten Staaten, sondern auch die Historiographie. Mindestens zwei Buchreihen haben sich vorgenommen, dem Publikum Geschichte in europäischer Perspektive zu unterbreiten: Die des Fischer Taschenbuch Verlages ("Europäische Geschichte") und die von Jacques Le Goff herausgegebene Reihe "Europa bauen", die für den deutschsprachigen Raum im Verlag C. H. Beck erscheint. Jacques Le Goff führt in seinem Vorwort aus, "Europa bauen" diene der Vergewisserung über die Vergangenheit, um die Aufgaben der Zukunft anzugehen, d.h. die Reihe soll zu einer europäischen Identität beitragen.

Die renommierte Historikerin Gisela Bock hat die "schwere Bürde" (S.10) übernommen, für dieses ambitionierte Projekt die europäische Geschichte von Frauen von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart darzustellen. Das erweist sich als ein Glücksfall für die Geschichtswissenschaft. Der Autorin gelingt eine selten so konsistent vorgetragene Synthese von Diskursgeschichte (in einem non-foucaultschen Sinne), Orientierung an realen Menschen als handelnden Subjekten der Geschichte und Strukturierungen der Lebens-, Arbeits- und Rechtsverhältnisse. In diesem Sinne führt sie der Leserschaft nicht allein Argumente und Vokabular der Geschlechterdebatte (mit vielen zeitgenössischen Zitaten) vor Augen. Die Autorin verdeutlicht darüber hinaus anhand der Debattenverläufe und den 'hard facts' der Geschlechtergeschichte sowohl die mentalen und politischen Spielräume der Individuen als auch ihre Beschränkungen durch jene Strukturen, die Frauen von einer Gleichberechtigung ausschlossen und ausschließen. Es ist auf diese Weise eine innovative Geschichte der europäischen Geschlechterverhältnisse und zugleich ein wegweisendes Beispiel dafür entstanden, was nach der kulturalistischen Wende von der Geschichtswissenschaft geleistet werden kann.

Drei rote Fäden ermöglichen die Orientierung im vielgestaltigen Labyrinth einer europäischen Frauengeschichte mehrerer Jahrhunderte. Erstens rekonstruiert die Autorin die vielstimmige und verwickelte Debatte "über die Frage, was Frauen, Männer, Geschlechter und was Menschen überhaupt sind" (S.10). Dabei verfolgt sie insbesondere das Hin und Her des Diskurses darüber, ob Frauen Menschen seien. In der Frühen Neuzeit schliffen Hunderte von Autorinnen und - weit häufiger - Autoren ihren Geist, ihre Rhetorik und ihren Esprit daran, möglichst kluge, manchmal witzige, provokante oder paradoxe Argumente des Für und Wider zu finden. Eine in ihrer denkerischen Radikalität besonders eindrucksvolle Argumentation führte Marie de Gourney 1622 an: Christus sei nur deshalb als Mann auf die Welt gekommen, weil er bei der obwaltenden Frauenverachtung als Frau nichts hätte bewirken können (S.28). Als Folge des universalistischen Anspruchs der Französischen Revolution - de facto waren die Menschenrechte Männerrechte - stellte sich die Frage "Was sind Frauen? Was Menschen?" neu: Visionen von weiblicher Bürgerschaft, d.h. von politischer Partizipation entstanden und verstummten seither nicht mehr. Die "längste Revolution" (S.115), die der Gleichberechtigung der Geschlechter, hatte begonnen. Seitdem entscheidet sich - auch am Beginn des 21. Jahrhunderts - die Frage, ob Frauen Menschen seien, daran, inwieweit die Menschenrechte auch für Frauen in der Praxis Gültigkeit haben.

Der zweite rote Faden verfolgt die Balance von Tradition und Innovation in den jeweiligen Epochen. Die Autorin zeichnet hier ein überaus differenziertes Bild, ohne die großen Linien aus dem Blick zu verlieren: Die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen bleibt präsent und die Gewichtsverteilungen zwischen Tradition und Innovation werden für jede Epoche und jede wichtigere Veränderung neu und spezifisch bestimmt. Die Bilanz des Fortschritts für ein gerechtes Geschlechterverhältnis fällt zweischneidig aus: Im Vergleich mit ihren Müttern, Groß- und Urgroßmüttern gehe es den heutigen Frauen "gewiss besser als je zuvor". Im Vergleich mit den Männern ihrer Generation bleibe hingegen vieles zu wünschen übrig (S.343).

Den dritten roten Faden bildet die Suche nach den Grenzverläufen zwischen den Bereichen des Öffentlich-Politischen und des Privaten und ihren einzelnen Verschiebungen im Lauf der Geschichte, also die klassische Frage der Frauen- und Geschlechtergeschichte.

Aus diesen drei Blickwinkeln heraus durchquert die Autorin systematisch die europäische Geschichte auf der Suche nach dem Europäisch-Gemeinsamen, den transnationalen Dimensionen der Geschlechterbeziehungen, dem grenzüberschreitenden Verkehr des Diskurses. Gisela Bock setzt - unvermeidbar bei der eher titanischen Größe des Themas - eigene Gewichtungen, die ein Stück weit den bisherigen Schwerpunkten ihrer Forschung entsprechen. Die Frühe Neuzeit gerät dabei etwas zu kursorisch, viele Namen werden genannt, viele vergangene Gedankengebäude blitzlichtartig beleuchtet. Was aber die ständische Gesellschaft der Frühen Neuzeit im Kern ausmachte und was diese Verfassung der Gesellschaft für die Frauen und die Debatte um sie bedeutete, bleibt zu schemenhaft. Der Französischen Revolution räumt die Verfasserin mehr Raum ein, sodass sich hier ein aufschlussreiches Panorama der Zeit entfalten kann. In einer gelungenen Mischung aus Detailreichtum und Beschränkung auf das Wesentliche wird ein vielschichtiges Bild der Rolle von Frauen in den revolutionären und gegenrevolutionären Ereignissen gezeichnet. Es werden zudem Gründe für das unmittelbare Scheitern der Revolution für die Frauen gesucht. Sie waren zwar - wenn es nötig schien - als Fußvolk der Revolution gefragt, ansonsten sollten sie aber Heim, Herd und Kinder der Revolutionäre hüten und damit ihre patriotischen Pflichten abdienen. Die Französische Revolution wird pars pro toto für das Zeitalter der Aufklärung behandelt. Dabei geht allerdings manches verloren, was es über diese Sattelzeit der modernen Geschlechterverhältnisse noch zu sagen gäbe. Der Einschnitt, den die Vernunftgläubigkeit der Aufklärung für die Debatte um die Geschlechter bedeutete, verliert so an Kontur. So stellt die französische Philosophin Geneviève Fraisse fest: Der alte Streit der Frühen Neuzeit um Frauenlob und Frauentadel hörte auf, ein einfacher Gedankenaustausch zu sein, sondern wurde zu einem Prozess vor dem imaginären Gerichtshof der Vernunft, dem fortan die Fürsprecher/innen und Gegner/innen ihre Plädoyers vortragen. (Geneviève Fraisse, Geschlecht und Moderne. Archäologien der Gleichberechtigung, Frankfurt/Main 1995, S.94)

Die Darstellung des 19. Jahrhunderts wird zu einer eindrucksvollen Zusammenschau der historischen Entwicklung der klassischen (ersten) Frauenbewegung in Europa (und Nordamerika): Im viktorianischen Zeitalter wurde - ausgehend vom karitativen Aufbruch von Frauen - die Geschlechterfrage zunehmend auf dem Terrain der Politik ausgefochten. Eine eingehende Analyse der Auseinandersetzungen um das Wahlrecht für Frauen zeigt, dass gerade die Länder, die den Männern am frühesten das allgemeine Wahlrecht gewährten, Frankreich und die Schweiz, am längsten brauchten, dieses Recht auch den Frauen zuzubilligen. Sie wurden zu Nachzüglern, "nicht obwohl sie die ältesten Männerdemokratien Europas waren, sondern weil sie es waren" (S.215), so die gut belegte These der Verfasserin. In Ländern wie Großbritannien oder Deutschland wurde das allgemeine Frauenstimmrecht zusammen mit dem für die Männer erkämpft, da Arbeiterbewegung und Liberale die Forderung nach partizipatorischer Gleichberechtigung primär als Hebel für ein allgemeines Männerwahlrecht benutzten.

Das 20. Jahrhundert sieht die Verfasserin als ein Zeitalter der Extreme, eine Ära "zwischen Demokratie und Diktatur, Frieden und Krieg, Sozialstaat und Genozid, Selbstbestimmung, Morden und Ermordet-werden" (S.241), womit zugleich die inhaltlichen Schwerpunkte des Kapitels umrissen wären. In den Diktaturen des letzten Jahrhunderts, im Bolschewismus, italienischen Faschismus, Nationalsozialismus oder in Spanien unter Franco sieht sie eine Gemeinsamkeit des Antifeminismus und eine verbindende Auflösung der Grenzen zwischen Politischem und Privaten. So sollte im 'Dritten Reich' das Private einzig in seiner Funktion für das Politische Geltung haben, was hier 'Reinhaltung von Volk und Rasse' meinte. In ihren umfangreichen Abschnitten zur NS-Zeit geht die Autorin zu wenig auf die Grenzen dieser rassistischen Politisierung des Privaten ein, d.h. auf die Frage, ob es dem Nationalsozialismus tatsächlich gelang, die Grenze zwischen beiden Bereichen vollständig einzureißen. Vom Boden des Privaten aus, von familiären Bindungen her entfalteten sich doch gerade die mutigsten und wirkungsvollsten Proteste gegen die NS-Vernichtungspolitik: Der Aufschrei von Angehörigen gegen die 'Euthanasie', der dann von der Kirche verstärkt wurde, und die Proteste von Frauen, die in 'Mischehen' mit Juden lebten.

Gisela Bock ist alles in allem eine beeindruckende und anregende Geschichte der Geschlechterdebatte auf sozialhistorischem Fundament gelungen. Es ist eine gut lesbare, ja spannende Lektüre für jede und jeden, die bzw. der wissen will, warum es nach wie vor so schwierig ist, sich und andere erst einmal jenseits des Geschlechtes als Menschen zu sehen. Würde dies ein Teil der europäischen Identität, wäre viel an Freiräumen für alle Geschlechter gewonnen.

Erik Eichholz, Hamburg



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