Archiv für Sozialgeschichte
Rezension

Karl-Ludwig Sommer, Wilhelm Kaisen. Eine politische Biographie. Hrsg. von der Wilhelm-und-Helene-Kaisen-Stiftung Bremen, Verlag J. H. W. Dietz Nachf., Bonn 2000, 541 S., geb., 39,80 DM.

Dies ist ein erfreuliches Buch. Karl-Ludwig Sommer gelingt mit seiner Arbeit über Wilhelm Kaisen ein seltener Spagat: Die Form der Darstellung genügt nicht nur wissenschaftlichen Ansprüchen, sondern sie macht den Gegenstand auch einem allgemein interessierten Publikum zugänglich, denn die Studie über den langjährigen Bremer Bürgermeister ist eine angenehme Lektüre.

Wilhelm Kaisen war zu Lebzeiten außerordentlich populär, und sein Angedenken erfreut sich bis heute einer hohen Wertschätzung – zumindest in Bremen. Was Sommers Arbeit nun auch für Leserinnen und Leser interessant macht, denen dieser Politiker nicht mehr bekannt ist, und die mit den Spezifika bremischer Geschichte im 20. Jahrhundert nicht vertraut sind, ist einmal dem Anspruch geschuldet, eine "politische Biographie" zu verfassen. Karl-Ludwig Sommer formuliert eine deutliche Absage an Versuche, das politische Handeln eines Menschen aus einer psychologischen Perspektive heraus zu interpretieren: "Dies bedeutet in letzter Konsequenz eine Absage an die Vorstellung vom Menschen als einem vernunftbegabten, zu selbstständigem Denken und Handeln fähigen Wesen, das in einer gegebenen Situation zu eigenverantwortlichen Entscheidungen in der Lage ist, und zwar in vollem Bewusstsein, für deren Folgen auch einstehen zu müssen." (S. 19) Vernunft – auch und gerade in politischer Hinsicht - hat zweifellos Wilhelm Kaisens Handeln geprägt, und indem Karl-Ludwig Sommer dieses Handeln nachzeichnet, gerät ihm die Lebensgeschichte seines Protagonisten zugleich zu einem sehr subjektiven Entwurf einer zeitgeschichtlichen Darstellung vor allem der 1950er und 1960er Jahre.

Das politische Engagement des 1887 in Hamburg Geborenen begann am Anfang des Jahrhunderts und endete erst mit seinem Tod 1979. Aufgewachsen in einer sozialdemokratisch orientierten Familie, arbeitete Kaisen, dem der Besuch einer weiterführenden Schule durch die Armut seiner Eltern nicht möglich war, nach der Schulentlassung zunächst als Hilfsarbeiter und Stuckateur. 1905 trat er der SPD bei und machte bald in der Hamburger SPD auf sich aufmerksam, sodass er 1913/14 zu einem Lehrgang an die Parteischule nach Berlin delegiert wurde, wo er Helene Schweida aus Bremen, seine spätere Ehefrau, kennen lernte. Nach dem Ersten Weltkrieg, den er als Unteroffizier überlebte, kehrte er zunächst nach Hamburg zurück, wandte sich aber bald nach Bremen, den Wohnort seiner Frau. Dabei kam ihm der Umstand zu statten, dass sich die Bremer Sozialdemokratie durch die starke Stellung von USPD und KPD an der Weser zu Beginn der 1920er Jahre in einem desolaten Zustand befand. Als Neuling, der sich an Eberts Kurs orientierte, und unbelastet von den zahlreichen Zerwürfnissen und Streitereien der lokalen Parteipolitik gelang ihm bald die Reorganisation der Bremer SPD. Kaisen wurde Redakteur einer neuen sozialdemokratischen Zeitung, führte dann die Partei in der Bremer Bürgerschaft, dem "Landesparlament", und wurde 1928 als Senator für das Wohlfahrtswesen Mitglied der "Landesregierung" in der Hansestadt. Diese Karriere endete1933 abrupt. Kaisen emigrierte nicht, sondern ging wie viele andere Sozialdemokraten "sozusagen in Deutschland ins Exil" (S. 122). In Borgfeld, einem Bremer Vorort, widmete er sich auf einer Siedlerstelle fortan der Landwirtschaft, wo er - relativ - unbehelligt von nationalsozialistischer Verfolgung blieb und den Zweiten Weltkrieg überlebte.

Die "innere Emigration" endete am 1.8.1945, als er von der amerikanischen Militärregierung zum "Regierenden Bürgermeister" ernannt wurde, ein Amt, das er bis 1965 inne hatte. Auf die Darstellung dieser Jahre entfallen etwa zwei Drittel vom Umfang des Buches. Die Lektüre erweckt in mancherlei Hinsicht den Eindruck, als hätten Kaisen und die anderen Mitglieder des Senates nach 1945 ihre Politik aus der Weimarer Republik unmittelbar fortgesetzt, "[...] gerade weil der Verzicht auf eine grundlegende Neuordnung der politischen und vor allem der wirtschaftlichen Strukturen an Stelle der Wiederherstellung des Altvertrauten den Bedürfnissen vieler Menschen entgegenkam [...]" (S.234). Zwar erwähnt Sommer auch die inner- und außerparteiliche Opposition gegen diesen politischen und wirtschaftlichen Kurs, aber wahrscheinlich ist die Begründung durchaus zutreffend. Denn Wilhelm Kaisen gelang die erstaunliche Leistung, die unterschiedlichen Positionen der Senatsmitglieder, unter denen sich Liberale ebenso wie Kommunisten befanden, auf der Ebene der Landespolitik zu integrieren. Wesentliches Element war dabei das mehrfach so bezeichnete "Bündnis von Kaufleuten und Arbeitern", an dem er auch dann noch festhielt, als die SPD Ende der 1950er Jahre in Bremen schon längst die absolute Mehrheit erreicht hatte. So sehr sich Kaisen auf diese Weise für die Belange des Landes einsetzte, so sehr schien er dabei gelegentlich die Partei zu ignorieren und nahm wegen seiner unterschiedlichen Auffassung zur Frage der Westintegration auch den Bruch mit dem Parteivorstand und insbesondere mit Kurt Schumacher in Kauf.

Auch wenn Karl-Ludwig Sommer das Denkmal nicht beschädigt, ein wenig kratzt er doch, indem mehr oder weniger implizit die Frage stellt, was an diesem Politiker - abgesehen von seiner Herkunft - eigentlich spezifisch sozialdemokratisch gewesen sei: Gehörten dazu auch "überwiegend positive Erinnerungen" an seine Zeit als Wehrpflichtiger (S.50)? Gehörte dazu auch das Ideal einer Amtsführung eines bremischen Bürgermeisters, "[...] wie es in seiner Sicht vor allem Johann Smidt in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts [...]" (S. 162) verkörpert hatte? Und wie verhielt es sich schließlich mit seiner Erwartung, Helene Kaisen habe nach der Heirat ihre politische Tätigkeit aufzugeben: "Kaisen war sich dabei durchaus bewusst, dass dieses Verständnis von innerfamiliärer Arbeitsteilung schwerlich mit der Forderung nach prinzipieller Gleichberechtigung von Männern und Frauen in Einklang zu bringen war [...]" (S. 31). Am Ende bleibt das Bild eines ebenso lern- wie wandlungsfähigen Politikers, in dessen Lebensgeschichte sich nicht zuletzt die Geschichte der Sozialdemokratie im 20. Jahrhundert auf eine facettenreiche Weise widerspiegelt. So zitiert Sommer einen Artikel Kaisens von 1979, den er kurz vor seinem Tod verfasst hatte: Die Sozialdemokraten hätten, so schrieb er, "[...] im Verlauf dieses Jahrhunderts auf manche Frage eine geschichtliche Antwort bekommen, die anders ausgefallen ist, als wir um die Jahrhundertwende annehmen konnten." (S.506)

Thomas Siemon, Wilhelmshaven



© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Februar 2001