Archiv für Sozialgeschichte
Rezension

Paul Julian Weindling, Epidemics and Genocide in Eastern Europe, 1890-1945, Oxford University Press, Oxford/New York 2000, 463 S., 22 Abb., 3 Karten, geb., 55 £.

Die Medizin wurde im Nationalsozialismus zu einer Leitwissenschaft mit den bekannten Konsequenzen. Dies bedeutet wiederum, dass die nationalsozialistische Rassen- und Vernichtungspolitik ohne einschlägige wissenschaftsgeschichtliche Untersuchungen nicht hinreichend erfasst werden kann. Inzwischen liegen einige einschlägige und beeindruckende Forschungsarbeiten vor. Dazu gehören zweifellos die Studien von Paul Weindling, etwa sein Standardwerk "Health, Race and German Politics between National Unification and Nazism, 1870-1945" (Cambridge 1989). Eine der Stärken von Weindlings Ansatz liegt in der langfristigen Betrachtungsweise, d.h., er beschränkt sich keineswegs auf die Periode nationalsozialistischer Herrschaft, sondern verfolgt die spezifischen Entwicklungen meist vom Kaiserreich bis 1945. So auch in der hier anzuzeigenden Monographie, in deren Mittelpunkt die Erforschung und Bekämpfung des Fleckfiebers zwischen 1890 und 1945 stehen. Hauptziel der Arbeit ist es, die Verbindungen von medizinisch-epidemiologisch motivierter Bekämpfung von Parasiten und dem Völkermord in Osteuropa aufzudecken.

Ausgangspunkt bilden die medizinischen und gesundheitspolitischen Reaktionen auf die drohenden Fleckfieberepidemien an den Ostgrenzen des Deutschen Reichs. In einem ersten Schritt werden die Anfänge der wissenschaftlichen Fleckfieberforschung im Kontext von Bakteriologie und Tropenmedizin sowie die Umsetzung ihrer Ergebnisse in konkrete Bekämpfungsstrategien thematisiert. Noch bevor Läuse als Vektoren des Fleckfiebers eindeutig identifiziert werden konnten, galt das Entlausen als probates Mittel zum Schutz gegen Fleckfieberepidemien und kam im Ersten Weltkrieg sowohl bei Soldaten als auch bei der Zivilbevölkerung erstmals verstärkt zur Anwendung. In den folgenden Jahrzehnten wurde diese Praxis als Zwangsroutine für Emigranten aus Osteuropa (vor allem aus der Sowjetunion) institutionalisiert und im Rahmen der internationalen Hilfe für Polen und die Sowjetunion weiterentwickelt. Gleichzeitig erfolgte die Einführung des Zyklongases, dessen extensive Verwendung zur Desinfektion als deutsche Besonderheit gilt: Lange bevor Zyklon B in den Gaskammern zum Einsatz kam, wurde es in den späteren Vernichtungslagern bereits als Desinfektionsmittel zum Schutz gegen Fleckfieber eingesetzt. Bereits in dieser Phase werden sowohl auf linguistischer als auch auf ideologischer Ebene die Verquickung von Seuchenbekämpfung und rassistischem bzw. antisemitischem Gedankengut offenbar. So wurden die Bekämpfungsmaßnahmen zunehmend radikaler und richteten sich gegen angeblich "rassisch inferiore" Menschen; Fleckfieber wurde als "jüdische Krankheit", als "Judenfieber" deklariert.

Doch erst unter nationalsozialistischer Herrschaft kulminierten diese Prozesse und Tendenzen im systematischen Völkermord. Die Fleckfieberbekämpfung spielte dabei eine zentrale Rolle, etwa im Seuchenplan Ost. Hier verbanden sich sanitärpolizeiliche Maßnahmen mit rassistischen Ansätzen, wobei es schließlich darum ging, menschliche Träger von Infektionskrankheiten zu segregieren und auszulöschen: Der Weg von der Auslöschung des Erregers zur Auslöschung des menschlichen Überträgers wird deutlich. Paul Weindling beschreibt aber nicht nur die Entwicklung von deutschen geomedizinischen Konzepten und der gängigen Entlausungspraxis zum Holocaust, sondern legt abschließend auch die Durchführung von impfmedizinischen Humanexperimenten und solchen der biologischen Kriegführung vor diesem Hintergrund dar und zeigt deren Beurteilung durch die alliierte Justiz auf.

Basierend auf weitreichendem Archivmaterial von Osteuropa bis in die USA, auf Interviews und einer Fülle zeitgenössischer Literatur gelingt es dem Autor nachhaltig, Entwicklungslinien von den Maßnahmen zur Bekämpfung von Fleckfieber während des Ersten Weltkrieges zu den Gaskammern in den Vernichtungslagern der Nationalsozialisten zu ziehen. Er demonstriert eindrucksvoll bislang nicht gesehene Bezüge zwischen medizinisch indizierten Maßnahmen zur Eindämmung von Fleckfieber - vornehmlich den Massenentlausungsaktionen von Militärpersonal und Zivilbevölkerung - und der Vorbereitung des Genozides sowohl mit Hilfe medizinischer Legitimationsfiguren als auch konkreter Verfahrensweisen. Kurzum, Weindling dürfte auch mit dieser Arbeit wieder ein Standardwerk gelungen sein.

Jörg Vögele und Silke Stelbrink, Düsseldorf



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