Archiv für Sozialgeschichte
Rezension

Robert Service, Lenin. Eine Biographie. Aus dem Englischen von Holger Fliessbach, Verlag C. H. Beck, München 2000, 680 S., 4 Kt. u. 49 Abb., geb., 68 DM.

Die Person Lenins scheint offenbar nichts an Faszination verloren zu haben. Nicht nur in der Sowjetunion, sondern auch in Westeuropa hat sie sich als Forschungsgegenstand besonders in der 1950er und 1960er Jahren vor dem Hintergrund der Konfrontation zwischen Ost und West großer Beliebtheit erfreut. Die Verfasserliste westlicher Leniniana enthält bekannte Namen, von Louis Fischer über Adam Ulam, David Shub, Stephen Possony, Donald Treadgold, Bertrand Wolfe und Neil Harding bis hin zu Hélène Carrère d’Encausse. Der gegenwärtig wohl beste Kenner Lenins dürfte der britische Historiker Robert Service sein, ehemals Professor an der „London School of Slavonic and East European Studies" und derzeit am St. Antony’s College in Oxford tätig, der sich durch einschlägige Publikationen zur frühen sowjetischen Geschichte und insbesondere der bolschewistischen Partei ausgewiesen hat. Bereits vor über zwei Jahrzehnten legte er die Monographie „The Bolshevik Party in Revolution 1917-1923: A Study in Organizational Change" vor. Von hier war es nur ein kleiner Schritt, der ihn zur Beschäftigung mit ihrem unbestrittenen politischen Führer, nämlich V. I. Lenin, führte.

Einer zwischen 1985 und 1995 unter dem Titel „Lenin: A Political Life" publizierten Trilogie, die Lenins Ideologie und politsche Praxis in den Mittelpunkt rückte, hat Service nun eine weitere umfangreiche und facettenreiche Biographie hinzugefügt. Auf beeindruckender Materialgrundlage setzt er sich eine chronologisch gegliederte Lebensbeschreibung des Menschen Lenin zum Ziel (S. 27). Seine Prämisse, dass der Mensch und Revolutionär Lenin in einem Wechselverhältnis standen, ist allerdings recht trivial (S. 28). Auch methodisch beschreitet er keine neuen Wege. Der Stoff wird narrativ präsentiert. Anleihen bei der Diskursanalyse unterbleiben. Auch Theorieangebote benachbarter Disziplinen, z.B. der Religionssoziologie, der Psychoanalyse oder Psychologie werden nicht genutzt.

Der Schwerpunkt der Darstellung liegt auf den Monaten von März 1917 bis August 1918. Service zeichnet ein überaus kritisches Bild seines Protagonisten, dessen Argumentation – trotz analytischer Brillanz - in vielen Bereichen, so z.B. in der Agrar- und Nationalitätenpolitik, inkohärent und wenig elaboriert geblieben seien. Er zeigt auf, dass Lenin bis zum Vorabend des Oktoberumsturzes einen nicht unerheblichen Teil seiner Energien den innerparteilichen Auseinandersetzungen widmete. Selbst wenige Tage vor Einberufung des II. Sowjetkongresses Ende Oktober 1917 habe ihn der hinhaltende Widerstand, den Zinov'ev und Kamenev seinen Aufstandsforderungen entgegenbrachten, mehr beschäftigt als praktische Probleme, die eine Sowjetregierung unweigerlich mit sich bringen würde. Bezeichnenderweise habe Lenin auch zu einer Zeit, als Führungspersonal dringend gebraucht wurde, seine beiden engsten Mitarbeiter aus dem ZK ausschließen wollen, um ein weitestgehend uniformes Meinungsbild im Führungsgremium der Partei zu gewährleisten.

Service vertritt die Auffassung, dass keine andere Einzelperson für den 1917/18 ausgebrochenen Bürgerkrieg eine solche Verantwortung trage wie Lenin, der von vornherein eine sozialistische Koalitionsregierung unter Einschluss der Sozialrevolutionäre und Men’ševiki, wie gering auch immer ihre Erfolgsaussichten gewesen wäre, ablehnte. Aus diesem Grund habe Lenin im Oktober 1917 fortwährend auf einem Aufstand beharrt, um dadurch a priori eine Koalition mit diesen beiden Parteien auszuschließen.

Ungeachtet aller Vorzüge weist die Darstellung Schattenseiten auf, die allerdings nicht ausschließlich dem Verfasser anzulasten sind. So lässt die Übersetzung wiederholt zu wünschen übrig. Ein Lektorat scheint es auch im Beck-Verlag nicht mehr zu geben. Wie sonst wären Fehler zu erklären wie Harapanda (S. 18, 346) anstelle von Haparanda, die zahlreichen Fehler bei der Transliteration russischer Orts- und Eigennamen (S. 37, 42 et passim) oder der Hinweis, dass der Julianische Kalender „gegenüber dem gregorianischen [sic] um 12 bis 13 Tage nachging" (S. 11). Sinnvoll wäre die Ergänzung „im 19. bzw. 20. Jahrhundert" gewesen, so aber bleibt der Hinweis kryptisch. Die Übersetzung russischer Termini, z.B. der Zemstva mit „gewählten Gouvernementsräten" anstelle von „Organen der landschaftlichen Selbstverwaltung auf Kreis- und Gouvernementsebene" ist ungenau (S. 38, 70). Die Auswahlbibliographie ist schmal, der Verweis auf Services Trilogie angesichts der zahlreichen weiteren Veröffentlichungen zu diesem Thema in den zurückliegenden 15 Jahren seit Erscheinen des ersten Bandes nur bedingt hilfreich.

Doch auch die Darstellung selbst hat Schwächen. Die Begrifflichkeit des Autors ist inadäquat. Angesichts der geringen Polizeidichte - insbesondere auf dem flachen Land - dem Ancien régime zu attestieren, es habe sich um einen Polizeistaat gehandelt (S. 22, 124), rückt den Autor in die Nähe des umstrittenen konservativen amerikanischen Historikers Richard Pipes. Pipes vertrat diese gewagte These vor nunmehr einem Vierteljahrhundert, ohne jedoch den empirischen Nachweis für die Existenz eines bürokratischen Polizeistaates mit totalitären Ansätzen anzutreten. Insofern hätte Service zumindest sein Begriffsverständnis – etwa. im Sinne der „guten Policey" des 18. Jahrhunderts – offen legen müssen. Weitere Beispiele erhärten die unpräzise Sprache: „So war das Bauerntum als Klasse dazu bestimmt, in zwei [...] Teile zu zerfallen: eine ländliche Mittelschicht (die ‚Bourgeoisie’) und eine ländliche Arbeiterklasse (das ‚Proletariat’)" (S. 117). Die Doppelung des Klassenbegriffs in einem Satz ist missverständlich und unglücklich. Unabhängig davon hätte sich an dieser Stelle eine Diskussion der auf Marx rekurrierenden Klassentheorie Lenins in Unterschied zu der des Neonarodnièestvo angeboten. Ähnlich verhält es sich mit der sozialen Verortung Lenins und seiner Familie als Angehörige der „Mittelschicht" (S. 135). Die Familie war adlig, verfügte über ein Gut, und Lenins Mutter bezog nach dem Tod ihres Gatten 1886 eine Pension in Höhe von 2.400 R. p.a. Allein mit dieser staatlichen Pension hätte sie nach einer Erhebung des Finanzministeriums aus dem Jahre 1905 bei einer Bevölkerung von über 100 Mio. Menschen noch zu den 500.000 Einkommensstärksten gezählt, so dass die Zuweisung zur Mittelschicht zumindest diskussionswürdig, wenn nicht sogar fragwürdig erscheint.

Teilweise werden Sätze ohne tieferen Sinn aneinandergereiht, wie z.B.: „Überall im Land gab es noch andere Gruppen, die die herrschende Gesellschaftsstruktur ablehnten. Die sogenannten ‚Altgläubigen’ waren vor der Reform des Kirchenrituals im 17. Jahrhundert geflohen. Auch verschiedene Arten von Sektierern gab es. In Sibirien existierten spärlich besiedelte Gebiete, wohin die Polizei selten vordrang [...]" (S. 23). Sieht man von der stilistischen Seite der Übersetzung ab, fällt nicht nur der eigene Widerspruch zur These des Polizeistaats auf, sondern es stellt sich die Frage, weshalb diese Informationen gegeben werden. Teils sind sie banal, teils lückenhaft. Opposition zur herrschenden Gesellschaftsstruktur dürfte es in jedem Staat geben. Weshalb misst Service aber den Schismatikern und Renegaten solche Bedeutung bei? Dies hätte der Erklärung bedurft, sonst ist die Information redundant.

Anderes ist aus dem Zusammenhang gerissen. Ein Absatz über Lenins Kontakte zu führenden westeuropäischen Marxisten im ausgehenden 19. Jahrhundert endet mit dem durch keine Fußnote belegten Satz: „Für diesen jungen heterosexuellen Revolutionär waren die Ideologie und deren führende Exponenten erregender als Frauen" (S. 145). Diese Sentenz klappt nach, ist nicht nur kontextgebunden und an dieser Stelle nicht angemessen.

Hinzu kommen sachliche Fehler. Die Ausführungen zum vermeintlich hohen Sozialprestige des Arztes in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts sind unzutreffend, wie Nancy Frieden in ihrer Monographie nachgewiesen hat (S. 41). Dasselbe gilt für die Bedeutung Kazan’s als Handelsstadt im ausgehenden 19. Jahrhundert: Die Stadt wurde erst 1893 an das zentralrussische Eisenbahnnetz angeschlossen, doch bis 1913 gab es keine Eisenbahnbrücke über die Wolga. Bis dahin reichte die Eisenbahntrasse nur an die Wolgaufer, dann mussten Waren und Personen über den Fluss transportiert werden. Darunter litt die wirtschaftliche Prosperität der an alten Transitwegen – u.a. nach China – gelegenen Handelsmetropole in beträchtlichem Maße (S. 100).

Mehrfach teilt Service dem Leser mit, dass bereits in Kindertagen „etwas Boshaftes" in Lenins Verhalten gelegen habe (S. 57, 62). Betrachtet er dies als charakterliche Disposition, die beim erwachsenen Lenin dazu führte, eine „diebische Freude am exemplarischen Terror" (S. 474) zu empfinden, der Tausenden von Menschen das Leben kostete? Leider verzichtet der Autor auf einen Beleg für diese Aussagen. Seine Ausführungen über die verzweifelten Bemühungen der Bol’ševiki im Frühjahr 1918, die Revolution zu konsolidieren, unterbricht er durch einen Exkurs über Lenins fürsorgliche Pflege einer Katze (S. 451f.). Was will Service uns mit diesem Detail sagen? Dem Rezensenten blieb der Sinn jedenfalls verschlossen.

Bei der Schilderung der revolutionären Ereignisse der Jahre 1917/18 konzentriert sich Service m.E. zu stark auf die bolschewistische Partei und verliert die Sowjetgremien, sowohl das Zentrale Exekutivkomitee als auch die Sowjetkongresse, aus den Augen. Alle Sowjetparteien lehnten mit Ausnahme der Bol’ševiki den Frieden von Brest-Litovsk mehrheitlich ab. Auch die Mehrzahl der Sowjets sprach sich Anfang März 1918 gegen ihn aus, was verschwiegen wird. Lenin hatte für seine Position eigentlich keine Mehrheit. Auch wird mit keiner Silbe erwähnt, dass es innerhalb der Regierungsparteien Kreise gab, die eine Verhaftung Lenins befürworteten, um den „Schandfrieden" von Brest-Litovsk zu verhindern. Nicht nur die zahlreichen Manipulationen der bolschewistisch beherrschten Mandatskommission im Vorfeld des V. Allrussischen Sowjetkongresses werden nicht erwähnt, Service folgt auch der alten Position, die Partei der linken Sozialrevolutionäre hätten einen antibolschewistischen Putsch unternommen (S. 465, 468 f.).

Insgesamt hätte eine systematischere Gliederung der Biographie zum Vorteil gereicht. Dann hätten zahlreiche Wiederholungen vermieden werden können. So aber bleiben viele Bereiche im Dunkeln oder werden nur en passant thematisiert, wie z.B. Lenins Verhältnis zu Sexualität, Literatur, Musik etc. Die Bemühungen, eine sachlich fundierte und gut leserliche Biographie zu verfassen, sind dem Verfasser nicht abzusprechen, doch gut gemeint ist noch lange nicht gut gemacht.

Lutz Häfner, Bielefeld



© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Februar 2001