Archiv für Sozialgeschichte
Rezension

Jan Motte/Rainer Ohliger/ Anne von Oswald (Hrsg.), 50 Jahre Bundesrepublik - 50 Jahre Einwanderung. Nachkriegsgeschichte als Migrationsgeschichte, Campus Verlag, Frankfurt/New York 1999, 341 S., geb., 58 DM.

Die deutsche Geschichtswissenschaft hat sich der Migration in die Bundesrepublik bisher noch nicht zureichend angenommen; so werden die Arbeitsmigranten aus den „Anwerbeländern" in zusammenfassenden Studien zur Kulturgeschichte der Bundesrepublik kaum einmal erwähnt; in historischen Überblicken zur Sozialstruktur des Landes werden sie meist nur stichpunktartig angeführt, und in Übersichtsdarstellungen zur politischen Geschichte Nachkriegsdeutschlands spielen sie ebenfalls nur eine geringe Rolle. Gelegentlich wurden die Arbeitsmigranten dort in direkter Übernahme zeitgenössischer Wertungen sogar noch als ökonomische Manövriermasse abschiebbarer „Gastarbeiter" definiert - so etwa von Klaus Hildebrand (Von Erhard zur Großen Koalition 1963-1969. Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 4, Stuttgart, Wiesbaden 1984, S. 204).

Als Pionierstudien zur Geschichte der Migration in die Bundesrepublik erschienen zwischen 1981 und 1986 - neben einigen Aufsatzsammlungen und Tagungsbänden - Knut Dohses Publikation „Ausländische Arbeiter und bürgerlicher Staat", Siegfried Bethlehems Arbeit über Heimatvertreibung, DDR-Flucht und Gastarbeiterzuwanderung, Klaus J. Bades Studie „Vom Auswanderungsland zum Einwanderungsland?" und insbesondere Ulrich Herberts Überblick über die Geschichte der Ausländerbeschäftigung in Deutschland von 1880 bis 1980.

Seit der Mitte der 1990er Jahre lässt sich nun mit Blick auf das Deutschland der Nachkriegszeit ein neuerlich wachsendes historiographisches Interesse an den Themen „Einwanderung" und „Migration" feststellen. Es reicht bisweilen schon über das Jahr 1980 hinaus, das bisher die zeitliche Grenze der einschlägigen Forschung bildete, bezieht sich nicht nur auf die Ebene der Bundespolitik, stützt sich auf umfangreiches archivalisches Material und berücksichtigt die Erfahrung der Migration und deren lebensgeschichtliche Verarbeitung durch die Migranten selbst. In die Reihe dieser neueren Studien gehört nicht zuletzt der von Jan Motte, Rainer Ohliger und Anne von Oswald edierte Sammelband, der - letztlich in Anknüpfung an Siegfried Bethlehem und Ulrich Herbert - die Einwanderungsschübe infolge von Flucht, Vertreibung, Arbeitsmigration und Aussiedlung zusammenführt und die Nachkriegsgeschichte der Bundesrepublik (und am Rande auch der DDR) pointiert als Migrationsgeschichte beleuchtet.

Das Buch umfasst die drei Kapitel „Privilegierte Zuwanderung nach Deutschland", „Arbeitsmigration nach Deutschland" und „Migrationsgeschichte und systematische Sozialwissenschaft". Im ersten Teil, dessen Titel die soziopolitischen Integrationsbemühungen um Flüchtlinge und Vertriebene hervorhebt, deren anfängliche Ablehnung in großen Teilen der westdeutschen Bevölkerung aber zu gering gewichtet, erörtern die Aufsätze die als Modell konzipierte ostwestfälische „Vertriebenensiedlung" Espelkamp, die Funktion der Flüchtlingslager im Eingliederungsprozess, die bundesdeutsche Diskussion um den Terminus des „echten Flüchtlings", die bisher wenig beachtete Gruppe der West-Ost-Migranten in den 1950er und 1960er Jahren sowie die Lebensgeschichten von Frauen aus und in Oberschlesien.

Die Texte des zweiten Teils handeln von der Entstehung des ersten Ausländergesetzes der Bundesrepublik, der Arbeitsmigration aus der Türkei, der „Rückkehrförderung" in den Jahren 1983/84 sowie von den „Gastarbeiter"-Unterkünften während der 1960er und 1970er Jahre und von der Ausländerbeschäftigung in der DDR nach 1961. Im letzten, methodisch orientierten Kapitel des Buches geht es schließlich um die Fruchtbarmachung des „Lebenswelt"-Begriffs von Alfred Schütz für narrative Interviews mit Migranten, um die Relevanz der Termini „Soziales Netzwerk" und „Transnationalität" für die historische Migrationsforschung und um die bisher in der Forschung zu wenig beachtete Anwerbung und Beschäftigung von „Gastarbeiterinnen".

Aus diesem insgesamt instruktiven und anregenden Band seien vier Beiträge besonders hervorgehoben: Volker Ackermanns Text „Politische Flüchtlinge oder unpolitische Zuwanderer aus der DDR" macht deutlich, dass die Auseinandersetzung der achtziger Jahre um den „glaubwürdigen Asylbewerber" eine Vorläuferin in der Diskussion um den „echten Flüchtling" hatte. Auch diese Debatte kreiste - mit freilich völlig anderem Ausgang - um die Zentralbegriffe „Integration" und „Eingliederung" einerseits und den Terminus des Politischen andererseits, wobei es damals um die Unterscheidung zwischen politischen und unpolitischen Motiven von DDR-Flüchtlingen ging. Anne von Oswald und Barbara Schmidt zeichnen am Beispiel des Volkswagen-Werkes in Wolfsburg und der Opel-Werke in Rüsselsheim in sehr sorgfältiger und anschaulicher Weise die Unterbringungspraxis großer Unternehmen und den „Gastarbeiter"-Alltag in den Gemeinschaftsunterkünften nach.

Karen Schönwälder verdeutlicht in ihrem Aufsatz „Ist nur Liberalisierung Fortschritt?", dass der Diskurs um das bundesdeutsche Ausländergesetz von 1965 ohne eine Analyse der beteiligten Institutionen nicht wirklich zu verstehen ist. Die Autorin lenkt das Augenmerk dabei vor allem auf die Innenpolitiker und Innenverwaltungen, die sich als „Sachwalter der öffentlichen Sicherheit und Ordnung, als ‘Fels in der Brandung’ um sich greifender Liberalisierungsbestrebungen" (S. 142) verstanden und deshalb der Kontrolle über die Ausländer den Vorrang vor deren individuellen Rechten gaben. Mathilde Jamin zeigt in „Fremde Heimat. Zur Geschichte der Arbeitsmigration aus der Türkei", dass es primär ökonomische Erwägungen aus dem Unternehmerlager waren, die das in der Anwerbevereinbarung mit der Türkei vorgesehene Rotationsprinzip zu Fall brachten. Die Unternehmer fanden dabei die Unterstützung der pragmatisch agierenden Bundesanstalt für Arbeit, wohingegen das Bundesinnenministerium - hier trifft sich die Argumentation mit derjenigen Karen Schönwälders - mit seiner strikten Ablehnung jedweder Einwanderung aus der Türkei eine Traditionslinie repräsentierte, die Imaginationen von „Sicherheit" und „Kontrolle" in den Mittelpunkt rückte. Mathilde Jamin weist außerdem eindringlich auf den nicht nur rekonstruktiven, sondern eben auch konstruktiven Charakter von Zeitzeugen-Erzählungen hin. Angesichts einer starken Fremdenfeindlichkeit existiere bei Einwanderern aus der Türkei heute eine Tendenz, auch in der Retrospektive das Negative hervorzuheben und so die eigene Migrationserfahrung primär als Leidensgeschichte zu modellieren.

Yvonne Rieker, Essen



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